Materialien 1962

Von der Angst zum Größenwahn

DAS ICH UND DIE ANARCHIE

UNITED PRESS INTERNATIONAL meldet: Über 80 Prozent der New Yorker Bevölkerung be-
dürften wegen ihres Geisteszustandes eigentlich einer psychiatrischen Behandlung, obwohl die meisten von ihnen kaum ahnen, was ihnen fehlt. Zu diesem Ergebnis ist ein Professor der Uni-
versität Buffalo nach achtjährigen Untersuchungen der psychischen Probleme gekommen, von denen die Bewohner New Yorks bedroht sind. „Frühere Studien erfassten nur die bekannten Fälle psychischer Störungen“, sagt der Professor. „Unsere Untersuchung befasste sich mit der unteren Seite des Eisberges. Wir fanden alles, von der einfachen Neurose bis zur Schizophrenie.“ Drei von vier psychisch Kranken hätten nie einen Spezialisten aufgesucht. Die Untersuchten hätten allen Bevölkerungsschichten angehört und repräsentierten einen prozentual richtig verteilten Quer-
schnitt. Der Professor und seine Mitarbeiter kamen zu dem Befund, dass nur 18,5 Prozent der Untersuchten keine Symptome geistiger Verwirrung aufweisen.
(nach Süddeutsche Zeitung, 3. April 1962)

Eine unglaubliche Meldung, nicht wahr? Aber sie setzt nur den in Erstaunen, der die Entfremdung des Menschen in unserer Gesellschaft noch nicht begriffen hat. Der Münchner Psychoanalytiker Dr. Hans Kilian, Leiter der Psychosomatischen Abteilung der Universitätspoliklinik, sagte kürzlich: „Die Selbstentfremdung des Menschen hat zu einem Leidensdruck geführt, der zu einem Umschlag auf vielen Gebieten führen muss.“ Doch nicht nur Wissenschafter stehen machtlos vor den Proble-
men, die sich aus der Struktur unserer Gesellschaftsordnung ergeben. Sogar die FDP nimmt die Erscheinungen der Entfremdung wahr, auch wenn sie sie in ihren gesellschaftlichen und histori-
schen Zusammenhängen nicht begreift – ja sie durch ihre Politik geradezu mit verschuldet. In einer Broschüre dieser Partei zum Bundestagswahlkampf 1961 lesen wir: „Auf der Straße, am Ar-
beitsplatz, daheim oder bei unseren Freunden: überall stoßen wir auf dieses Unbehagen – mitten im wachsenden Wohlstand. Glücklich und ausgeglichen sind wir nicht geworden. Lehrer klagen über die Nervosität der Kinder. Unsere Frauen werden überfordert. Die Hälfte aller Hausfrauen ist körperlich und seelisch erschöpft. Die Managerkrankheit grassiert. Viele sind mit ihrem Arbeits-
platz unzufrieden. Jeder sechste feiert krank. Arbeitskräfte werden auf dem Schwarzen Markt ge-
handelt. Die Wartezimmer der Arzte sind überfüllt. Die Menschen haben sich immer weniger zu sagen. Freundschaften und Ehen brechen auseinander. Raffgier und Kontaktarmut sind sympto-
matisch. An Stelle menschlichen Verstehens regiert die Ellbogen-Taktik. Keiner hat mehr Zeit für den anderen. Die Alten fühlen sich überflüssig und kaum noch geachtet. Die Jungen sagen: Nie-
mand kümmert sich um uns, wir stehen allein und fühlen uns verlassen …“ Die Menschen in un-
serer Gesellschaft sind krank. Es wird Zeit, dass wir dieser Krankheit auf den Grund gehen und ihre Ursachen aufzeigen.

