Materialien 1976

Erklärung der Roten Hilfe

Auch Kaisheim ist ein Teil der Geschichte von Peter Schult; und sie darf und kann hier in dieser Doku nicht fehlen. Am 2. Dezember 1971 stellte das Münchner Schöffengericht die Weichen für Peter in Richtung Kaisheim. Haschhandel und Freiheitsberaubung nahmen die Richter zur Be-
gründung, um Peter für 25 Monate in die Volksuniversität Kaisheim zu schicken. Kurz vor seiner Entlassung lieferte Peter seine Examensarbeit. „Kaisheim am Rande der Meuterei“ stand in der Augsburger Allgemeinen vom 5. Januar 1974. Klar, dass das nicht allein sein Werk war, sondern Zwischenergebnis eines Lernprozesses bei ihm und den anderen.

Peter stand schon immer auf der Schattenseite, auf der Seite der Unterdrückten und Ausgebeute-
ten. Er gehörte zu ihnen, zu uns. Zu uns Kriminellen, die den Betrug, den Diebstahl, den Raub als berechtigte Gegenwehr gegen ein System verstehen, das uns unsere Freiheit stiehlt und unsere Arbeitskraft raubt. Kriminalität ist die unbewusste und individuelle Rebellion gegen untragbare gesellschaftliche Verhältnisse. Ist der Sklavenaufstand gegen die Besitzherrn, der Kleinkrieg der Habenichtse gegen die Machthaber. Für den Kriminellen liegt die Sache einfach: Macht sitzt in den Dingen; in ’ner Platinuhr, im Aktienpaket, im Luxusauto. Man stellt sich vor, dass, wenn man die Dinge, die den Herrn machen, ihm wegnimmt, man sich selbst zum Herrn macht.

Gegen den Kleinkrieg der Habenichtse setzten die Herrscher das Gefängnis, die Staatsgewalt. Denn freiwillig verzichtet kein Mensch auf die Durchsetzung seiner Bedürfnisse, seiner Lebensrechte. Die Staatsgewalt, das Gefängnis, soll den rebellischen Moment im Kriminellen vernichten und alle anderen Habenichtse abschrecken, in krimineller Form zu rebellieren. Der Knast erfüllt mithin im Kapitalismus eine wichtige Funktion. Er dient der Aufrechterhaltung von Herrschaftsstrukturen. Der Knast schließt die vom Besitz Ausgeschlossenen ein und ist zugleich sichtbares Zeichen der Ge-
walt und der Macht der Herrschenden.

Sowie der Knast nach außen ein Instrument der Disziplinierung ist, so ist der Arrest das Diszipli-
nierungsinstrument nach innen. Arrest ist der Knast im Knast. Wer sich im Knast wehrt, Wider-
stand leistet gegen den Knast; sich nicht von einem menschlichen Wesen zu einem Wesen machen lässt, das nichts mehr Menschliches an sich hat, wird isoliert, wandert in den Arrest, soll gebogen oder gebrochen werden. Arrest ist die Reduktion der Menschen auf Fressen und Scheißen. Und das im Drei-Tage-Rhythmus. Alle drei Tage eine warme Mahlzeit, die andere Zeit nur Blähbrot und Malventee. Das ist die Anpassung durch Gewalt, durch die Gewalt der Holzpritsche, die die land-
läufige Knastkoje erstrebenswert erscheinen lässt.

Das vollständige Repressionsarsenal des Knastes bei solchen Disziplinierungsversuchen ist nicht erfassbar. Es reicht von Arreststrafen, Einkaufssperren, Isolationsmaßnahmen, Einzelhofgang, Post- und Besuchssperren bis hin zur stumpfsinnigen Sklavenarbeit. Einer Arbeit, die die eigene Menschenwürde untergräbt und nicht einmal die minimalste Knastexistenz absichert.

Arbeit im Knast soll den Kriminellen befähigen, in Freiheit ein geordnetes und straffreies Leben zu führen. Aber gerade im Knast erfährt der Knacki, dass er seine Arbeitskraft nur dafür abgibt, um überleben zu können.

Nirgends tritt Ausbeutung klarer an den Tag als im Gefängnis. Aber gerade der Kriminelle-Rebell ist schon aufgebrochen, seiner eigenen Ausbeutung zu entkommen, was ihm allerdings den Knast einbrachte. Und im Knast soll er mittels Arbeit dahin zurück resozialisiert werden, von wo er auf-
gebrochen ist. Das kann nicht gut gehen, das geht nicht gut: die 85 % Rückfällige beweisen es. Ar-
beit im Knast wird als Teil der Strafe erfahren und niemandem ist es zu verübeln, dass er sich nach seiner Entlassung nicht in masochistischer Weise durch Arbeit selbst bestraft.

