Materialien 1962

Wie demokratisch ist unsere Demokratie?

Fleiß und Bescheidenheit seien nicht mehr wie früher hervorragende Eigenschaften des deutschen Volkscharakters, beklagt das „Allensbacher Institut für Demoskopie“ in einer Untersuchung. Sie würden nur noch „Bilderbuch-Tugenden“ darstellen. Der Eifer, sie zu erwerben, scheine vollends erlahmt. Bei einer Umfrage nach guten Vorsätzen hätten ganze 3 Prozent erklärt, mehr und besser arbeiten zu wollen. Der am häufigsten geäußerte Vorsatz (45 Prozent) lautet: „mich nicht soviel ärgern“. 31 Prozent wollten „mehr spazieren gehen“, 29 Prozent „das Leben leichter nehmen“ und 27 Prozent „mehr schlafen“ (von den Beamten allerdings nur 22 Prozent). Demgegenüber würden sich für Politik nach eigener Angabe 32 Prozent „überhaupt nicht“ interessieren, 41 Prozent „nicht besonders“, und nur 27 Prozent hätten ein Interesse für Politik bekundet (von den Frauen sogar nur 11 Prozent).

Diese Gleichgültigkeit der großen Mehrheit unseres Volkes gegenüber der Politik hat sicher Ur-
sachen – ebenso wie es Gründe hat, dass das Allensbacher Institut nicht nach ihnen fragte. Wir haben danach gefragt:

▄ Alfred K., 63 Jahre, Rentner: „Gehn Sie doch los mit Ihrer Politik! Ich hab den Ersten Weltkrieg mitgemacht, ich hab den Zweiten Weltkrieg mitgemacht, und zweimal war das Geld kaputt. Ge-
fragt haben die da oben uns nie. Es ist doch alles Betrug!“

▄ Karl G., 42 Jahre, Vertreter: „Glauben Sie denn, dass wir etwas ändern können?!“

▄ Frau B., Hausfrau: „Ich versteh nichts von Politik. Wenn ich die Zeitung lese oder einen von denen im Radio höre: da kommt doch ein einfacher Mensch gar nicht mehr mit!“

▄ Karl O., 45 Jahre, Arzt: „Ach, wissen Sie, es sind doch immer die gleichen Typen, die an der Futterkrippe sitzen. Fett schwimmt immer oben, da kann man eben nichts machen!“

▄ Joachim M., 32 Jahre, Betriebsschlosser: „Die halten ja doch nie, was sie versprechen. Adenauer ist bei der letzten Wahl eindeutig durchgefallen, aber er sitzt immer noch an der Spitze. Das ist doch glatter Betrug von der FDP. Beim nächsten Mal wähl ich überhaupt nicht mehr!“

Im Namen des Volkes!

Im Namen des Volkes: so beginnt jedes Urteil, das von den Gerichten in der Bundesrepublik gefällt wird. Im Namen des Volkes regiert Konrad Adenauer. Im Namen eines Volkes, das in seiner Mehr-
heit so denkt, wie die eben zitierten Äußerungen der von uns Befragten es andeuten. Der Heidel-
berger Staatsrechtler Professor Dr. Ernst Forsthoff sagte Ende Juni 1961 anlässlich eines Vortrages in Stuttgart (wir zitieren nach der DEUTSCHEN ZEITUNG vom 22. Juni 1961): „Unser System ist so unangreifbar geworden, dass eine Revision an Haupt und Gliedern ausgeschlossen ist. Gleich-
zeitig ist das System aber auch so kompliziert geworden, dass es eigentlich nur noch Fachprobleme für Fachleute stellt. Aus diesem Grund ist auch das, was in der Politik geschieht, dem Urteil des Wählers nicht mehr zugänglich … Es fragt sich daher, ob es überhaupt noch angebracht ist, von einem Wahlkampf zu reden, ob wir es statt eines Wahlkampfes nicht eher mit einer Stimmenwer-
bung zu tun haben. Natürlich leidet unter diesem System die Aktivität der Staatsbürger. Wenn die Politik Sache der Fachleute wird, kann jede politische Aktivität des Staatsbürgers nur noch als dilettantisch empfunden werden …“

Ist Volksabstimmung undemokratisch?

Wer aber ist heute schon Fachmann? Wer darf sich als einen solchen bezeichnen? Die überwäl-
tigende Mehrheit unseres Volkes besteht doch aus „Dilettanten“ – Dilettanten allerdings, die in einer Demokratie vorzuschreiben hätten, was die „Fachleute“ zu tun haben. Artikel 20 des Grund-
gesetzes erklärt unmissverständlich: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt. Die Bundesrepublik Deutschland ist also, wie es im Grundgesetz heißt, „ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat“.

Trotzdem hat das Bundesverfassungsgericht 1958 auf Antrag der Regierung entschieden, dass die im Parlament geforderte Volksabstimmung über die geplante atomare Bewaffnung nicht mit der Verfassung zu vereinbaren sei. Eine Volksabstimmung sei mit der für die Bundesrepublik gültigen repräsentativen Demokratie nicht vereinbar.

Wir müssen also zur Kenntnis nehmen, dass die „freiheitliche Ordnung“ der Bundesrepublik sich in einer „repräsentativen Demokratie“ verwirklicht, nicht in einer Demokratie schlechthin, die doch im Sinne des Wortes „Volksherrschaft“ bedeutet. Wenn wir das Lexikon aufschlagen, so fin-
den wir unter dem Stichwort „Demokratie“ sogar noch weitere Spielarten verzeichnet: die plebis-
zitäre, die parlamentarische, die präsidiale und die Rätedemokratie. Wir müssen also fragen, wie unsere repräsentative Demokratie beschaffen ist, auf welche Weise sie sich von den anderen aufge-
führten Demokratien unterscheidet; und um das tun zu können, müssen wir uns ihre Anfänge in unserem Land vergegenwärtigen. Der bereits zitierte Staatsrechtler Professor Dr. Forsthoff sagte dazu: „Nach 1945 hat die Staatlichkeit später als der wirtschaftliche Wiederaufbau eingesetzt. Der Wirtschaft ist es damals gelungen, sich aus eigener Kraft aufzubauen, so dass der Staat mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 die bereits vorhandenen wirtschaftlichen Zustände nur akzep-
tieren und durch Nichtintervention anerkennen konnte.“

Die lizenzierte Verfassung

Halten wir das zunächst einmal fest. Die Wirtschaft war, bevor es diesen Staat gab. Diese Wirt-
schaft konnte sich neu organisieren unter dem Schutz der damaligen Militärregierungen. Unter ihrem Schutz entstand auch das „Grundgesetz“. Dieses hat seinen Namen davon, dass es als „vor-
läufige Verfassung“ dem staatlichen Leben Westdeutschlands lediglich für eine Übergangszeit eine Ordnung geben sollte. Der Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Dr. Viktor Agartz schreibt dazu: „Es sei vorweg bemerkt, dass dem Grundgesetz trotz des den Worten nach demokratischen Bekenntnisses die elementare Voraussetzung für die eigene demokratische Legitimität fehlt. Nach allen Grundregeln der Demokratie haben die Staatsbürger über Annahme oder Ablehnung einer Verfassung abzustimmen. Dieses demokratische Votum zum Grundgesetz wurde der Bevölkerung Westdeutschlands bewusst vorenthalten. So wie die ersten Zeitungen von den Besatzungen eine Lizenz erhielten, wurde auch für die Schaffung der Bundesrepublik eine Lizenz erteilt. Wesentliche Teile des Grundgesetzes für diesen Lizenzstaat sind nach politischen Schablonen gestaltet, die jenseits des Atlantik vorgestanzt sind.“