DIE UNSICHERHEIT IST GRÖSSER GEWORDEN

Seit die Menschheit in das Stadium der Vereinzelung getreten ist, ist die ursprüngliche Gemein-
schaft immer mehr zerfallen und das Gemeinschaftsgefühl verloren gegangen. Damit ist zwar die individuelle Selbständigkeit gewachsen und hat als Ersatz für das schwindende Sozialbewusstsein ein neues Selbstbewusstsein, das Persönlichkeitsgefühl, in die Wagschale des seelischen Gleichge-
wichts geworfen. Aber die menschliche Gesellschaft wird in ihrem Bestande und ihrer Entwicklung durch eine starke Gemeinschaftsbindung am besten garantiert. Daher machte sich die Vereinze-
lung zwar als ein Vorteil gegenüber der früheren gruppenhaften Gebundenheit geltend, brachte aber mit sich gleichzeitig alle Nöte und Gefahren des Aufsichselbstgestelltseins. In einer Welt, die zum Kriegsschauplatz von Geltungskämpfen geworden ist, genügen nicht mehr einmal für alle Zei-
ten erworbene Verhaltensweisen, genügen nicht mehr die allen gemeinsamen Erfahrungen und Er-
innerungen, um das Leben zu bewältigen. Es bedarf einer verstärkten Sicherung, denn die Unsi-
cherheit ist größer geworden. So übernehmen Gedächtnis und Aufnahmefähigkeit (Apperzeption) eine stärker führende Rolle auf dem Weg in die Zukunft jedes Einzelnen, als dies bei der Gemein-
schaft je der Fall war. Besonders wird dies dort eintreten, wo das Individuum nicht nur durch seine Einzelheit, sondern darüber hinaus noch durch Besonderheiten seiner Person gefährdet ist oder sich gefährdet glaubt: wenn er durch mangelhafte Körperlichkeit, Ungunst der sozialen Verhältnis-
se, Fehlerhaftigkeit der Erziehung usw. den Gefahren des Lebens besonders schwach gegenüber-
steht. Seine Selbsteinschätzung wird dann – gemessen an der Geltung der „Gesünderen“, „Reiche-
ren“, „Tüchtigeren“ – besonders niedrig ausfallen, und es wird, um den Weg zur Geltungshöhe trotzdem nicht zu verfehlen, verstärkte Stützen aufrichten müssen.

DER BLICK AUF DIE UMWELT

Der einzelne Mensch von heute durchlebt von seiner Geburt an dieselben Entwicklungsstadien, wie man sie für die Menschheit als Ganzes festsetzen muss. Aus den Unsicherheitsbedingungen seines kindlich-hilflosen Körpers in einer Umgebung, der er die Lebensmittel nicht abzwingen kann, ent-
wickelt der neugeborene Mensch alsbald sein bestes Werkzeug: die Seele. Ein Organ, mit dem er auf den hilflosen Körper und die unbezwingliche Umwelt reagieren kann. Jenes Organ, das durch seine Eigenart der Zielstrebigkeit ausgezeichnet ist. Es ist zunächst eine Gruppenseele, denn der kleine Mensch ist noch kein Ich. Er ist nur von jenem vagen Gefühl der Hilflosigkeit erfüllt, die als allgemeine Unsicherheit ihn zur Entwicklung sichernder Kompensationen drängt. Aber alles, was an Umwelt ihm nahe tritt, ihn mit der nötigen Nahrung und Wärme versorgt, ist stärker und mächtiger als er. Die Umwelt tritt ihm entgegen wie dem Urmenschen die Natur: rätselhaft und scheinbar unbezwinglich. Und wozu die Menschheit (die Soziologen der Sprache weisen es uns nach) Jahrhunderte und Jahrtausende gebraucht hat – der Mensch von heute lernt es schnell von seiner in Individuen zerfallenen Umwelt: zu sich Ich zu sagen. Die Ich-Findung bzw. der Wir-Bruch vollzieht sich bereits im dritten Lebensjahr. Bis dahin und eine kurze Zeit darüber hinaus hat das Kind noch die sichernde Form des Gemeinschaftsgefühls als Möglichkeit, seiner Umwelt entgegenzutreten. Sie äußert sich in seinem Zärtlichkeitsbedürfnis, in der Entwicklung der Sprache und der Gestik, mittels deren es Anschluss an seine Umgebung sucht. Mit dem Wir-Bruch wird zweierlei aktuell: der Mensch lernt zu sich selber und seinen Gegebenheiten Stellung zu nehmen und er findet sich in die Auseinandersetzung mit den anderen Ichen hineingestellt. Und seine be-
sonderen, einmalig-individuellen Gegebenheiten, der Körper, die soziale Lage, die Stellung in der Familie – sie sind in den allermeisten Fällen unzulänglich.