Es kann also nicht darum gehen, nur das Individuum zu verändern, sondern auch darum, die ge-
sellschaftlichen Verhältnisse, in die es zurück kommt. Und das setzt voraus, dass sich die Knackis ihr Recht auf den Erwerb eines politischen Bewusstseins erkämpfen. Im Knast erkämpfen. Und genau an diesem Punkt wird das Gefängnis zur Volksuniversität. Wer im Knast erkennen lernt, dass in Wahrheit auf ihm, dem Kriminellen, dem Abschaum, das ganze kapitalistische System lastet, das ihm nur zwei Möglichkeiten offen lässt: entweder die eigene Wut gegen alle anderen Opfer zu richten oder aber den Weg der Befreiung seiner selbst und der anderen einzuschlagen, ist auf dem Weg vom unbewussten Rebellen zum bewussten Revolutionär. Denn unbestritten ist jeder Kriminelle ein möglicher Träger der Reaktion als auch Träger einer revolutionären Bewegung.

In der Volksuniversität Kaisheim versuchte Peter durch Gespräche mit seinen mitgefangenen Brüdern immer wieder deren Sozialisationsgeschichte zu erfahren und kam zu dem Ergebnis, dass ungefähr 95 % der Gefangenen aus dem Proletariat und dem Subproletariat kommen, nahezu die Hälfte aller Knackis, die Erziehungsheime durchlaufen haben, die wenigsten über eine abge-
schlossene Ausbildung verfügen. Bei diesen Gesprächen konnte Peter, ausgehend von den kon-
kreten Lebensbedingungen des Individuums, dem Einzelnen die gesellschaftlichen Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen klar machen, propagierte eine freiheitliche herrschaftslose Gesellschaft, stellte klar, dass wir schon heute drangehen müssen, partiell die Bilder der Zukunft vorweg zunehmen.

Diese Zukunftsbilder von Brüderlichkeit und gemeinsamen Leben, von zusammen Arbeiten und Lernen, brachte Peter konkret mit seiner Person ein. Er war im Knast für andere da, wehrte sich zusammen mit anderen gefangenen Brüdern gegen die Brutalität und Unmenschlichkeit des Knastes. Machte daher auch den Hungerstreik von Weihnachten 1973 mit und bat die Genossen draußen, sich am Knastkampf zu beteiligen. Die Genossen kamen auch zu Sylvester mit Brandfak-
keln vor die Gefängnismauer und forderten: REISST DIE MAUERN NIEDER, LASST DIE MÄN-
NER FREI!

Nach seiner Entlassung im Februar 1974 arbeitete Peter aktiv bei der Roten Hilfe München mit. So konnten die beiden Dokumentationen „Arrest in Kaisheim“ und „Ausbeutung im Knast“ entstehn. Auch stellte er Strafantrag gegen das Kaisheimer Rollkommando, das sich damals aus den Beam-
ten Hügele, Narr, Laxgang und Schneider zusammensetzte, wegen Gefangenenmisshandlung. Ganz klar wissend, dass wir von unseren Unterdrückern keine Hilfe zu erwarten haben. Sondern wir uns am Besten damit helfen, wo wir uns selbst helfen.

Die Rote Hilfe versteht sich von daher auch als autonome Häftlingsorganisation, die sich nicht an Parteien bindet. Peter brachte einen Großteil seiner Person in die Rote Hilfe ein. Stellte seine Aus-
drucksfähigkeit, seine literarische Qualität, seine Maschinenwaffe, die Schreibmaschine, oftmals bis zur körperlichen Erschöpfung, zur Verfügung. Genauso half er mit, das Milbertshofener Stadt-
teilzentrum aufzubauen, wo heute die Rote Hilfe ihren festen Platz hat. Über die Organisation von Benefizfesten brachte Peter Kohle in die Kasse der Roten Hilfe und brachte in jedem BLATT seinen Knastartikel. Gegenöffentlichkeit ist eine der wichtigsten Waffen im Knastkampf. Für uns im Knast war es ungemein belebend, wenn wir im BLATT lasen, dass die draußen unsere Sache vertreten.

Peter verwandte auf den Kampf gegen den Knast und das bürgerliche Strafsystem einen gut Teil seiner Energien, seines Lebens. Denn der Kampf gegen das Gefängnis ist zunächst immer ein Kampf im Interesse der gefangenen Brüder und Schwestern. Aber wenn in dieses Interesse nicht nur die einbezogen werden, die bereits hocken, und wenn Kriminalität nicht als ererbte Krankheit oder Eigenverschulden begriffen wird, dann muss der Kampf gegen den Knast einher gehn mit der Bemühung, die neurotischen Strukturen einer strafenden Gesellschaft zu beseitigen.

Allein in einer veränderten Gesellschaft kann der einzelne eine Identität haben, die er nicht mehr über Dinge bezieht. Dahin sind wir schon aufgebrochen. Dahin sind wir schon unterwegs, weil wir angefangen haben aufzuhören, mit masochistischer Selbstbestrafung um Anerkennung in dieser Gesellschaft zu buhlen.

Rote Hilfe München


Peter Schult Dokumentation, München 1977, 16 f.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Alternative Szene