Man muss dazu wissen, dass die damaligen Länder-Ministerpräsidenten der drei Westzonen sich zunächst gegen den Befehl der westlichen Besatzungsmächte sträubten, eine gesamtdeutsche Ver-
fassung auszuarbeiten: sie erkannten sehr deutlich die Gefahr einer langandauernden deutschen Spaltung. Es lag jedoch im Interesse der gerade wieder erstarkten Wirtschaft, einen separaten Weststaat zu schaffen, der vor dem Einfluss der sowjetischen Besatzungsmacht abgeschirmt war; und so wurde der Auftrag schließlich doch angenommen und aus den Landtagen die Mannschaft des sogenannten „Parlamentarischen Rats“ zusammengestellt. Es muss festgehalten werden, dass es die westdeutschen Ministerpräsidenten waren, von denen die Hochkommissare gebeten wur-
den, auf eine Volksabstimmung über das Grundgesetz zu verzichten. Sie mussten nämlich damit rechnen, dass die stimmberechtigten Westdeutschen gegen das Grundgesetz stimmten, da für die Annahme eine Zweidrittelmehrheit erforderlich gewesen wäre. An Stelle des Volkes ließ man nun die Länderparlamente abstimmen. Im Bayerischen Landtag stimmte zwar die Mehrheit der Abge-
ordneten gegen das Grundgesetz. In allen übrigen Länderparlamenten entschied sich die Abgeord-
netenmehrheit jedoch für das Grundgesetz. Da im „Parlamentarischen Rat“ nur die jeweiligen Mehrheiten vertreten waren, während die Gegenstimmen unter den Tisch fielen, kam dort tat-
sächlich die gewünschte Zwei-Drittel-Mehrheit für das Grundgesetz zusammen.

Der Bonner Journalist Wilhelm Karl Gerst, der als damaliger Lizenzträger der FRANKFURTER RUNDSCHAU dieses Geschehen sehr genau verfolgt hat, stellt dazu fest: „Es steht zwar im Grund-
gesetz, das deutsche Volk in den aufgezählten Ländern habe auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Welchen Deutschen in den aufgezählten Bundesländern war denn die Mitwirkung versagt? Nimmt man es wörtlich und genau, allen Deutschen in der Bundesrepu-
blik, die weder Mitglieder des Parlamentarischen Rates und auch nicht Mitglieder eines Landtages waren, war sie versagt. Als diese Landtage gewählt wurden, sprach kein Mensch von der Schaffung eines westdeutschen Staates. Sie war nicht Gegenstand der Wahl. Als ein Abgeordneter des Frank-
furter Wirtschaftsrates einmal vor Journalisten äußerte, in Bonn bereite man die Gründung eines westdeutschen separaten Staates vor, schloss ihn der Präsident des Wirtschaftsrates zur Strafe für diese vorlaute Bemerkung für vier Wochen von der Teilnahme an den Sitzungen aus.“

Wer bestimmt bei der „Selbstbestimmung“?

So sieht also die Entstehungsgeschichte unserer Bundesrepublik aus. Vielleicht können wir die Vorurteile gegen die Politik, wie sie in den eingangs zitierten Antworten der von uns Befragten zum Ausdruck kommen, nun etwas besser verstehen? Diese große Mehrheit „unpolitischer“ Menschen ist ja nicht von ungefähr „desinteressiert“: sie haben die kurze Zeit der Weimarer Republik mit ihren Krisen miterlebt, die zum Faschismus führten; sie haben die Höhen und Tiefen des faschi-
stischen Staates auskosten müssen; und sie sind schließlich, wiederum ohne gefragt zu werden, in die militärreglementierte Ordnung der Siegermächte gestürzt worden. Diese sei, so hat man ihnen gesagt, die Demokratie. Aber in der Sitzung des Bundestages vom 16. März 1950, in der über ein von der SPD eingebrachtes Initiativgesetz „gegen die Feinde der Demokratie“ beraten wurde, „gab der Abgeordnete Kiesinger (CDU) zu, dass das Wort Demokratie das vielleicht zumeist miss-
brauchte Wort unserer Zeit sei“, berichtet uns Wilhelm Karl Gerst. Es ist inzwischen durch das Wort vom „Selbstbestimmungsrecht“ abgelöst worden. Doch haben die Mitglieder des Parla-
mentarischen Rates bei der Schaffung der Bundesrepublik das Selbstbestimmungsrecht, wie wir gesehen haben, keineswegs angewandt. Sie haben sogar bewusst darauf verzichtet, dieses Recht als innerdeutsches Recht in das Grundgesetz aufzunehmen. Ist denn, so kann man fragen, das Recht auf Selbstbestimmung ein manipulierbares Recht, über dessen Anwendung nur die Regierung, niemals das Volk zu entscheiden hat?

Wir müssen schon deshalb so fragen, weil nach dem Grundgesetz, über das das Volk niemals abge-
stimmt hat und das auch im Parlamentarischen Rat nur gegen zwölf Nein-Stimmen angenommen worden ist, Tag für Tag Menschen vor Gericht gestellt werden, denen eine „Gefährdung des Staa-
tes“ vorgeworfen wird.

Der Staat: wer ist das?

Was ist das eigentlich: der Staat? Eine weitverbreitete Meinung besagt: der Staat, das sind wir alle. Wir wollen prüfen, ab das stimmt. Zunächst müssen wir feststellen: den Staat hat es nicht immer gegeben. Das wird viele überraschen. Es ist aber so. Wenn wir die Geschichte betrachten, dann sehen wir ganz zu Anfang Sippen- und Stammesverbände, die Güter für den unmittelbaren und gemeinsamen Verbrauch herstellen. Nach und nach verbessern sie die Arbeitsinstrumente. Im Zuge der gemeinsamen Lebenssicherung bilden sie eine wirtschaftliche Arbeitsteilung heraus, die sich früher oder später in allgemein verbindlichen Ordnungen und Gesetzen niederschlägt. Der Ackerbau wird von der Viehzucht getrennt, die handwerkliche Produktion nach Fachgebieten auf-
geteilt und damit der Tauschverkehr ins Leben gerufen. Es bilden sich Gruppen unter Führung der Ältesten, der Heerführer und Priester. Zu den ersten Ordnungen der Gesellschaft, die von der Zu-
stimmung und Billigung all ihrer Mitglieder getragen wird, treten Moralordnung und Sittengesetz als Sanktion und Heiligung hinzu. Die religiösen Formen, in denen diese Sittengesetze erscheinen, verleihen ihnen das Gewicht überirdischer Endgültigkeit: denn die Geister und Götter aller Völker sind, wie die Wissenschaft seit Freud und Adler beweisen kann, letzten Endes Wirtschaftsmagna-
ten, die mit dem ihnen zugeschriebenen überlegenen Verstand und ihrer angeblichen Allmacht den schwachen, selbstmisstrauischen Menschen die Sicherung des Lebens verbürgen sollen. Auf einer gewissen wirtschaftlichen Entwicklungsstufe entsteht in diesen Gruppen das Eigentum an den Produktionsmitteln und an Grund und Boden. Damit verschwindet die ursprüngliche Gleichheit der Menschen.