LAUTER VERHINDERTE PERSÖNLICHKEITEN

In unserer klassengespaltenen Gesellschaft wird das kleine Ich das Gemeinschaftsgefühl als Siche-
rungsmittel mehr oder minder zugunsten des Geltungsstrebens verwerfen. Denn die Umwelt ist ja samt und sonders im Stadium des Ich-Gemeinschaft-Konflikts. Die große Mehrheit aller Menschen ist ideologisch und seelisch beherrscht von den Triebkräften der privatwirtschaftlichen Produkti-
onsverhältnisse: wie der kapitalistische Unternehmer die Arbeitskraft der Arbeiter und Angestell-
ten zur Ware macht, wie er deren ganze Tätigkeit entpersönlicht, so vereinzelt er sie seelisch um so mehr. Denn nach dem Gesetz der Kompensation, wie sie innerhalb des Oben-Unten-Systems der individualistischen Gesellschaft funktioniert, wird der abhängig Arbeitende um so mehr Bedürfnis nach Persönlichkeit haben, je weniger ihm davon in der Praxis zugemessen wird. Die Minderwer-
tigkeit-Macht-Konstellation, in die er hineingeboren wird, lässt ihm fast keine Möglichkeit fakti-
scher Machtausübung.

Die Individuen von heute werden eingeteilt in „Persönlichkeiten“ und „Durchschnittsmenschen“. Das ist irreführend. Alle sind Persönlichkeiten, entweder entwickelte oder verhinderte. Denn die Persönlichkeit mit dem Geltungsakzent ist die erstrebte Sicherheitsform der Gesellschaft, in der wir leben. Nur steckt hinter dieser Zweiteilung eine andere, richtigere: die „Persönlichkeiten“ sind Aggressionsneurotiker, die „Durchschnittsmenschen“ Verzichtneurotiker. Sie haben keineswegs auf Geltung und Macht verzichtet. Nur auf den großen Kriegsschauplatz, wo die ersten Preise ver-
teilt werden, lässt man sie nicht und folglich lassen sie sich nicht hin. Ihr Kriegsschauplatz ist die Familie, das Büro, die Autobahn, der Kegelklub, der Laubsägekasten. Hier liegt die Ursache für die Entartung der politischen Parteien in Funktionärstum und Bürokratisierung, hier liegen die Grün-
de für die Anfälligkeit vor allem der kleinbürgerlichen Mittelschichten für den Faschismus.

MINDERWERTIGKEITSGEFÜHL ALS STELLUNGNAHME

Der Umstand, dass nur bestimmte Individuen als fertige Neurotiker in die Hand von Ärzten oder Leichenbeschauern geraten, darf die Blicke nicht davon ablenken, dass das Machtstreben die cha-
rakteristische Tendenz der Gesellschaft in der spätkapitalistischen Phase ist. Jeder Einzelne ist daran beteiligt als aktiver „Held“ oder passiver „Märtyrer“. Nicht etwa derart, als ob die Unter-
nehmer bloß die Ausüber, ihre Untergebenen die Opfer der Neurose wären. Sondern dergestalt, dass eine andere Art zu leben, als mittels der Unterwerfung unter die Funktion des Machtstrebens, innerhalb des neurotischen Lebensraumes nicht möglich ist. Kapitalisten wie Werktätige haben unbeschadet ihrer Stellung im Produktionsprozess nur die Möglichkeit, neurotisch zu leben. Ent-
weder, indem sie das Machtstreben aktiv verwirklichen, etwa auf der Produktionsgrundlage der Wirtschaftsbeherrschung, oder indem sie durch verschleiertes Machtstreben hintenherum ihre Geltung zu erlangen trachten (und dabei auf Randgebiete des Geltungsplanes beschränkt bleiben).

