Materialien 1961

Wie frei ist unsere Freiheit?

„Freiheit ist das, was die jenseits des Eisernen Vorhangs nicht haben und was wir … haben.“
Friedrich Sieburg, „Freiheit, die wir meinen“

Wir Bundesbürger leben in der Freiheit: wir dürfen unsere Meinung frei äußern; wir dürfen uns informieren, wo wir wollen; wir dürfen frei wählen; wir dürfen Wohnung und Arbeitsplatz frei wählen; wir dürfen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern; wir haben die Freizügigkeit, die Freiheit der Wissenschaften, die Glaubensfreiheit, die Freiheit der Kunst, die Bildungsfreiheit und eine freie Wirtschaftsordnung; und wir haben die Freiheit, Geld zu verdienen und zu kaufen, was und wo wir wollen.

Der neuen Bundesregierung sind diese Freiheiten so wichtig, dass sie in ihrer ersten Regierungserklärung ankündigt, zur Erhaltung der Freiheit diese Freiheiten einschränken zu müssen. Es heißt unter anderem: „Viele der Maßnahmen, die die Bundesregierung treffen muss, werden tief in das Leben jedes einzelnen Deutschen eingreifen.“

Nun ist allerdings das Institut für Demoskopie in Allensbach, das für die CDU in der Bevölkerung regelmäßig Meinungsumfragen durchführt, zu dem überraschenden Ergebnis gekommen, dass „trotz des starken Wunsches nach Wiedervereinigung nur zwei Prozent bereit sind, für die Freiheit ihr Leben einzusetzen“. Dagegen sollen 88 Prozent der Bundesbürger über Farah, Soraya und Prinzessin Margaret Bescheid wissen.

Was meint der Einzelne?

„Wenn ich am Ersten meine Miete und meinen Wechsel fürs Auto bezahlt habe, auch den Kühlschrank nicht zu vergessen, fühle ich mich frei“, sagte uns Herr Berger, den wir unter anderen Bundesbürgern nach seiner Meinung über unser Thema gefragt haben. „Aber das dauert nicht lange, denn dann muss ich schon wieder rechnen.“ Herr Berger ist 45 Jahre alt und kaufmännischer Angestellter. Er ist verheiratet, hat zwei reizende Kinder und wohnt mit seiner Familie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung.

Seine Antwort haben wir in ähnlicher Form immer wieder gehört. Sie scheint uns typisch zu sein für den größten Teil der Bundesbürger. Liest man die Statistiken, wie sie von Zeit zu Zeit von den verschiedenen Instituten herausgegeben werden, so erfährt man beispielsweise folgendes: „Im Januar 1960 verdienten nur 7 Prozent der Bundesbürger mehr als 800 Mark im Monat, dagegen blieben 42 Prozent unter 400 Mark.“

Diese Zahlen sind einem Bericht zu entnehmen, den der Leiter des schon erwähnten Allensbacher Instituts, Erich Peter Neumann, herausgegeben hat. „Die meisten müssen also rechnen, wenn sie auskommen wollen“, heißt es in dem Bericht. 10 bis 15 Prozent der Bundesbürger könnten noch gelegentlich aus Geldsorgen nicht einschlafen. Für weitere 50 Prozent stehe das Geld im Mittelpunkt des Denkens und Trachtens, „einfach deshalb, weil sie zu wenig davon haben“.

Als wir Herrn Berger fragten, warum er nicht auf diese Anschaffungen verzichte, die ihm doch soviel Kopfschmerzen bereiten, zuckte er resigniert mit den Achseln: „Was hätte man dann noch vom Leben, wenn man sich nichts mehr anschaffen kann. Schließlich haben wir doch genug Elendsjahre hinter uns!“

Die Freiheit kam mit den Elendsjahren

Hier sind sie wieder, die Elendsjahre, die den meisten von uns noch immer in den Knochen zu sitzen scheinen. Vielleicht müssen wir von ihnen ausgehen, wenn wir dem Problem unserer Freiheit auf den Grund kommen wollen. Sehen wir einmal ab von der großen Wirtschaftskrise der Weimarer Republik, die uns den Nationalsozialismus und seinen Krieg bescherte: 1945 ging die große Mehrheit des deutschen Volkes aus dem Zusammenbruch mit der Hoffnung auf eine Gesellschaftsordnung hervor, die Krieg und Terror, Hunger und Unfreiheit ausschließen würde. Aber der Kampf um die nackte Existenz war zunächst wichtiger. Die wenigen Wertgegenstände, die man über die Kriegsjahre hinweg gerettet hat, sind schnell gegen Naturalien eingetauscht, die viel zu rasch aufgezehrt sind. Die arbeitende Bevölkerung baut Betriebe auf und produziert Waren, die sie nicht zu Gesicht bekommt. Der Lohn reicht gerade für eine Schachtel Zigaretten auf dem Schwarzen Markt.