Die ganze Gesellschaft verändert ihren Charakter. Die frühere Gemeinschaft spaltet sich, und ihr größerer Teil gerät in wirtschaftliche Abhängigkeit. Es bildet sich ein Verhältnis von Herrschaft und Unterordnung, so dass jene Ordnung zerstört wird, die man als Demokratie im ursprünglichen Sinne bezeichnen kann. Hier finden wir also zum ersten Mal die Aufspaltung der Gesellschaft in verschiedene Klassen, von der in der modernen Soziologie noch heute die Rede ist.

Betrachten wir diesen Prozess noch etwas genauer an dem Beispiel des alten Griechenlands. Die Eigentümer der Produktionsmittel gehen daran, ihr privates wirtschaftliches Eigentum gegen innere und äußere Feinde zu sichern. Zu diesem Zweck schaffen sie sich institutionelle Einrich-
tungen: es entstehen Polizei und Militär. Da die übrigen Griechen sich als gleichberechtigt fühlen, weigern sie sich, dafür die Mannschaften zu stellen. So werden als Polizisten und Soldaten Sklaven eingesetzt, zu denen man die Gefangenen fremder Völker (die als „Barbaren“ gelten) gemacht hat. Diesen ersten Institutionen gesellt sich sehr schnell die Verwaltung hinzu, die die neue Ordnung mit Hilfe einer von Moral und Religion sanktionierten Gesetzlichkeit zu regeln hat. Aus der ökono-
mischen Ordnung wird die politische Ordnung abgeleitet und entwickelt. Das Recht sichert das Eigentum, schützt die Verträge und das Vermögen. So entsteht der Staat als eine Zwangsgewalt, die nur scheinbar unabhängig von den tätigen Menschen über ihnen thront und ihnen die Form ihres Lebens vorschreibt.

Das Märchen von der „Staatsidee“

Wir mussten deshalb so ausführlich auf die Entstehung des Staates eingehen, weil auch heute noch vielfach gelehrt und von vielen geglaubt wird, der Staat sei ein Gebilde an und für sich, mit einer Staatsidee für sich und einer selbständigen Entwicklungskurve, die vielleicht der der Wirtschaft und sonstigen menschlichen Betätigung parallel läuft, ohne jedoch je von ihr abhängig zu werden. Wir wollen in diesem Zusammenhang nicht untersuchen, wer ein Interesse daran haben muss, dass eine derartige Auffassung propagiert wird – der Leser wird es sich ohnehin bereits denken können. Eine solche Auffassung kann nur vertreten, wer – wie das heute noch vielfach der Fall ist – die Geschichte bloß als eine Geschichte der Ideen betrachtet und damit von den lebendigen, täti-
gen Menschen absieht, die diese Ideen ja erst hervorbringen. Entspringen die Ideen denn einer bloßen Laune irgendwelcher superintelligenter „Persönlichkeiten“? Oder hat sie ihnen gar „der Weltgeist“ eingeblasen? Das kann doch im Ernst kein vernünftiger Mensch glauben. Die Menschen müssen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln das Leben täglich neu bewältigen, und so werden sie in der Praxis ihrer täglichen Arbeit diese Mittel immer aufs Neue vervollkommnen. So arbeiten sie gleichzeitig ständig an der Veränderung ihrer Umwelt; und weil sich diese Umwelt ständig ändert, müssen sie sich immer wieder neu auf sie einstellen. Daraus ergeben sich wieder-
um neue Erkenntnisse. Diese Erkenntnisse jedoch stehen in Widerspruch zu der bisherigen Ord-
nung der Lebensverhältnisse, und so entstehen Ideen zur Neuordnung dieser Verhältnisse.

Als herausragende Typen von Produktionsweisen, die sich in der Geschichte abgelöst haben, er-
kennen wir die Sklavenhaltergesellschaft des Altertums, den Feudalismus des Mittelalters und den Kapitalismus. Wir sehen nun, wie sich im Verlaufe der Veränderungen dieser klassengegliederten Produktionsverhältnisse auch die ihnen jeweils zugehörende Form des Staates änderte. Der ökono-
mischen Grundlage der Sklavenwirtschaft entsprach die orientalische Despotie, der Stadtstaat der Griechen und das römische Imperium. In der Feudalwirtschaft sehen wir den Gutsstaat, dann die Ständemonarchie und die absolute Monarchie. Der Kapitalismus ließ den bürgerlichen Staat ent-
stehen, ob er uns nun als konstitutionelle Monarchie oder als parlamentarische Republik gegen-
übertritt.

Welche Rolle spielt also der Staat?

Sicher ist dem Leser inzwischen klar geworden, warum wir diesen Exkurs in die Geschichte unter-
nehmen mussten. Wir haben gesehen, dass der Staat nicht immer gewesen und dass er Verände-
rungen unterworfen gewesen ist, die ihrerseits hervorgingen aus der fortschreitenden Entwicklung der Wirtschaftsverhältnisse. War es in der absoluten Monarchie der absolute Herrscher, der mit Recht von sich sagen konnte: „Der Staat, das bin ich!“, so offenbart sich in der repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik der Staat in Parlament, Regierung und Bürokratie.

Die Politik dieser Institutionen, ihre Willensäußerungen und Handlungen sind Politik, Willens-
äußerungen und Handlungen des Staates, nicht aber die eines gedanklichen Oberbegriffes,
der gleichsam über diesen Institutionen schwebend wirksam wird. In seiner Verknüpftheit mit Erfordernissen des materiellen Lebens stellt sich uns auch der abstrakteste Staat dar als die Verwaltung und Sicherung von Interessen.

Nun wissen wir aber, dass in unserer Gesellschaft höchst unterschiedliche Interessen bestehen. Der Betriebsschlosser, den wir zitierten, wird andere Interessen haben als die Aktionäre des Unternehmens, für das er arbeitet. In einem freilich stimmen sie überein: dass sie alle leben wollen. Aber haben sie auch die gleiche Möglichkeit dazu?

Vom Interessenkampf der Unternehmer

Der Betriebsschlosser M. hat nur seine Arbeitskraft. Er muss sie einsetzen, um leben zu können. Damit ist er abhängig von jenen Leuten, in deren Händen sich die Fabriken, Bergwerke, Eisenhüt-
ten und andere Produktionsmittel befinden. Denn er muss nun seine Arbeitskraft wie eine Ware auf dem Markt von Angebot und Nachfrage verkaufen. Nachfrage besteht jedoch nur, wenn der Unternehmer sicher sein kann, dass diese Arbeitskraft ihm einen Überschuss abwirft. Man denke nur an die Stillegung „unrentabler“ Zechen.

Daran ändert auch nichts die Gepflogenheit unserer Tage, zwischen Arbeitenden und Unterneh-
mern als „gleichberechtigten Partnern“ einen Vertrag abzuschließen. Haben denn beide Partner die gleichen Voraussetzungen? Der Arbeitnehmer steht immer unter dem Zwang, notfalls auch ungün-
stige Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, um nicht verhungern zu müssen. Werden jedoch im Zuge der „Rationalisierung“ eines Betriebes Arbeitskräfte überflüssig, so schützt sie nichts vor ihrer Ent-
lassung. Keine Zeitung spricht von Staatsgefährdung, wenn Unternehmer aufgrund ihrer ökono-
mischen Interessen den Arbeitsvertrag aufkündigen. Wollen jedoch die von ihnen abhängigen Ar-
beitnehmer ihre eigenen Interessen anmelden, und können sie ihre berechtigten Forderungen nur durch einen Streik durchsetzen, dann erhebt sich ein großes Geschrei. Niemand wird die Behaup-
tung wagen, dass die amerikanischen Unternehmer, welche sechs Millionen Arbeiter entlassen haben, Sabotage üben oder den Staat gefährden. Für sie gilt auch kein Taft-Hartley-Gesetz, mit dem die Regierung einen Streik zwangsweise unterbinden kann. Und so konnten wir in den letzten Tagen lesen, dass der „Allgemeine Arbeitgeberverband“ in Braunschweig seine Satzung durch „Grundsätze unternehmerischer Verbundenheit und Solidarität“ ergänzt hat: die Unternehmer verpflichten sich damit, streikende oder ausgesperrte Arbeitnehmer anderer Firmen nicht in den eigenen Betrieb einzustellen. Auch sollen streikenden Arbeitern die Werkswohnungen entzogen werden.