Am Grunde jeder Art von Machtstreben liegt das Minderwertigkeitsgefühl. Das Minderwertig-
keitsgefühl ist die zwangsläufige Stellungnahme jedes Einzelnen, wenn Ich und Gemeinschaft als Gegenspieler vorhanden sind. Erst der Gegensatz Ich – Gemeinschaft als einzige Grundform mit-
menschlicher Beziehungen ermöglicht den Zerfall der Gemeinschaft in lauter Einzel-Iche. So bietet sich einem schon als Kind das Schauspiel von Machtkämpfen, wird einem die Schablone „Oben – Unten“, „Männlich – Weiblich“ entgegengehalten, in die man nun all seine Erfahrungen wird pres-
sen müssen. Der Zerfall der Gemeinschaft verstärkt so sehr die individuelle Unsicherheit, dass je-
der Einzelne nur mit einem verschärften Minderwertigkeitsgefühl darauf reagieren kann. Dieses Minderwertigkeitsgefühl wird mit einem gesteigerten Geltungsstreben überkompensiert. So lässt sich schließlich auch der immer häufiger werdende „Machtmensch“ erklären: ein Mensch, der sehr früh die eigene Ohnmacht kennen gelernt hat und nun jede Gelegenheit benutzt, sich unter rück-
sichtslosem Einsatz seiner Ellenbogen „nach oben“ zu holzen.

IDEOLOGISCHE VERBRÄMUNG

Je neurotischer der Mensch geworden ist, desto gespitzter und schlagbereiter sind seine Waffen. Sein Kleinmut, der ihn sich fast allen Wert absprechen ließ, vermag vor der Vernunft nicht anzu-
erkennen, dass es zumeist die „unvernünftigen“ Antriebe der deformierten Seele sind, die ihn so denken und handeln lassen, wie er es tut. Deshalb verknüpft er alles, was ihm zustößt, Niederlagen wie Siege, mit seiner Vergangenheit. Sie ist es, die in seinem Bewusstsein den Ton angibt und die Färbung bestimmt. Und nun sehen wir folgendes: stellen sich Niederlagen ein, so sind Vergangen-
heit, Menschen, die Umwelt, das schlechte Horoskop, das „Pech“ schuld – wie beim Unternehmer die Arbeiter, die Konjunktur, die Krise „schuld“ sind. Erringt er Siege, so spaltet sich die Zurech-
nung: das Verdienst bucht er auf das Konto der eigenen Kraft, durch die er seine Geltung vor sich erhöht. Das Recht auf den Genuss des Sieges bezieht er jedoch aus seinen Erinnerungen und Er-
fahrungen, die ihm solches schuldig seien. So wie der Unternehmer sich – je nach Lage – auf seine persönliche Tüchtigkeit oder auf sein eingeschossenes Kapital beruft, um den geschäftlichen Erfolg und den Alleinanspruch auf den Erfolgsgenuss zu begründen.

Aber es liegt hier eine unbewusste Selbst- und Fremdtäuschung (sowohl des Neurotikers als auch des Unternehmers) vor. Erfahrungen und Erinnerungen können nicht selbsttätig etwas leisten, ebenso wenig wie Kapital von selbst Geld hecken kann. Etwas anderes ist hier im Spiel, ein Me-
chanismus, den wir etwas genauer betrachten müssen, weil er den Angelpunkt des neurotischen Systems bildet, das der entfremdete Mensch unserer Gesellschaft entwickeln musste, um nicht von vornherein unterzugehen.

GELTUNG OHNE LEISTUNG

Funktion des Seelenlebens ist ursprünglich, sichernde Orientierungswege von der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Ihre Fähigkeit und Ausdehnungsmöglichkeit ist aber mit den Grenzen des Bedürfnisses nach Orientierung nicht umschrieben. Unter besonderen Umstän-
den produziert sie einen Überschuss an Leistung, der sich je nachdem in einem Geniewerk, einer großen Intelligenzschöpfung oder dem Gebäude einer Neurose auswirken kann. Die Struktur die-
ser drei außergewöhnlichen Seelenerscheinungen kann als ungefähr gleich angesetzt werden. Alle entspringen sie einem tiefer als zeitüblich empfundenen Mangel und kommen nach dem Gesetz der Überkompensation zustande. So wie die Arbeitskraft des Menschen unter bestimmten techno-
logischen Bedingungen die Fähigkeit entwickelt, überschüssigen Wert zu bilden (der von den Unternehmern als Profit eingestrichen wird), so produziert die Seele unter bestimmten Entwick-
lungsbedingungen einen Überschuss über das geforderte Maß an Orientierung hinaus. Unter be-
stimmten Entwicklungsverhältnissen im Bereiche des Geltungskampfes tritt die seelische Über-
schussleistung als neurotische Plusmacherei in Erscheinung. Darunter versteht man eine Art Ta-
schenspielerkunst der Seele, durch die sie ohne reale Leistung die Geltung für sich einstreicht, die nur einer realen Leistung zukommen würde.

