Materialien 1987

Offener Brief an die AW

An die Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt Landesverband Bayern e.V.
An die Mitglieder der Arbeiterwohlfahrt
An die Kollegen bei der Arbeiterwohlfahrt

München, den 29. Juni 1987

Sehr geehrte Frau Blum!
Sehr geehrte Mitglieder der Arbeiterwohlfahrt!
Liebe Kollegen bei der Arbeiterwohlfahrt!

Seit meiner Kündigung zum 31.3.87 (wegen der geplanten Schließung) habe ich die Bewohner des ehemaligen AW-Jugendwohnheims Laim immer wieder besucht und will und kann nun nicht mehr zuschauen, auf welche Art und Weise die sog. „Entmietung“ des Wohnheimes, in dem ich als Be-
treuerin gearbeitet habe, durchgeführt wird.

Im Wohnheim Von-der-Pfordtenstraße 44 leben immer noch vierzehn Menschen und suchen ver-
zweifelt nach Ersatzwohnraum. Die ehemalige Putzfrau, die sich in ihrer Personalwohnung im Kel-
ler Rheuma geholt hat, weiß genauso wenig, wohin sie umziehen könnte. Im Haus gibt es keine Heizung, kein warmes Wasser mehr, hin und wieder keinen Strom. Die Müllabfuhr ist von der AW abbestellt. Seit Mitte März hat die Geschäftsführung das Bewachungsunternehmen Erl (bewaffnet und ab und zu betrunken) für das Haus beauftragt. Am 21.5.87 fand mit Genehmigung und Beglei-
tung von Ihnen, Frau Blum, eine Polizeiübung im leeren angrenzenden Altersheim statt. Was nicht nur von den Bewohnern als unmittelbare Provokation empfunden wurde. (25 Polizisten mit Pan-
zerjacken und Maschinengewehren, von denen einige bis zum Jugendwohnheim vorstießen.)

Obwohl es eine Auflage in der Abrissgenehmigung der Stadt München ist, dass die AW für die rest-
lichen Mieter Ersatzwohnraum beschafft, war der erste Vorschlag von der Geschäftsführung an die Bewohner: sich obdachlos zu melden!!!

Den Bewohnern wurde der geplante Abriss erst mitgeteilt, als das Gericht schon alle alarmiert hatte und offizielle Informationen gefordert wurden. Die Beteuerungen von Ihnen, Frau Blum, man werde alles tun, um zu helfen usw. erwiesen sich als leere Versprechungen. Entgegen anders-
lautenden Behauptungen haben die Bewohner nachweisbar nach Wohnungen gesucht.

Der Landesverband der Arbeiterwohlfahrt treibt die Menschen, die aus verschiedenen Notlagen heraus gezwungen waren, in diesem heruntergekommenen Haus zu wohnen, nun auf die Straße. Wenn man einmal in einer Obdachlosenunterkunft wohnt, gibt es kaum noch ein Zurück!

Ich bin Sozialarbeiterin und habe drei Jahre lang als Betreuerin in dem Wohnheim gearbeitet. Ich hatte bei diesem Wohlfahrtsverband, der seinen Ursprung in der Arbeiterbewegung hat, ein Ver-
ständnis für die soziale Situation der Betroffenen, ein Wissen um die Ursachen des Elends in un-
serm Land, die Kenntnis der Lage der Arbeiterjugendlichen (ob ausländisch oder deutsch) erwar-
tet. Ich bin eines Anderen belehrt worden. So habe ich versucht, die Situation im Wohnheim, die Probleme der Bewohner der Heimleitung und der Geschäftsführung zu vermitteln, habe Vorschlä-
ge für die weitere Arbeit eingebracht (Konzept fürs Haus) – und bin nicht gehört worden. Des wei-
teren wollte ich z.B. einzelne Reparaturen durchsetzen, um den Verfall des Hauses aufzuhalten. Aber immer wieder musste ich in meiner Arbeit erleben, dass der Mensch nicht zählt, die Ursachen nicht gesehen werden wollen und nur gerechnet wird.

Mittlerweile wird für das Anmieten von Wohnungen eine Geldsumme angeboten, deren Auszah-
lung jedoch gebunden ist an den gemeinsamen Auszug aller zu einem bestimmten, von der AW festgesetzten Termin (wer vorher eine Wohnung findet, kann kein Geld davon für die Kaution be-
kommen). Es stehen dabei pro Person DM 830,- sowie DM 1.245,- als Darlehen zur Verfügung. Zu Recht weigern sich die Bewohner, sich obdachlos zu melden und sind skeptisch gegenüber dem Geldangebot: „Wenn die Arbeiterwohlfahrt meint, mit diesem Geld können wir Wohnungen fin-
den, dann soll sie uns welche suchen. Ich möchte kein Geld, sondern eine Wohnung.“ (eine Be-
wohnerin) Trotzdem versucht man natürlich, mit der angebotenen Summe gemeinsam oder auch einzeln Wohnungen zu finden. Ergebnis sind bisher nur Absagen von Vermietern. Versuchen Sie mal, z.B. als Ausländer in München eine Wohnung zu finden.

Die AW protestiert bundesweit gegen den Sozialabbau, gegen die neue Armut, sie weiß um die Wohnungssituation in München und um die Diskriminierung von Arbeitslosen und Ausländern bei der Wohnungssuche. München hat die höchsten Mieten in der BRD, die im letzten Jahr wieder um 4,5 % gestiegen sind – mehr als das Doppelte als im Bundesdurchschnitt. 19.000 Personen oder Familien haben eine Sozialwohnung beantragt. 9.000 mit Dringlichkeitsstufe l. Gleichzeitig laufen täglich bei acht Arbeiterfamilien Räumungsklagen ein, weil die Miete nicht mehr gezahlt werden kann.

Die AW hat das Haus in Laim seit seiner Erbauung 1956 nie renoviert, sondern seit Jahren jegliche Hinweise, Warnungen und Mängellisten von Mitarbeitern und Bewohnern ignoriert, das Haus ver-
wahrlosen lassen und gleichzeitig weitervermietet.

Frau Blum! Anstatt mit dem Bewachungsunternehmen Erl Geld zu verschwenden, wäre es weitaus sinnvoller, ein Maklerbüro zu beauftragen und Ersatzwohnraum zu suchen.

Welches Mitglied der Arbeiterwohlfahrt kann und will diese empörenden Maßnahmen noch mit-
tragen?

Was unterscheidet die AW noch von einem kapitalistischen Vermieter, von einem Spekulanten, der ein Haus herunterkommen, räumen und abreißen lässt?

Kollegen, Mitarbeiter der Arbeiterwohlfahrt: fordert die Geschäftsführung auf, die Bedingung in der Abrissgenehmigung der Stadt München, Ersatzwohnraum zu stellen, endlich zu erfüllen!

Luise Wagensohn


freiraum – Anarchistische Zeitung 18 vom Sommer 1987, 48.

Überraschung

Jahr: 1987
Bereich: Wohnen