F.A.E. Lüderitz „erwirbt“ Deutsch-Südwestafrika

Wir sehen schon an den wenigen, nur angedeuteten Beispielen, dass die in unserer Gesellschafts-
ordnung gegeneinander kämpfenden Interessen keineswegs gleichwertig gesichert sind. Der Staat, wie er nach dem verlorenen Krieg von den Siegermächten bei uns wieder errichtet worden ist, hat zwar die Funktion, die gegensätzlichen Interessen zu regeln. Nur ist dieses Regeln meist ein Maß-
regeln der an Zahl Überlegenen, aber an Macht Schwächeren. Das ist, seit es den Staat gibt, immer so gewesen. Als die Väter des Unternehmertums, dem er heute zu dienen hat, sich von den Fesseln des Feudalismus durch ihre Revolutionen freikämpften, proklamierten sie: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Sie wünschten die Freiheit der Produktion und des Handels von der Bevormun-
dung durch Adel und Geistlichkeit; sie wünschten die Gleichheit freier Konkurrenten, um auf dem allgemeinen Markt ihre Waren absetzen zu können. Sie sorgten dafür, dass der Staat diese Freihei-
ten uneingeschränkt garantierte. Sie erwirkten einen Schutz der Verträge, eine allgemeine Polizei- und Aufsichtsfunktion zum Schutze ihres Eigentums und eine Sicherung der Gesetze des freien Marktes. Als der Kapitalismus die nationalen Grenzen überschritt, waren es stets private Unter-
nehmer oder Unternehmergruppen, die in internationale Rohstoffgebiete eindrangen und Kolo-
nien „gründeten“. Dann erst folgte der Staat, der diese Gebiete unter seinen „Schutz“ stellte und damit die privaten Interessen der Unternehmer sicherte. Deutsch-Südwestafrika zum Beispiel wurde durch die Bremer Firma F.A.E. Lüderitz „erworben“. Und der „Panthersprung“ nach Agadir, bei dem es um die Interessen der Firma Mannesmann ging, löste beinahe einen deutsch-französi-
schen Krieg aus. Hatten die Unternehmer in der Phase des Konkurrenzkapitalismus sich gegen jede Einmischung des Staates energisch gewehrt und ihm nur eine „Nachtwächter“-Rolle zuge-
billigt, so verlangten sie jetzt unter dem Banner des „Nationalliberalismus“ militärische Hilfe nach außen und die nationale Verteidigung der „heiligsten Güter“. Der angeblich neutrale und objektive Staat gehorchte.

„Botschafter“ der Industrie

Die arbeitende Bevölkerung, die Mehrheit des Volkes also, wird bei alldem gar nicht gefragt. Ihre Vertreter haben nicht einmal Zutritt zum Parlament, in dem die Abgeordneten des dritten Standes Sitz und Stimme haben. Das Parlament hat zu jener Zeit einzig die Funktion, die unterschiedlichen Interessen von Produktion, Handel, Landwirtschaft und Handwerk innerhalb des Systems auszu-
gleichen. Erst, als dieses System in eine neue Phase eintritt, verliert das Parlament seine ursprüng-
liche Funktion, die in den einzelnen Zweigen des dritten Standes vorherrschenden Sonderinteres-
sen zu regeln. Zwischen der Bürokratie der Staatsorgane und der Kartellbürokratie entwickelt sich nun eine Art Arbeitsgemeinschaft, die das Parlament immer weniger benötigt. War der einzelne Betrieb in der Phase des Konkurrenzkapitalismus ein autonomes Gebilde, das selbständig ent-
schied, wird er nun eingegliedert in Wirtschaftsverbände, die schon von sich aus den Marktpreis außer Kraft setzen und die Monopolisierung beschleunigen. Der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Agartz schreibt: „Die privatkapitalistische Willensbildung entsteht auf einer höheren Ebene, in Verbänden und Verbandsbüros, die sich, ihrer Aufgabe entsprechend, wie Botschaften am Sitze
der Regierung niederlassen und mit der Bürokratie des Staates in unmittelbarer Interessen- und Arbeitsgemeinschaft stehen.“ Man nennt diese „Botschafter der Industrie“ mit einem modernen Ausdruck auch „Lobbyisten“.

Die Regierung und ihre Untertanen

Dadurch, dass die Funktionen des Parlaments auf die Bürokratien des Staates und der Verbände übergegangen sind, erlahmt gleichzeitig das Interesse des Großbürgertums am Parlament, so dass es mit einer „demokratischen“ Geste jetzt auch Vertreter der arbeitenden Bevölkerung darin zulas-
sen kann: 1871 ziehen zum ersten Mal Arbeitervertreter in den Reichstag ein, 1919 endgültig auch in die Landtage und Gemeindeparlamente. Für das herrschende Großbürgertum hat das Parlament von da an bloß die Funktion, seine Zustimmung zu Gesetzen zu erteilen, die in den genannten Bürokratien ausgearbeitet worden sind. Um wiederum Dr. Agartz zu zitieren: „Gesetze waren einmal die Schlußsteine einer längeren Entwicklung, die dann für größere Zeiträume das Recht setzten. Heute werden Gesetze von der Bürokratie aus einem augenblicklichen Notstand dem Parlament unterbreitet. Das Motiv des Entwurfs, die Eingliederung in einen allgemeinen Zusam-
menhang, seine Auswirkung auf andere Bereiche, die vielleicht in Wahrheit gewollt sind, werden kaum mehr beachtet, erst recht nicht diskutiert. Bestenfalls redet man über stilistische Änderun-
gen, soweit es dazu reicht. Gesetze sind heute Verwaltungsmaßnahmen der Bürokratie, mit den Kollegen der Wirtschaftsverbände abgesprochen, und tragen den Charakter von Ministerialent-
scheidungen. – Es ist völlig unmöglich geworden, die nicht mehr übersehbare Bürokratie kontrol-
lieren zu wollen. Selbst wenn die fachliche Qualität der Abgeordneten mit der der Bürokratie ver-
gleichbar wäre, befänden sie sich in einer hoffnungslosen Minderheit. Daher tagt heute das Parla-
ment … in Permanenz. Aus diesen Gründen ist das Parlament nicht mehr mit Politikern, sondern mit sogenannten Experten und Managern besetzt, die ihr Mandat hauptberuflich ausüben. Daher auch das Verlangen nach Pensionierung der Abgeordneten. Weil das Parlament aus dem aktiven politischen Handeln ausgeschaltet ist, weil ihm die Aufgabe und Fähigkeit genommen wurde, politische Impulse geben zu können, ist nicht nur das Parlament zugunsten der Bürokratie media-
tisiert worden (Mittel zum Zweck geworden – d. Red.). Das Parlament wird mehr und mehr zu einer historischen Erinnerung an den einstmaligen Souveränitätsgedanken, denaturiert zu einer der autoritären oder faschistoiden Regierung beigegebenen demokratischen Dekoration, die, wie in Frankreich, sogar gesetzlich zu einem überflüssigen Stammtisch abgewandelt worden ist.“