AUF BELANGLOSE RANDGEBIETE ABGEDRÄNGT

Der Neurotiker verwendet seine Seele zunächst als Instrument, das ihn über die Welt und sich sel-
ber orientiert. Dabei kommt er infolge besonders ungünstiger Bedingungen zu einer negativen Selbsteinschätzung (Unwertgefühl). Daraus erwächst sein Bedürfnis nach erhöhter Geltung, mit der er dieses Unwertgefühl ausgleichen und unterdrücken zu können glaubt. Und nun richtet er sein ganzes Bemühen darauf, sich von der Realität des Lebens ab- und z.B. einem Gebiet der fruchtlosen Phantasietätigkeit zuzuwenden, er sieht sich als „Künstler“, als verkanntes Genie oder als Philosophen, der über den „Materialismus“ seiner Mitmenschen verächtlich die Nase rümpfen kann. Damit erzielt er eine doppelte Wirkung: zunächst den praktischen Vorteil, eine Leistung ohne Gegenleistung zu empfangen; denn da er dem praktischen Leben abgewandt ist, müssen andere die Aufgaben, die das praktische Leben stellt, für ihn erledigen. Und dann eine Geltung ohne Leistung; denn in seiner Phantasietätigkeit steht er – zumindest vor sich selbst, oft aber auch vor leichtgläubigen Anderen – als besonderer, als besonders qualifizierter Mensch da. Ein anderes Beispiel von der Funktion der Plusmacherei: die Empfindlichkeit (Sensibilität) hat den Sinn, för-
dernde und schädigende Reize aus der Umwelt aufzunehmen und der ordnenden Vernunft zu Si-
cherungszwecken zu übergeben. Der Neurotiker benutzt sie darüber hinaus, indem er auf Dinge reagiert, die mit Förderung oder Schädigung seines Lebens nichts zu tun haben, sondern belang-
lose Randgebiete betreffen. Sie einverleibt er seinem Überlegenheits- und Unterlegenheitsschema, mit der – dem Verstand meist verborgenen – Endabsicht, daraus für sich ein Plus an Geltung zu ziehen. Sei es, dass er bloß sein Selbstgefühl stärkt durch die Konstatierung, die anderen seien „grobschlächtiger“ als er, weil sie derartiges nicht zur Kenntnis nehmen. Sei es, dass er kränkende und scheinbar entwertende Stimmen aus der Umwelt zu hören vermeint, die sonst niemand hört, damit er die Bestätigung seines geringen Wertes erhält und infolgedessen für sich selbst mildernde Umstände in Rechnung bringen kann.

NEUROTISCHES MACHTSTREBEN WÄCHST

Schon an diesen zwei zufällig herausgegriffenen Beispielen sieht man, dass die neurotische Über-
kompensation durchweg auf dem Gebiet des Nutzlosen spielt. Der Neurotiker ist eben dadurch charakterisiert, dass er das ganze Leben auf Schätzung des eigenen Ichs bezieht, dass Leistung bei ihm hinter Geltung zu stehen kommt; die seelische und wie oft auch die wirkliche Zeit wird mit dem Kampf um die – noch so spärliche und fiktive – Macht zugebracht, anstatt sie an die Förde-
rung des allgemeinen und damit ja auch des eigenen Lebens zu wenden. Damit aber verwickelt sich auf die Dauer der Neurotiker in den Maschen seines eigenen Systems. Er erlebt nicht mehr, um zu leben, sondern um sein Machtstreben zu befriedigen. Er akkumuliert Macht.