Die produzierten Waren aber sind nach der Währungsreform ganz plötzlich da. Während die arbeitende Bevölkerung in der neuen Währung ein Kopfgeld von nur 40 Mark ausgezahlt bekommt, steht die Wirtschaft mit ihrer ganzen Kapazität wieder bereit. Bevor es einen Staat, eine neue Verfassung gibt, ist das alte Oben und Unten bereits wiederhergestellt. In seinem „Handbuch der Finanzwissenschaft“ schreibt Professor Rudolf Goldscheid: „Schon im Krieg bereitet sich die durchaus unsoziale Schuldenverkettung vor, die jetzt sämtliche Völker, Sieger wie Besiegte, in allem und jedem fesselt und lähmt, ja, es ist in erster Linie die Tatsache, dass die Besitzenden die Kosten des Krieges, wie die aller seiner zerstörenden Nachwirkungen, auf die Besitzlosen überwälzen wollen …“

Diese Besitzlosen aber kommen auch nach der Währungsreform nicht zum Nachdenken. Für sie ist das alles wie ein Wunder; und so kommt auch bald, mit Vorbedacht in die Debatte geworfen, das Schlagwort vom „Deutschen Wirtschaftswunder“ auf. Sie kaufen, was sie kaufen können; und was sie noch nicht kaufen können, das wollen sie erarbeiten. Überstunden werden gemacht, immer mehr Frauen werden in den Arbeitsprozess eingereiht; und die Produktion wächst. Der Export steigt, weil die Wirtschaft durch die niedrigen Löhne günstig anbieten kann. Gleichzeitig aber wird der Absatz im Inland forciert, indem man den Menschen Waren verkauft, die sie erst später bezahlen müssen.

Kaufe jetzt – zahl später

Mit den Warenkrediten kommen gleichzeitig die modernen Methoden der Werbung. Der Mensch wird zum Konsumenten gedrillt. Raffiniert ausgeklügelte psychologische Tests zeigen den Unternehmern die geheimen Wünsche und Bedürfnisse der Menschen in der Nachkriegsgesellschaft. Der Mensch wird an die Kette des Konsums gelegt, damit der Absatz auch des nicht Lebensnotwendigen, ja des geradezu Überflüssigen, und damit die Gewinne der Unternehmer, gesichert sind. Die Angst vor dem Elend wird ausgebeutet. So schreibt der amerikanische Soziologe Vance Packard in seinem Buch „Die geheimen Verführer – Der Griff nach dem Unbewussten in jedermann“: „Begreifend, dass man unser Unbewusstes gewinnen muss, begannen die Hersteller sorgsam jenen weiteren Bereich zu erkunden, der unsere geheimen Nöte und Zweifel umschließt. Sie kamen zu dem Schluss, dass der Absatz von Erzeugnissen im Werte von Milliarden in hohem Maße von dem erfolgreichen Manipulieren oder Beschwichtigen unserer Schuldgefühle, Befürchtungen, Ängste, Feindseligkeiten, Einsamkeitsgefühle und inneren Spannungen abhänge.“

Da wir, wie wohl jeder Leser verstehen wird, uns nicht der Gefahr aussetzen wollen, kostspielige Verleumdungsklagen westdeutscher Markenartikelfirmen gegen uns heraufzubeschwören, möchten wir uns auf einige der Beispiele beschränken, die Vance Packard in seinem Buch aus der amerikanischen Praxis anbietet. Sie sind ohnehin sprechend genug und jeder Leser wird sie ohne Schwierigkeiten auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik anwenden können.