Interessanterweise bestätigt DER VOLKSWIRT, eine der Industrie nahestehende Wirtschafts- und Finanzzeitung, das Urteil des Wissenschaftlers Agartz, wenn sie (am 24. Juni 1961) schreibt: „Ein zweites kommt hinzu: Die Übermacht der Ministerialbürokratie, die das Parlament – um es einmal offen auszusprechen – zunehmend entmündigt und zur Hilflosigkeit verurteilt. Die Ministerien verfügen halt über den „besseren Sachverstand“, über die einschlägigen Akten und über den für die Gesetzgebung nun einmal notwendigen Apparat. Ihnen sind die Volksvertreter bei fast allen Ge-
setzeswerken auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, was sich in den Bundestagsausschüssen Tag für Tag aufs neue erweist. Sollten sich die Parlamentarier scheuen, den „sachverständigen“ Rat des Herrn Ministerialrates einzuholen, bleibt ihnen nur der Weg zum zuständigen Interessenverband, bei dem sie aber informationsmäßig bestimmt nicht uneigennütziger ,bedient’ werden. So wird der Bundestagsabgeordnete mehr und mehr zum ,Untertan’ der Regierung. Man muss einmal das mit-
leidige Gesicht eines Ministerialbeamten über einen Initiativgesetzentwurf gesehen haben, bei dem er keine ,Formulierungshilfe’ geleistet hat, um verstehen zu können, warum der Mut zu selbstän-
digen parlamentarischen Gesetzesinitiativen mehr und mehr dahinschwindet … Die Regierung lenkt und beeinflusst de facto (nicht de jure) jenes Parlament in einem weiten Maße, von dessen Vertrauen sie lebt.“

Die Weihe der „Volksvertreter“

Jetzt können wir sicher auch verstehen, warum 62 Prozent der westdeutschen Bevölkerung (wie das EMNID-Institut kürzlich ermittelt hat) nicht wissen, was für eine Aufgabe das Parlament hat. Oder anders ausgedrückt: dass die Mehrheit den Staat nicht versteht. Dieser Staat aber bezieht seine demokratische Legitimation von der Zustimmung der Mehrheit. Obwohl das Parlament auch in einer repräsentativen Demokratie Interessenvertretung des Volkes sein soll, halten 42 Prozent der Westdeutschen den Bundestag für die Regierung. Man hat ihnen die komplizierten Zusam-
menhänge des Staates, wie er sich uns in der spätkapitalistischen Gesellschaft darbietet, bewusst nicht erklärt; und so haben sie sich gegen ihre eigenen Interessen von der Politik abgewandt. Die sogenannten Volksvertreter im Parlament, die ja eigentlich den Auftrag ihrer Wähler erfüllen sollen, sind ihnen so fern gerückt wie Götter auf dem Olymp, deren Treiben man nicht versteht und deren Diktaten man sich resignierend beugen muss.

Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass sich die Rolle des Volkes in der repräsentativen De-
mokratie darauf beschränkt, alle vier Jahre einen Wahlzettel auszufüllen, auf dem die Namen von Abgeordneten stehen, die es nicht kennt und die es schon gar nicht aufgestellt hat. Letzteres haben vielmehr schon die Führungsstäbe der Parteibürokratien besorgt, wobei nicht so sehr die mensch-
liche oder politische Qualität den Ausschlag gibt wie die Sicherheit, dass der Herr Kandidat die autoritäre Linie der Parteifunktionäre nicht stört. Diese Parteien haben durch die sogenannte 5-Prozent-Klausel ja dafür gesorgt, dass sie im Parlament unter sich bleiben und nicht von unbe-
quemen Außenseitern (wie Unabhängigen oder Vertretern von Wählergemeinschaften) gestört werden können. Ihre Kandidaten haben dann auch meist gar nicht das Bewusstsein, nur in Ver-
tretung ihrer Wähler handeln zu müssen (wobei es, wie Dr. Agartz schreibt, aus gutem demokra-
tischen Recht sinnvoll wäre, „einen gewählten Vertreter, der seinen Auftrag nicht erfüllt, wieder abberufen zu können, wenn er mit der Auffassung seiner Wähler in Widerspruch gerät“); sie verab-
solutieren sich gegenüber ihren Wählern, indem sie sich mit einer Weihe umgeben, die keineswegs in ihrer Leistung begründet ist.

Gleiches Recht für Bettler und Millionäre

Die Parteien, die sich auf diese Weise eine Art Monopolstellung im politischen Leben der Bundes-
republik gesichert haben, bezeichnen sich mit einem geläufigen Ausdruck selbst gern als „bürger-
liche Parteien“. Auch die SPD will seit dem Verzicht auf alle sozialistischen Grundlagen eifrig dazu gerechnet werden und kämpft verbissen, flehentlich, ja kniefällig um ihre Anerkennung. „Wer ist denn eigentlich Bürger?“ ruft Wehner fragend aus und antwortet in der ihm eigentümlichen Stak-
kato-Redeweise: „Wir alle sind die Mitbürger dieser Bundesrepublik; die … müssen sich schon einen besonderen Begriff des Bürgerlichen konstruieren, um uns auszuschließen; die Frontstellung hie bürgerlich, da was anderes wird es nicht mehr geben.“ (Aus einem Bericht der SÜDDEUT-
SCHEN ZEITUNG vom 25./26. November 1961).

Bürgerliche Parteien heißen aber seit altersher so, weil sie die Existenzbedingungen des Großbür-
gertums zu sichern helfen. Diese Existenzbedingungen wiederum liegen im Privateigentum an den Produktionsmitteln. Sie werden in der kapitalistischen Gesellschaft unter Rechtsschutz gestellt. Im Artikel 14 des Grundgesetzes heißt es ausdrücklich: „Das Eigentum und das Erbrecht werden ge-
währleistet.“ Wenn es in diesem Artikel weiter heißt, sein Gebrauch solle zugleich „dem Wohle der Allgemeinheit dienen“, so bedeutet diese merkwürdige Empfehlung keine zwingende gesetzliche Verpflichtung. Sie gestattet der politischen Propaganda bestenfalls eine moralische Unterstrei-
chung, die zu nichts zwingt.

Ein besonderer Rechtsschutz der Interessen jener „Bürger“, die nicht über einen ertragreichen Be-
sitz wie Häuser, Fabriken, Werksanlagen verfügen und somit in wirtschaftlicher Abhängigkeit von den Besitzbürgern leben müssen, sieht das Grundgesetz jedoch nicht vor. Es fehlen, so stellt auch der offizielle Kommentator des Grundgesetzes, Professor Andreas Hamann, fest, Vorschriften über das weite Gebiet der Sozialversicherung und über das umfangreiche Aufgabengebiet der Arbeiter-
verwaltung; und schon gar nicht ist das Streikrecht im Grundgesetz behandelt worden.