ZUM GEGENSPIELER SEINER MITMENSCHEN GEWORDEN

Meist ist der Neurotiker jedoch gezwungen, den Kreis seines Geltungskampfes so klein zu ziehen, dass er dort seine Überlegenheit tatsächlich gewährleistet sieht. Nur wenigen ist es „vergönnt“, ihren Geltungskampf an der Börse, dem Schreibtisch des Generaldirektors, an den Schalthebeln der staatlichen Macht auszutragen. Die meisten müssen sich auf ihren Berufskreis beschränken: der kleine Schalterbeamte, der jeden Antragsteller von oben herab behandelt, oder der Lehrer, der sein eignes Geltungsstreben damit befriedigt, dass er die Kinder mit der Autorität eines Feldwebels behandelt und sie gleichzeitig für grundsätzlich dumm hält, damit er selbst klug sein kann. Vielen wiederum bleibt nur die Familie, eine einsame Beschäftigung – oder sie ziehen sich gar auf die Insel einer von niemand verstehbaren Tätigkeit zurück. Wenn der Mensch aus dem Wertungsbe-
reich der Allgemeinheit „freiwillig“ (durch seine Geltungsangst – d.h. Angst vor Geltungseinbuße gezwungen) ausgeschieden ist, kann er nun alles, was er tut, in ein ganz nach seinen Bedürfnissen zugeschnittenes Wertsystem zwängen. Dinge und Handlungen, die zu den selbstverständlichen Obliegenheiten jedes Menschen gehören, erscheinen so in seinem neurotischen Bezugsystem maßlos verwichtigt, und ihr Vollbringen liefert ihm das so sehnlich begehrte Selbstwertgefühl, das er sich im Realitätskampf nicht erwerben konnte. Da sich der neurotische Mensch in seinem Machtkampf stets mehr und mehr zum Gegenspieler seiner Mitmenschen entwickelt hat, muss er von den wenigen Personen seiner nächsten Umgebung unerhörte Selbstbestätigung verlangen. Oft ist es nur noch ein einziger Mensch – die Mutter, der Gatte, ein Freund, ein Kollege –, mit dem er sich misst und über den er Überlegenheit gewinnen will. Die reale Geltung – Anerkennung durch die Mitwelt, wirklicher Machtbesitz – ist im Unterbewusstsein eines solchen Menschen umge-
fälscht in den Schein der Geltung. Der Wille zur Macht wird verwandelt in den Willen zum Schein der Macht.

FLUCHT VOR DER WIRKLICHKEIT

Damit er jeder möglichen Niederlage durch Messung mit eventuell Überlegenen aus dem Weg ge-
hen kann, verschanzt sich dieser Mensch hinter seiner Neurose, die nun in diesem Stadium aus einer Lebensweise zu einer Waffe wird. Um den Schauplatz seiner Geltung in Umfang und Artung seinem Überlegenheitsbedürfnis gemäß ausgestalten zu können, lässt er aus seinem Unterbewusst-
sein Zwangsvorstellungen, ein überfeines Gewissen, ein Ritual der Lebensführung aufsteigen, das – indem es die nächste Umgebung in seinen Dienst stellen soll – zugleich ihn selber mehr und mehr versklavt. Durch die Gebundenheit an seine eigene Fiktion, die sich ihm selber nachgerade leidvoll spürbar macht, fühlt er sich auf der Wertskala herabgedrückt, wird er tatsächlich unterle-
gen – nämlich denen, die besser mit sich und dem Leben fertig werden. Mehr und mehr wird ihm jeder Schritt zu einer Gefahr, der man nur durch Flucht noch entrinnen kann. Jeder Charakterzug, jede Situation, ja die Funktionen von Intelligenz und Moral werden in den Dienst der Fluchtabsicht gestellt.