Das Unbewusste wird ausgebeutet

Die Werbeagentur Weiss & Geller, schreibt Packard, misstraute den üblichen Gründen, weIche die Leute für den Kauf von Kühlschränken angaben: „In vielen Fällen stellte man fest, dass diese Froster – rechnete man die Anschaffungskosten, die zusätzlichen Summen auf der monatlichen Stromrechnung und den Betrag für die schließlich doch weggeworfenen Überbleibsel zusammen – wirtschaftlich sinnlos waren. Alles in allem genommen erwiesen sich die Esswaren aus dem Froster tatsächlich oft als recht kostspielig.“ Bei einer psychologischen Untersuchung fand man heraus, dass der Kühlschrank „in breiten Kreisen nach dem zweiten Weltkrieg beliebt wurde, als viele Familien nicht allein der Ungewissheit der Ernährung, sondern so ziemlich aller Dinge wegen voll innerer Angst lebten. Diese Menschen gedachten gern der früheren Zeiten voll Sicherheit und Geborgenheit, was sie unbewusst in ihre Kindheit zurückversetzte, wo es die Mutter gab, die sie niemals enttäuschte, und wo Liebe eng mit Nahrungsspenden verknüpft war.“ Die Forscher folgerten: „Für viele Menschen bedeutet der Froster die Gewähr, dass immer Nahrung im Hause ist, und Nahrung im Haus bedeutet Sicherheit, Wärme und Geborgenheit.“ Sie stellten fest, dass Leute, die sich unsicher fühlen, immer mehr Lebensmittel im Hause brauchen, als sie essen können. Die Kühlschrank-Hersteller beschlossen, diesen „Hamster-Faktor“ bei ihrer Werbung in Zukunft zu berücksichtigen.

Zynisch meint der Werbechef einer Chicagoer Firma: „Wir können diesen Leuten Kühlschränke verkaufen. Wenn sie keinen Platz dafür haben, werden sie sie auf die Straßenbalkone stellen.“

Eine amerikanische Grußkartenfirma im Mittelwesten fand heraus, dass das Grundmotiv für die Versendung von Grußkarten das Alleinsein ist. Sie entwickelte daraufhin Karten, auf denen zum Beispiel ein kahler, knorriger Baum zu sehen ist, der einsam auf einem windumwehten, verschneiten Hügel steht. Als die Firma mit Hilfe der Freudschen Analyse auch noch herausfand, dass mit Sexualsymbolik (kunstvolle Monde, Kerzen, Ovale und Kreise) beladene Grußkarten geheime Wünsche besonders ansprechen, konnte sie ihre Produktion um ein Vielfaches steigern.

Als die Textilindustrie entdeckte, dass die Menschen durch den reißerischen Sex in der Werbung allmählich abgestumpft waren und dieses Mittel der Verführung nicht mehr zog, entwickelte sie verfeinerte, aber desto wirksamere Methoden. So startete eine Firma die raffinierte Werbekampagne „Mir träumte, ich rief mit meinem ,Maidenform-Büstenhalter’ eine Verkehrsstockung hervor“: „Die Situationen wechselten, aber immer bewegte sich das bis auf den nur mit einem Büstenhalter bedeckten Oberkörper vollkommen bekleidete Mädchen unter normal angezogenen Leuten. Da sie ja träume, so argumentierte man, sei ihre unzulängliche Bekleidung zulässig.“ Diese Anzeige galt als besonders geschickt, weil der Wunsch, nackt, aber spärlich bekleidet in einer Menschenmenge zu erscheinen, „bei den meisten Leuten bestehe“, und weil sie „ein ausgezeichnetes Beispiel der Wunscherfüllung darstelle“. Die Werbung hatte jedenfalls einen soIchen Erfolg, dass Maidenform dem Publikum für darstellbare Ideen zu Traumsituationen Preise bis zu 10.000 Dollar bieten konnte.