Der schon mehrfach zitierte katholische Journalist Wilhelm Karl Gerst (ehemaliges Mitglied der CDU) berichtet: „Ein vorgesehener Satz über das Recht auf ein Mindestmaß an Nahrung, Kleidung und Wohnung ist im Parlamentarischen Rat abgelehnt worden. Meinen Hinweis auf diese Unter-
lassung in meinem Buch ,Die Bundesrepublik Deutschland, Weg und Wirklichkeit’ wurde mir von dem Voruntersuchungsrichter des Bundesgerichts 1960 als Verächtlichmachung der Bundesrepu-
blik vorgehalten. Als ich 1957 dieses Buch veröffentlichte, war das Bundessozialhilfe-Gesetz noch nicht verabschiedet. Der rechtliche Anspruch auf die Sozialhilfe des Staates ist auch in diesem Gesetz nach unvollständig und bedarf einer Ergänzung. Der Satz, der im Grundgesetz gestrichen wurde, ist durch dieses Bundessozialhilfe-Gesetz noch nicht erfüllt. Mein Vorwurf bestand zu recht.“

Das Grundgesetz zählt unter den Grundrechten ebenfalls auf (Artikel 2): „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Das heißt mit anderen Wor-
ten: jeder hat das Recht, (wenn er will) Millionär zu werden, ein Rittergut zu kaufen oder ähnliche Dinge zu tun, die nicht „gegen das Sittengesetz“ verstoßen. Es ist das gleiche Recht, das (wie Anato-
le France einstmals schrieb) dem Millionär wie dem Bettler erlaubt, nachts unter den Brücken von Paris zu schlafen. Woraus wir schließen können, dass beide gleichermaßen berechtigt sind, ihre Nächte auch im Hotel Bristol oder Exelsior zu verbringen. Auf der Grundlage dieses gleichen de-
mokratischen Rechts schließen Arbeitnehmer und Unternehmer ja auch, wie wir gesehen haben, ihre Arbeitsverträge ab, die von Letzteren bei einer von ihnen selbst festgesetzten „Unrentabilität“ jederzeit gekündigt werden können. Das gleiche demokratische Recht hat es bisher allerdings ver-
hindert, dass bei soIchen Anlässen Unternehmer oder Manager zu Arbeiten an Hochöfen umge-
schult werden.

„Sind Sie sicher, dass Sie sicher sind?“

Artikel 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und in einem umfangreichen, mehrfarbigen, bestimmt recht kostspieligen Tiefdruckprospekt, für den ein Frankfurter Public-Relations-Büro im Auftrag der aus Steuergeldern finanzierten „Bundeszentrale für Heimatdienst“ verantwortlich zeichnet (wir fanden ihn dem Lesezirkel „Daheim“ beigeheftet), ist als Antwort auf die oben zitierte selbstgestellte Frage zu lesen: „Sie sind sicher, dass Sie sicher sind. Sicher vor dem Zugriff des Staates. Ihnen fährt kein Schreck in die Glieder, wenn Sie die Worte Polizei und Staat hören. Sie werden nicht nervös, wenn nach Einbruch der Dunkelheit an Ihre Wohnungstür geklopft wird. Sie sind ein freier Bürger eines freien Landes. Sie brauchen gar nicht viel darüber nachzudenken, was Freiheit und Sicherheit sind. Sie sind eben frei und sicher.“

Soll uns damit eingeredet werden, dass wir nicht nachdenken sollen? Wir kennen jedenfalls „freie Bürger eines freien Landes“, denen das Nachdenken zum Verhängnis geworden ist. Ein Beispiel für viele: am Vormittag das 5. Juni 1961 wurde von Kriminalbeamten die Wohnung des Ehepaares Mandel in Viernheim, Friedrichstraße 3, durchsucht. Gefunden wurde nichts. Herr und Frau Man-
del wurden im Unklaren darüber gelassen, was eigentlich gesucht wurde und aus welchen Gründen die Durchsuchung angeordnet worden war: Sie haben sich deshalb in einem offenen Brief an den hessischen Innenminister Schneider gewandt, den die Wochenzeitung DIE TAT am 22. Juli 1961 veröffentlicht hat. Es heißt darin: „1935 wurde meine Frau von unserem wenige Wochen alten Kind gerissen. 1940 musste ich bei der Viernheimer Polizei einen zweiten Haustür- und Hoftorschlüssel abliefern, und 1944 musste ich bei der Strafeinheit der 999er im Ausbildungslager Baumholder der Erschießung von Kameraden beiwohnen. Heute (1961!) erhalte ich Briefe durch die Post, die erbro-
chen sind und den Stempel ,zollamtlich geöffnet’ tragen. – In der Telefonleitung knackt es, und unter Umständen ist eine unwillige Stimme zu hören: ,Interessiert mich nicht’, und dann knackt es wieder. (Was, Herr Innenminister, müsste denn gesprochen werden, um zu ,interessieren’?) – Die Viernheimer Polizei wird in Abständen nach unserem Tun befragt (von wem, Herr Innenmini-
ster?). – Bekannte scheuen sich, uns zu besuchen, weil sie Nachteile befürchten. Es findet sich keine Druckerei für diesen ,Offenen Brief’. Die Druckereien fürchten um ihre materielle Existenz, wenn sie etwas drucken, das den Unwillen unserer demokratischen Regierung erregen könnte. – Beginnen jetzt wieder die Hausdurchsuchungen? – Weil wir die Adenauer-Strauß-CDU-Politik für ein nationales Unglück und deren Nachahmung durch die SPD-Spitze für ein nicht minder großes Unglück halten und niemandem gegenüber hieraus ein Hehl machen? Waren die oben angeführten Dinge nicht nur dem Nazistaat immanent? Sind diese Schikanen, dieser seelische Druck, diese Bespitzelung, diese unwürdige Atmosphäre der Unfreiheit denn auch unserem sozialdemokratisch regierten Hessen innewohnend?“

„Aufrechten Hauptes sind wir eingetreten …“

Vorfälle der geschilderten Art sind keineswegs zufällig: sie machen uns auf die sich wandelnden Praktiken in unserer repräsentativen Demokratie aufmerksam. Die Frage ist nun, wer an der Rück-
verwandlung dieser Demokratie ein Interesse haben kann. Der bekannte Schriftsteller Dr. Ger-
hardt Szczesny, bis Ende 1961 Leiter der Abteilung Sonderprogramm im Bayerischen Rundfunk, schrieb im Juli vergangenen Jahres: „Die im Grundgesetz verankerten Rechte der freien Persön-
lichkeitsentfaltung, der freien Meinungsäußerung, Information und Forschung sind längst durch eine christlich-konfessionalistische Regierungspraxis ausgehöhlt, wenn nicht außerkraftgesetzt … Die demokratischen Parteien, die die religiösweltanschauliche und kirchliche Unabhängigkeit unseres Staates zu hüten berufen sind, haben sich entweder ausdrücklich in den Dienst des christlichen Totalitarismus gestellt oder sind Gefangene einer öffentlichen Meinung, die alles verdrängt und unterdrückt, was am ,prinzipiell christlichen’ Charakter der Bundesrepublik Zweifel aufkommen lassen könnte …“