SELBSTMORD ODER IRRENHAUS

Um bei der Flucht nicht als Feigling dazustehen und vor sich und den anderen den Schein der Gel-
tung zu wahren, dient als vortreffliches Mittel die neurotische Krankheit selbst: Schlaflosigkeit, Herzbeschwerden, Funktionsstörungen aller Art, Anfälle, körperliche Schmerzen, Versagen von Aufmerksamkeit, Arbeitskraft und Lebenslust sind ebenso viele, je nach den Erfordernissen der speziellen Situation und den Gegebenheiten der bisherigen individuellen Entwicklung, gewählte Schutzmittel und Abwehrwaffen. Unter den mildernden Bedingungen des Krankseins sieht sich der Neurotiker endlich erlaubterweise von der lästigen Befassung mit den Lebensaufgaben enthoben. Je brüchiger aber die Stützen seiner Geltung werden, desto weniger sind sie geeignet, ihn zufrieden zu machen. Dem Verstand halten so klägliche Triumphe wie beispielsweise die Nachgiebigkeit einer Familie am Krankenbett nicht stand. Deshalb wird der ganze Mechanismus tiefer als je ins Unterbewusste versenkt und damit der Sphäre der Auflösbarkeit und Kontrolle des Verstandes entzogen. Je nach der allgemeinen Umweltsituation bleibt der Verfall auf halbem Wege stecken oder erfasst nur Teile der Persönlichkeit. Schließlich reißt er die ganze Persönlichkeit mit einem großen Abwärtsschwung in die Katastrophe. Das erste kann zum Beispiel eintreten, wenn ein Neurotiker mit seiner pessimistisch-mutlosen Weltanschauung und dem schweren Geschütz eines neurotischen Zwangs- oder Leidenssymptoms einen Teil seiner Umwelt erobert hat. Er genießt dann den Triumph der Geltung eventuell recht lang, bis eines Tages der mürbe gemachte Mit-
mensch zum Gegenmenschen wird und nun seinerseits mit neurotischen Mitteln seine verloren-
gegangene Geltung wiederzuerlangen sucht. Dann bricht der Machtkampf mit doppelter Heftigkeit los und endet mit der völligen Vernichtung eines der beiden Kombattanten. Im anderen Fall ist durch unfreundlichere materielle Situation, durch die stärkere Reizbarkeit der Partner, die beson-
ders aggressive Note der speziellen Neurose die Lage von Anfang an zugespitzt. Die Umwelt setzt sich zur Wehr oder ergreift die Flucht, entzieht dem Neurotiker jedenfalls die Operationsbasis. Aus der Gefangenschaft seiner Machtfiktion sendet er ihnen verzweifelte Geschosse nach. Seine Isolie-
rung wächst, und nun schließt sich der verhängnisvolle Kreis, der Verlust des Gemeinschaftsge-
fühls, die ausschließliche Ichbezogenheit, der Autismus wird am Ende sein Verhängnis. Der Selbst-
mord ist oft der letzte Ruf an die Mitmenschen, das letzte Machtmittel, um wenigstens in der Form von nachträglicher Trauer und Selbstvorwürfen einen Letzten noch an sich zu fesseln und mit sei-
ner ungetragenen Verantwortung zu beladen. So lesen wir in einer Notiz der WELT (vom 5. De-
zember 1961): „80 Prozent aller Selbstmordkandidaten in den letzten fünf Jahren in Schweden waren junge Mädchen. Zu diesem Ergebnis kam der schwedische Arzt Ulf Otto vom Kronprinzes-
sin-Lovisa-Krankenhaus in Stockholm nach langjährigen Untersuchungen. Jedes dritte Mädchen wollte wegen unglücklicher Liebe seinem Leben ein Ende bereiten. Weitere häufig genannten Gründe waren Unstimmigkeiten im Familienleben.“

Wenn auch weniger abrupt, ist doch dem Selbstmord gegenüber die Psychose der tiefere Tod: der flüchtige Machtaspirant verzichtet auf jede Hoffnung, auch nur den Schein der Geltung noch in der Wirklichkeit erringen zu können. Er zieht seine Verstandesfunktionen und Sinne von der Realität ab und wird fortan in mehr oder weniger gemeingefährlichen Formen Held oder Märtyrer in einer rein imaginären Welt des Wahns. Die Mauern des Irrenhauses besiegeln tragischer den neuroti-
schen Untergang als die noch so schwarzen Wände eines Sarges.

