Materialien 1984

Justiz ohne Gnade

Peter Schult – kein Gewalttäter. Kein Vergewaltiger. Kein Vergifter von unseren Seen und Flüssen. Kein Dioxinverbreiter. Kein Naziverbrecher. Kein Terrorist. Kein General.

Nur ein Schriftsteller, 55 Jahre alt. 1982 wegen homosexueller Kontakte zu Buben mit 34 Monaten Freiheitsstrafe bestraft (im Urteil vermerkt, dass die Zärtlichkeiten den Jungen weder physisch noch psychisch geschadet haben).

Peter Schult – ein Krebskranker. Als sein Rechtsanwalt Jürgen Arnold einen Tumor als mögliche Ursache der beunruhigenden Symptome nennt und Untersuchung durch einen Facharzt beantragt, lehnt der Anstaltsarzt in der bayerischen Strafanstalt Kaisheim diese Untersuchung ab.

Dr. Netz am 15.9.1982: „Die Krankheitssymptome sind bekannt, eine auswärtige Untersuchung ist nicht erforderlich.“

Der stellvertretende Anstaltsleiter Dr. Holleck am 24.9.1982: „Der Inhaftierte ist in der JVA opti-
mal versorgt. Die Ferndiagnose des Anwalts trifft keineswegs zu.“

Dr. Netz am 30.9.1982: „Sicher bleibt, ab dem 17.9.1981 ist die Lunge dieses Strafgefangenen nicht mehr behandlungsbedürftig.“

Dr. Englert, Landgerichtsarzt in Augsburg, am 19.10.1982: „Herr Schult muss einer stationären Untersuchung im Zentralkrankenhaus Augsburg zugeführt werden.“

Richter am Amtsgericht Nördlingen, Weigand, am 8.11.1982 in einem Beschluß, wo er die Verle-
gung von Peter Schult abgelehnt hat: „Ein Gefangener hat keinen Anspruch auf eine bestimmte oder von ihm gewünschte Behandlungsmaßnahme.“

Anstaltsarzt Dr. Netz am 15.11.1982: „Die Herren Rechtsanwälte operieren mit Diagnosen wie Tu-
mor oder Herzinfarkt, stellen eine möglicherweise lebensbedrohende Situation ihres Mandanten in Aussicht – dies alles ohne jedes Fundament in der Sache.“

Im Dezember 1982 wendet sich Rechtsanwalt Arnold zusammen mit mir und mit den Münchner Regisseuren Margarethe von Trotta und Volker Schlöndorff mit einem Hilferuf an die Öffentlich-
keit. Ein Abdruck des Hilferufs in der örtlichen Zeitung Augsburger Allgemeine war nach anfäng-
licher Zusage plötzlich abgelehnt worden. In dem Hilferuf, der in der TAZ und der Münchner Stadtzeitung „Blatt“ veröffentlicht worden ist, hieß es:

„Seit fast drei Monaten ist der Münchner Schriftsteller Peter Schult in der JVA Kaisheim ohne fachgerechte ärztliche Versorgung. Trotz eines alarmierenden Gutachtens des Landgerichtsarztes in Augsburg verweigert die Anstalt die von diesem für notwendig gehaltene Verlegung ins Zen-
tralklinikum Augsburg. Wir wenden uns deshalb an die Öffentlichkeit, um unsere tiefe Sorge um Gesundheit und Leben von Herrn Schult mitzuteilen.

Jürgen Arnold, Volker Schlöndorff, Margarethe von Trotta, Birgitta Wolf“

Dieser Hilferuf bewirkt ebenso wenig eine Änderung der Einstellung der Vollzugsbürokratie wie Veröffentlichungen in der AZ und in der Frankfurter Rundschau. Die Verantwortlichen leugnen eine lebensbedrohliche Erkrankung von Peter Schult weiterhin.

Staatsanwalt Sellmayer am 7.2.1983: „Von einer nahen Lebensgefahr oder drohenden irreparablen Schäden an der Gesundheit des Verurteilten kann jedoch nicht gesprochen werden.“

Richter am Amtsgericht, Weigand, am 28.2.1983: „Allein die Erklärung des Gefangenen, er habe kein Vertrauen zum Anstaltsarzt, rechtfertigt nicht, diesen von jeder weiteren Behandlung des Inhaftierten zu entbinden und einen anderen Arzt hinzu zu ziehen.“

Bevor ich jetzt weiter zitiere, muss ich Folgendes bemerken: Der Antrag des Gefangenen auf eine Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Berlin-Plötzensee wird genehmigt – wahrscheinlich, weil der Fall Peter Schult allmählich durch unsere Einschaltung der Öffentlichkeit der bayerischen Justiz ein bißchen unangenehm wird. Gleich bei der Zugangsuntersuchung in Berlin erkennt man die Umrisse eines Tumors, die Haft wird unterbrochen und lediglich drei Tage nach der eben zitierten Aussage von Generalstaatsanwalt Goldmund wird die Lunge geöffnet. Ich zitiere aus dem Bericht des Anwaltes:

„Als aufgrund der Lungenöffnung am 25.8.1983 feststeht, dass der Krebs so weit fortgeschritten ist, dass er nun nicht mehr operiert werden kann und weiter feststeht, dass die Lebenserwartung von Peter Schult nur noch knapp bemessen ist, lehnt Staatsanwalt Sellmayer am 4.9.1983 einen Antrag auf Haftunterbrechung, den die Justizvollzugsanstalt Berlin-Plötzensee selbst gestellt hat, ab. Generalstaatsanwalt Goldmund, bei dem ich einen Antrag gestellt habe, lehnt ebenfalls eine Haftunterbrechung am 13.9.1983 ab.“

Aufgrund der unterlassenen Hilfeleistung in dem bayerischen Gefängnis Kaisheim stellen als Anzeigeerstatter Peter Schult, Margarethe von Trotta, Volker Schlöndorff und ich, alle vertreten durch Rechtsanwalt Jürgen Arnold, und Rechtsanwalt Arnold in eigenem Namen Strafanzeige gegen Dr. Holleck, stellvertretender Anstaltsleiter der JVA Kaisheim, und Dr. Ludwig Netz, An-
staltsarzt der JVA Kaisheim, wegen unterlassener Hilfeleistung.

Ich befürchte zwar, dass auch diese Anzeige, wie im Falle eines verstorbenen Herzkranken in Kaisheim, eingestellt wird, denn mein Vertrauen in die deutsche Justiz ist nicht am wenigsten in den Fällen, wo es sich um Bedienstete in der Justiz und in der Polizei handelt, durch viele Vorfälle zutiefst erschüttert.

Ich weiß eine Zeit, wo wir alle in Deutschland auf Gnade hofften – ich weiß nicht, ob die Richter von Peter Schult diese Zeiten miterlebt und schon vergessen haben.

Birgitta Wolf


Die Aktion 26/27 von 1984, 345.

Überraschung

Jahr: 1984
Bereich: Alternative Szene