Der aufmerksame Leser, der uns interessiert bis hierhin gefolgt ist, wird Herrn Dr. Szczesny be-
richtigen müssen; es ist nicht so sehr das Christentum, das die formalen Rechte unserer Demokra-
tie einzuschränken droht, als vielmehr gewisse Kräfte, die sich dieses Christentums bemächtigt haben und es als Werkzeug für die Durchsetzung ihrer egoistischen Interessen benutzen. Haben wir nicht Beispiele dafür, wie im Namen dieses Christentums sogar überzeugte Christen verfolgt werden können? Dem katholischen Pfarrer Krämer von Ockfen im Kreis Saarburg zum Beispiel ist vom Bischöflichen Ordinariat Trier mit Amtsenthebung gedroht worden, wie wir am 20. August letzten Jahres in einem Teil unserer Presse lesen konnten. Pfarrer Krämer hatte etwas getan, was unter seinen Amtsbrüdern – besonders zu Zeiten der Wahl – gang und gäbe ist: er hatte für eine politische Partei geworben. Im Gegensatz zu vielen anderen Pfarrern tat er das jedoch nicht von der Kanzel herab, sondern bewusst außerhalb des Kirchenraums. Misslich war nur: die andern taten es für die CDU – er für eine unliebsame Partei. Deshalb wurde er gemaßregelt. Gemaßregelt von einem Bischof, der am Christkönigsfest 1933 im Dom zu Trier die inhaltsschweren Worte sprach: „Aufrechten Hauptes und festen Schrittes sind wir eingetreten in das Reich und sind bereit, ihm zu dienen mit dem Einsatz aller Kräfte unseres Leibes und unserer Seele.“

Übrigens ist auf Anregung des zitierten Gerhard Szczesny eine „Humanistische Union“ gegründet worden. Ihr gehören über siebzig bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst und Publizi-
stik an. Am 31. Januar berichtete die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG über eine öffentliche Versamm-
lung dieser Union: „Mit Protestrufen, aber auch mit demonstrativem Beifall quittierten die Zuhö-
rer … in Frankfurt scharfe Angriffe von Professor Alexander Mitscherlich auf die katholische Kirche, der er ,Zusammenarbeit mit kapitalistischen Mächten und Gewaltherrschaft’ vorwarf.“

Das Volk und die Monopole

Die CDU hat 1949 in ihrem Ahlener Programm ohne Umschweife erklärt: „Das kapitalistische Sy-
stem ist den sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ Wie kam es dazu, dass sie trotzdem dem alten deutschen Kapitalismus, der noch wenige Jahre zuvor Hitler an die Macht gebracht hatte, wieder zur Blüte verhalf? Wilhelm Karl Gerst berichtet darüber: „Wir alten katholischen Mitglieder in der ehemaligen Zentrumspartei mussten 1945 und in den folgen-
den Jahren beobachten, wie sich früher dem Zentrum Fernstehende Schritt um Schritt der in Westdeutschland zunächst auf der untersten Stufe zugelassenen CDU näherten. Dann kamen die ehemaligen Deutsch-Nationalen, die sich in der Weimarer Zeit Deutsch-Nationale Volkspartei genannt hatten, und später kamen über die Landsmannschaften und die Verbände der Heimatver-
wiesenen auch die Revanchisten und ausgesprochenen Militaristen in die CDU, als solche erkenn-
bar durch ihr Schrifttum. Dadurch hat sich der Charakter der CDU gegenüber der ehemaligen Zentrumspartei völlig verändert. Die evangelischen Kreise, die sich jetzt der CDU zuwandten, waren vor 1933 ausnahmslos politisch rechts organisiert. Viele von ihnen gehörten während der Hitlerzeit der Nazipartei an. Dadurch wurden die alten Zentrumsleute, soweit sie sich nicht zu-
rückzogen, in die neue Rechtspartei CDU integriert.“

Diese Kräfte sind es also, die unsere schon auf so fragwürdige Weise zustande gekommene Demo-
kratie als Fassade für einen anderen politischen und materiellen Inhalt benutzen wollen. Hat nicht sogar der Nationalsozialismus die gleichfalls so demokratische Weimarer Verfassung unverändert gelassen? Über die expansive Politik der nationalen und internationalen Wirtschaftskonzerne hat das Volk kein demokratisches Mitspracherecht. Es sind aber gerade diese Konzerne und Kartelle, wahre Mammutunternehmen, die sich in ihren wachsenden Schwierigkeiten nur durch autoritäre Entscheidungen zu helfen wissen und zwar außerhalb des Parlamentes, das weder schnell genug zu arbeiten vermag noch sachverständig genug ist, diese Entscheidungen beurteilen zu können.

Die Krisen der Profitwirtschaft

Was sind das nun für Schwierigkeiten, vor die sich die kapitalistischen Großunternehmen in zu-
nehmendem Maße gestellt sehen? Hat es denn nicht zu allen Zeiten und in allen Wirtschaftsord-
nungen krisenhafte Zustände gegeben? Gewiss – nur haben die Krisen in der kapitalistischen Produktionsweise mit den Krisen im Altertum oder im Mittelalter nicht mehr als den Namen gemeinsam. Im Mittelalter zum Beispiel mit seiner vorwiegend landwirtschaftlichen Produkti-
onsweise konnte gerade soviel produziert werden, wie die Menschen in ihrer Gesamtheit zum Leben brauchten. Eine Krise trat also immer dann ein, wenn durch Krieg oder Missernte nicht genügend produziert werden konnte, um die Menschen mit den wichtigsten Lebensmitteln zu versorgen. Ganz anders im Kapitalismus: hier wird nicht etwa zu wenig produziert, sondern im Gegenteil zuviel. Denn die rapide Entwicklung der Technik bietet heute die Möglichkeit, die zum Leben notwendigen Güter in einer weitaus kürzeren Zeit als früher herzustellen. Da das kapitali-
stische System jedoch den einzelnen Unternehmer zwingt, zur Erzielung seiner Profitrate aus den Maschinen und den an ihnen arbeitenden Menschen herauszuholen, was sich herausholen lässt, produzieren diese weitaus mehr, als die Verbraucher jemals kaufen können. Die Krise im Kapita-
lismus ist also eine Absatzkrise, da nicht Bedarfsdeckung, sondern Profitgewinnung das Leitbild der Produktion ist. Der inländische Markt reicht schon gar nicht aus, um all die produzierten Waren aufzunehmen. Der ausländische Markt aber wird immer kleiner, weil die Völker Asiens, Afrikas und Südamerikas sich anschicken, das dauernde Elend abzuschütteln und ihre eigenen Industrien aufzubauen. Damit verlieren nun die westlichen Großunternehmen zugleich die billigen Rohstoffquellen und die Abnehmer für ihre überschüssigen Fertigwaren. Dadurch kommen sie sich auf dem mehr und mehr zusammenschrumpfenden Markt immer stärker ins Gehege und wissen sich nur dadurch zu helfen, indem das größere Unternehmen das kapitalschwächere „frisst“. Der englische Chemie-Industrielle Wormald schrieb kürzlich an die TIMES in London: „Fast jeder englische Konzern hat Angst … vor einem anderen, fast jeder hat Angst, seine Unabhängigkeit und Identität zu verlieren.“

Diese Situation haben wir schon einmal erlebt. Sie wurde von der Sozialpsychologin Alice Rühle-Gerstel schon im Jahre 1927 wie folgt charakterisiert: „Die Menschen sind nicht bedroht durch die Ausbeuter, sondern durch die Ausbeutung, nicht durch die Herrschaft der Kapitalisten, sondern durch die Herrschaft des Kapitalismus, unterjocht nicht vom reichen Mann, sondern vom Geld, gequält nicht vom Hunger, sondern von der Absatzkrise“.

Wer gefährdet die Demokratie?