MIT DER UNSICHERHEIT WÄCHST DIE ANGST

Schauen wir um uns: unsere Nachbarn, unsere Kollegen, unsere Freunde und Bekannten, die Men-
schen in der Straßenbahn – sind sie nicht alle schon von der Entfremdung erfasst und mehr oder weniger neurotisiert? Und wir selbst? Sind wir wirklich ganz frei davon? Fühlen nicht auch wir uns ständig herausgefordert, aufeinander loszugehen aus den fadenscheinigsten Anlässen, „unange-
nehmen Entscheidungen“ aber möglichst aus dem Weg zu gehen? Kennen nicht auch wir jene für unsere Gesellschaft so typische Angst, die von Schlafstörungen über Durchfall bis zu Magenge-
schwüren, Kreislaufstörungen, Asthma reichen kann (nicht ohne Grund spricht man heute von der „Managerkrankheit“!)?

Angst aber ist weder ein „Produkt der Technik“, wie heute so gern behauptet wird, noch ein Ergeb-
nis biologischer Vererbung – ebenso wenig, wie sie mit kosmischen oder gar „übernatürlichen“ Mächten etwas zu tun hat. Angst entsteht ganz einfach aus der Unsicherheit. Da wo der Mensch die sich ihm stellenden Aufgaben nicht mehr zu bewältigen vermag; wo „Erziehung“ und „Weltan-
schauung“ nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmen und den Menschen in einen nicht zu bewältigenden Konflikt mit seiner Umwelt geraten lassen; wo der Mensch an seiner Entfaltung und Selbstverwirklichung gehindert wird; wo er seine Mitmenschen nur noch als gefährliche Rivalen und Kontrahenten betrachten kann, da entsteht Unsicherheit – und mit ihr die Angst.

DAS UNHEIL VON GESTERN

Diese Unsicherheit aber wird noch genährt durch die Gefahren, die uns in unserer Gesellschaft ständig drohen: steigende Preise, kaum noch erschwingliche Mieten, Schulden durch Ratenkäufe, wachsende Steuern und Abzüge, schleichende Geldentwertung, widerwärtige Arbeitsbedingungen, drohender Verlust des Arbeitsplatzes, Krieg. Wir fühlen uns abgespannt, nervös, nicht leistungs-
fähig, überfordert und deprimiert. Wir haben Angst – Angst vor dem Ungewissen.

Wir wissen: ein Kind, das durch den dunklen Wald geht, fängt an zu singen, wenn es Angst hat. Ja, es redet sich sogar ein, es sei groß und stark genug, um mit allen Gefahren fertig zu werden; weil es mit allen Gefahren fertig werden könne, habe es gar keine Angst; weil es keine Angst habe, seien gar keine Gefahren da. Wir wissen, Menschen, die sich vereinzelt und ausgesetzt fühlen, reagieren nicht anders als dieses Kind. Sie betäuben sich, indem sie sich in das Erlebnis einer fragwürdigen Gemeinschaft stürzen: in der „Kameradschaft“, an der Theke, auf dem Fußballplatz. Wir wissen; je mehr Angst ein Mensch hat, desto krampfhafter klammert er sich an überlebte Institutionen, an veraltete Anschauungen und Vorurteile. Wir wissen, mit dem Werbeslogan „Keine Experimente“ buchte eine gewisse Partei ihren größten Wahlerfolg, obwohl das Unbehagen über ihre Politik da-
mals kaum geringer war als heute. Wer Angst hat, Angst vor dem, was morgen sein könnte, klam-
mert sich eben zwanghaft an das, was heute ist – auch wenn dies bedeutet, im Grunde nur das Un-
heil von gestern wiederzubekommen.

DAS BEWUSSTSEIN UNSERER LAGE

Wir alle leben unter den gleichen gesellschaftlichen Verhältnissen. Wir alle sind von der Unsicher-
heit dieser Gesellschaft geprägt. Es geht also nicht um die Frage, ob wir Angst haben oder nicht – es geht um die Frage, wie wir diese Angst bewältigen. Das setzt jedoch voraus, dass wir sie uns überhaupt erst einmal eingestehen. Erst dann können wir erkennen, woher diese Angst kommt. Damit überwinden wir zugleich die innere Unsicherheit und können uns Klarheit verschaffen über die Ursache der äußeren. Dann erkennen wir endlich, wer ein Interesse daran hat, uns in Unsicher-
heit und in der Vereinzelung zu halten: wer ein Interesse daran haben muss, uns an der Solidarität zu hindern!

Rolf Gramke


Contra 17/1962, 174 ff.

Überraschung

Jahr: 1962
Bereich: Kapitalismus