Sehnsucht nach Liebe

Sehr schnell hat sich die Industrie auch den Mangel an Zärtlichkeit, der durch den fast unerträglichen Existenzkampf in unserer Gesellschaft hervorgerufen wird, und damit das Bedürfnis danach zunutze zu machen gewusst. Bis dahin hatte man beispielsweise für Haarpflegemittel so geworben, „dass irgendein Bursche seine Nase in das Haar der Dame steckte“. Aufgrund der neuen Erkenntnisse verschwindet die Männernase völlig aus dem Bild. Jetzt legt man den Nachdruck auf Themen, welche die Frau ihrer Weiblichkeit versichern. Die kommerziellen Tiefenpsychologen fanden nämlich heraus, „dass die Frau, wenn es um Beifallssymbole geht, in erster Linie sich selbst beifällig betrachten können und ihrer vollen Weiblichkeit sicher sein möchte; in zweiter Linie wünscht sie den Beifall anderer Frauen. Den Beifall des Mannes – wie er in der Werbesymbolik durch den bewundernden Blick eines schwärmerisch dreinschauenden männlichen Wesens verkörpert wird – bewerte man als das von diesen dreien am schwächsten wirkende Mittel, Damenwäsche zu verkaufen.“ Man entwickelte nun eine Werbestrategie für Damenwäsche, die einfach darin besteht, eine Frau zu zeigen, die sich vor einem bis zum Boden reichenden Spiegel in dieser Wäsche bewundert und alle Frauen auffordert, es genauso zu machen. „Eine derartige Werbung hat natürlich einen starken Beigeschmack von Narzissmus. Sie erwies sich aber als kräftiger Verkaufsförderer, und innerhalb von zwei Jahren überstieg der Absatz der betreffenden Wäsche den allgemeinen Trend dieser Industrie bei weitem.“

Aber auch das ungestillte Liebesverlangen des Mannes wird in die Werbung eingeplant. Die Autohändler haben herausgefunden, dass sie mehr Männer in ihre Ausstellungsräume locken können, wenn sie Kabrioletts ins Fenster stellen: die Psychologen im Dienste der Autoindustrie ergründeten nämlich, „dass Männer das Kabriolett als eine symbolische mögliche Geliebte ansehen. Kabrioletts rufen in ihnen den Traum von Jugend, Romantik und Abenteuer hervor, genauso wie sie wohl von einer Geliebten träumen mögen. Der Mann weiß, dass er seinen Wunsch nach einer Geliebten nicht befriedigen wird, aber es ist angenehm, davon zu träumen. Dieses Wunsch-Träumen zieht den Mann in den Autoverkaufsraum. Einmal dort, wählt er schließlich eine Limousine, genauso wie er einst ein schlichtes Mädchen geheiratet hat, von dem er wusste, dass es eine gute Ehefrau und Mutter werden würde.“ Symbolisch ausgedrückt, heiratet er also die Limousine. Die Limousine sei zweckmäßig, praktisch und sicher. Trotzdem müsse das Kabriolett stets den Blickfang bilden, um „den Männern die Hoffnung auf ein Abenteuer mit einer Geliebten ein bisschen näherzurücken“ und sie dadurch zum Kauf zu verführen. In Amerika ist man inzwischen noch einen Schritt weitergegangen und hat einen Wagentyp entwickelt, in dem Ehefrau und Geliebte vereinigt sein sollen – „alles, was wir bei einer Ehefrau suchen, plus Liebe, Jugend und Abenteuer, die wir uns bei einer Geliebten wünschen“. Er wurde sehr bald der erfolgreichste neue Wagentyp, der seit Jahren auf dem amerikanischen Markt erschienen ist …

Und noch ein Beispiel: „Die Werbeagentur McCann-Erickson führte für die Esso eine Untersuchung für die Kaufmotive der Verbraucher durch, um wirksamer neue Esso-Freunde zu werben. Sie entdeckte den beträchtlichen Zauber, der in dem Worte ,Kraft’ steckt. Nach vielen Tiefeninterviews mit Benzinkäufern vollzog die Agentur eine Werbestrategie, die unentwegt mit zwei Wörtern in Großbuchstaben trommelte: TOTALE KRAFT.“

Illusion der Vernünftigkeit

Welch ergiebiges Ausbeutungsfeld für die Autoindustrie damit erschlossen worden ist, zeigt ein Erfolg der Autofabrikanten, den Verkauf durch Autos mit immer höheren PS zu sichern. Nach einer psychologischen Sondierung kam eine amerikanische Werbeagentur zu dem Ergebnis: der Entschluss, alle zwei Jahre einen funkelnagelneuen und stärkeren Wagen zu kaufen, erhält einen wichtigen Anstoß durch die Tatsache, dass er dem Käufer „ein erneutes Kraftbewusstsein verleiht und ihn in seiner Männlichkeit bestätigt, ein Gefühlsbedürfnis, das sein alter Wagen nicht mehr befriedigt“.