Aus diesen Schwierigkeilen versuchte sich der Kapitalismus in einigen Ländern schon einmal in den offenen Faschismus zu retten. Der Zweite Weltkrieg schuf dann durch die Zerstörung unzähli-
ger Werte einen starken Nachholbedarf, der für eine Weile wieder für einen ausreichenden Markt gesorgt hat. Doch haben sich für den Kapitalismus die Probleme dadurch nicht gelöst. Sie sind nur aufgeschoben worden. Und wieder versucht der Monopolkapitalismus mit der obersten Komman-
dostelle des Staates sich die gesamte Gesellschaft gefügig zu machen, indem er als erstes gerade jene Rechte einzuschränken versucht, zu deren Verteidigung er anzutreten vorgibt. Er tut das unter dem Vorwand, die parlamentarische Demokratie gegen die Feinde der Verfassung schützen zu müssen. Wer sind aber diese „Feinde der Verfassung“? Die arbeitende Bevölkerung kann es nicht sein: sie hat kein Interesse daran, eine parlamentarische Ordnung zu gefährden, die in der klas-
sengespaltenen Gesellschaft die einzige Basis darstellt, von der sie ihre Argumente gegen das System des Kapitalismus vorbringen kann. Das trifft selbst für Kommunisten zu, die von Marx wissen müssen, dass man eine Revolution nicht „machen“ kann – bestenfalls einen sinnlosen Putsch. Wozu also Geheimdienste, Verfassungsschutz, politische Polizei, Ostbüros, Postkontrolle, Telefonüberwachung? Wozu „Kuratorium Unteilbares Deutschland“ oder Organisation „Rettet die Freiheit“? Wozu die unübersehbare Zahl von Zeitschriften, Broschüren und Büchern, die direkt oder indirekt aus diesen Institutionen stammen und gratis verteilt werden? Wozu ein Bundespres-
seamt und Geheimfonds für das Bundeskanzleramt, wozu Sondergerichte?

Der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Agartz kommt nach eingehender Untersuchung zu dem Ergeb-
nis: „Wie schon gesagt, braucht der monopolistische Kapitalismus eine adäquate und korrespon-
dierende autoritäre Regierungspolitik. Er weiß zugleich, dass eine solche Politik nur mit demokra-
tischen Argumenten durchzusetzen ist. Dazu braucht man das Alibi der kommunistischen Gefahr und ist dankbar für jedes Flugblatt, für jedes Telegramm, die die Gefahr unter Beweis stellen. So ergibt sich eine bittere Ironie. Man baut mit Hilfe der vorhin genannten Institutionen, mit behörd-
lichen Maßnahmen bis zum Notstandsgesetz, die demokratischen Rechte ab, um die Demokratie zu retten. Die autoritäre Politik wird zum Sachwalter der Demokratie, der Freiheiten und der Menschenrechte. Nicht Sozialisten, nicht Pazifisten gefährden die Demokratie. Nur die herrschen-
de Klasse ist daran interessiert, eine Verfassungsstruktur durchzusetzen, die ihren imperialisti-
schen Bedürfnissen entspricht und das gesellschaftliche System des Spätkapitalismus in seiner Existenz sichert. Diese Bedürfnisse machen deutlich, dass die internationalen Gegensätze nicht daher rühren, ob ein Staatswesen im Sinne der bürgerlichen Demokratie nach allgemeinen, freien und geheimen Wahlen geordnet ist, vielmehr daher, ob dieses Staatswesen sich ohne Rücksicht auf seine Verfassung dem klassengebundenen Bündnissystem der Monopolkapitalisten zurechnet. Da-
her kann die sogenannte ,Freie Welt’ Länder wie Spanien, Portugal und die Militärdiktatur der Türkei in ihre Reihen aufnehmen. Nicht die Demokratie, sondern das Bekenntnis zum Kapitalis-
mus ist entscheidend.“

Eine Prophezeiung Adenauers

Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir die zwölf Änderungen, die das Bonner Grundgesetz seit 1950 auf Betreiben der Regierung erfahren hat, unter den von Dr. Agartz aufgezeigten Gesichtspunkten zu sehen haben. Die nächste einschneidende Verfassungsänderung, die hinter den Kulissen vorbe-
reitet wird, betrifft das sogenannte „Notstands-Gesetz“. Als der Bundestag zum erstenmal darüber debattierte, nannte es der SPD-Abgeordnete Dr. Arndt ein „Gesetz zur Vorbeugung gegen Demo-
kratie“. Inzwischen hat auch die SPD die Notwendigkeit eines soIchen Gesetzes für das Fortbeste-
hen des kapitalistischen Systems „einsehen“ müssen und ist „unter gewissen Bedingungen“ bereit, ihm zuzustimmen.

Wie wenig Kritik die den Staat beherrschenden Kräfte in dem gegenwärtigen Stadium noch vertra-
gen können, ist uns in den letzten Wochen besonders drastisch vor Augen geführt worden, wenn selbst gutwillige Verteidiger der bundesrepublikanischen Verhältnisse aus Rundfunk- und Par-
teiämtern gedrängt wurden. Enttäuscht über den Zwangs-Austritt ihres Chefs Dr. Gerd Bucerius aus der CDU schreibt Gräfin Dönhoff, die politische Redakteurin der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT (nach wie vor ein der CDU nahestehendes Blatt): „Leute, die es sich herausnehmen, eine abweichende Meinung zu vertreten, werden bei uns nicht als Korrektiv begrüßt, sondern als Verrä-
ter gebrandmarkt. Grund: Politik ist bei uns eine Sache des Glaubens, sie wird daher nach theolo-
gischen Kategorien beurteilt. Und eben darum werden die Häretiker ausgemerzt.“ Und der be-
kannte tunesische Publizist Moncef Barrat sagte kürzlich bei einem Besuch in unserer Redaktion: „Die herrschende Klasse in der freien Welt kommt mir immer mehr vor wie ein alterndes Weib, das sich kratzend, beißend, spuckend und mit allen möglichen Intrigen dagegen wehrt, abtreten zu müssen.“

Und so bekennt auch Dr. Adenauer heute, sich nicht mehr in jeder Beziehung an das alte Grundge-
setz gebunden fühlen zu müssen, da es uns „von den Siegermächten aufgezwungen“ worden sei. Es ist derselbe Dr. Adenauer, der am 24. November 1947 in der 17. Plenarsitzung des Zonenbeirats für die Britische Besatzungszone gesagt hat: „Es gibt nicht nur eine Diktatur des Einzelnen, es kann auch eine Diktatur einer parlamentarischen Mehrheit geben …“

Nicht Herr im eigenen Haus: das Volk

Wir haben gefragt: wie demokratisch ist unsere Demokratie? Die Antwort hat uns auf seine Weise kürzlich der Innenminister von Nordrhein-Westfalen erteilt. Dr. Dufhues, den dieselben Kräfte in der CDU auf den Platz hinter Konrad Adenauer gehievt haben, die für das Ausscheiden des nicht linientreuen Dr. Bucerius sorgten, rief auf einer Veranstaltung in Münster den Studenten zu: „Der demokratische Staat steht und fällt mit sich selbst bildenden Eliten, oder er geht an der Herrschaft der Minderwertigen zugrunde.“

Eines steht fest: zu den „sich selbst bildenden Eliten“ zählen wir alle nicht. Die „Minderwertigen“ aber (wo haben wir den Ausdruck schon einmal gehört?), das sind für Dr. Dufhues und Interessen-
genossen alle Menschen, die sich ihrem Diktat nicht ohne Murren unterwerfen wollen. Wie sagte doch Dr. Agartz? „Nicht die Demokratie, sondern das Bekenntnis zum Kapitalismus ist entschei-
dend.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Rolf Gramke


Contra 16/1962, 126 ff.

Überraschung

Jahr: 1962
Bereich: Kapitalismus