Nachdem man den systematisch geförderten Minderwertigkeitskomplex vieler Männer (wir werden auf seine Ursachen noch näher eingehen) auf diese Weise für den Kaufzwang ausgenutzt hat, kann es jedoch nicht ausbleiben, dass man damit einen neuen Komplex erzeugt: den Schuldkomplex. Er scheint sich zunächst gegen die Manipulierer zu richten; aber sie verstehen es, auch ihn für ihre Zwecke einzuspannen: „Eine Erschwerung liegt für den PS-Reiz eines kraftvollen, neuen Wagens nach den Feststellungen des Institutes für Motivational Research darin, dass der Käufer sich häufig schuldig fühlt, weil er sich Motorkraft leistet, die man als unnötig ansehen könnte. Der Käufer braucht eine vernunftmäßige Begründung seiner geheimen Wünsche. Als gute Lösung schlug das Institut vor, zwar mit den PS zu locken, jedoch zu betonen, dass diese ganze wunderbare geballte Kraft ,zusätzliche Sicherheit im Notfall’ bedeutet. Das verschafft ihm, wie ein Angestellter des Instituts erläutert, jene ,Illusion der Vernünftigkeit’, die der Käufer braucht.“

Der Einzelne wird präpariert

Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Sie zeigen, wie die Wenigen selbst die Wissenschaften in ihre Dienste einzuspannen wissen, um die Vielen, die über den harten Existenzkampf nicht zum Verständnis ihrer selbst kommen, ihrer Macht zu unterwerfen. Lassen Sie uns unsere vielgerühmte Freiheit zum besseren Verständnis jetzt noch von einer anderen Seite anleuchten. Wir haben gesehen, wie der Mensch aus Krieg und Not kommend, ohne die Möglichkeit des Nachdenkens – wiederum die Verhältnisse aufbauen hilft, deren Opfer er wird. Die Folge ist die Vereinzelung, in der er sich und die Welt nicht mehr begreift. Die Individualpsychologin Alice Rühle-Gerstel schreibt in ihrem Buch „Der Weg zum Wir“ dazu folgendes: „Die Geltungsposition eines jeden ist gefährdet durch die Geltungsposition seines Nebenmenschen. Das vertieft die individuelle Unsicherheit. Der Geltungsraum wird immer kleiner, da immer mehr sich hinein teilen wollen. Das Vergleichen und Messen beginnt. Innerhalb der schon gespaltenen Gesellschaft treten Stärkere und Schwächere auf. Die Mehrgeltung muss erreicht werden als Ausweg vor der Mindergeltung. Analog zu der sozialen Struktur der Besitzenden und Besitzlosen teilt sich die seelische Struktur in ein Oben und Unten. Es kommt nicht mehr darauf an, zu gelten, sondern mehr zu gelten, da man nicht weniger gelten will. Die Geltung wird eine Frage der Überlegenheit. Da aber keiner der Unterlegene sein will, sucht er seine Überlegenheit kämpfend zu erringen. Die Prämie des erfolgreichen Geltungskampfes ist der Besitz der Macht. Macht – ursprünglich nur Begleiterscheinung einer besonders erfolgreichen Leistung im Dienste der allgemeinen Sicherung – wird selbständiges Ziel, in dem die individuelle Geltung und Überlegenheit sich bestätigen will. Der Machtmensch entwickelt sich aus dem Geltungsmenschen, das Individuum wird zur ,Persönlichkeit’. Da aber Macht als Gegenpart Ohnmacht bedingt, und Ohnmacht, als Zeichen der Unsicherheit, nicht freiwillig auf sich genommen wird, treten alle Kräfte der Seele nach und nach in den Kampf ein, und immer weniger bleibt für die Gemeinschaftsbindung. Das Gemeinschaftsgefühl wird an den Rand der Seele gedrängt und stirbt allmählich ab. Solange noch überindividuelle Bindungen, wie Kirche, Volk, Stand, Staat, die Individuen notdürftig zusammenhalten, wird der Bruch nicht so offenbar. Die Neuzeit, in der die Bande des feudalen Systems mit seinen religiösen und ständischen Bindungen gesprengt werden, präsentiert sich als das Zeitalter reinster Individualisiertheit, in dem es nur noch Einzelne gibt. Die Forderung der Selbstverantwortung tritt an jeden als grässliche Gefahr heran. Die gegebenen Bedingungen, anstatt die Lösung der Aufgabe zu begünstigen, tragen im Gegenteil zu ihrer Erschwerung bei. Das kapitalistische Zeitalter mit seiner Staatsform der formalen Demokratie hat die individuelle Vereinzelung auf die Spitze getrieben. Jedes Individuum fühlt sich als verhinderte Persönlichkeit und setzt seine Lebensrechnung auf der Basis eines Minderwertigkeitsgefühls an. Die primäre Unsicherheit hat sich durch das Aufsichselbstgestelltsein so sehr vertieft, dass die eigenen Kräfte zur Erlangung der Geltung nicht mehr auszulangen scheinen. Es handelt sich also nicht mehr um Geltung als Kompensation individueller Unsicherheit, sondern um Mehrgeltung, Überlegenheit, Macht, Überkompensation des Sichminderwertigfühlens. Der Machtmensch wird zum Zeittypus.“

Der aber solcherart vereinzelte und von seinen Minderwertigkeitsgefühlen getriebene Mensch liefert sich aus, ob er will oder nicht: er wird zum berechenbaren Faktor wirtschaftlicher und politischer Interessen. Der amerikanische Universitätsprofessor Kenneth Boulding drückte das so aus: „Eine Welt der unsichtbaren Diktatur ist denkbar, die sich noch der demokratischen Regierungsformen bedient.“

Nach allem, was wir in unserer Untersuchung bisher festgestellt haben, ist diese Welt nicht nur denkbar.

Den Wähler „aufs Korn“ nehmen

Wie diese geheime Diktatur funktioniert, lässt sich an beliebig herausgegriffenen Beispielen aufzeigen. Die Meinungskneter und ihre Hintermänner sind sich ihrer Sache nämlich so sicher, dass sie über das System ihrer Herrschaft zuweilen ganz unverfroren plaudern. So liest man zum Beispiel in einer „harmlosen“ Buchbesprechung der WELT (über das Buch: „Die befragte Nation“ von Gerhard Schmidtchen): „Schmidtchen ist Mitarbeiter des Allensbacher Instituts für Demoskopie, das zu Zeiten im Auftrage der Bundesregierung arbeitet. 1953 noch waren die Christlichen Demokraten die einzige Partei, die sich vor den Wahlen auf dem Wege der Meinungsbefragung sorgsam über ihre Chancen und die Wünsche der Bevölkerung orientierte.“ Wie man hinzufügen muss: mit den Millionen der Industrie! „Seitdem machte das erfolgreiche Beispiel Schule, und heute lauert die Meinungsforschung mit einem riesigen Teleskop über uns. Allerlei kann der Verfasser mit exaktem Nachweis auf das Konto der Meinungsforschung bringen: Erst sie enthüllte, wie weit verbreitet die politische Unkenntnis und das Desinteresse an unserem Staatswesen tatsächlich waren; wie wenig Sympathien den Parteien entgegenschlugen; wie oft die Sprache der Politiker von der Bevölkerung nicht mehr verstanden wird; wie Bundestag und Bundesregierung zu einem Begriff verschmelzen und als Regierung alles erscheint, was ,oben’ ist.“ Die Regierung habe auf diesem Wege viele wichtige „Anregungen“ erhalten: „Als der Wehrbeitrag so plötzlich beschlossen wurde, ergab die Umfrageforschung, dass die psychologische Vorbereitung der Bevölkerung offensichtlich ungenügend war. Man holte sie schleunigst nach. Konfessionsschulen, so gruben die Meinungsforscher weiter aus, waren kein Gesprächsstoff, mit dem sich Wähler gewinnen ließen. Das änderte zwar nicht die Ansicht der Christlichen Demokraten zu diesem Punkt, aber man stellte ihn auch nicht mehr besonders heraus …“

Und unter Überschriften wie „Die CDU nimmt den Wähler aufs Korn“ konnte man schon lange vor der letzten Bundestagswahl Dinge lesen wie: „Der Slogan ,Keine Experimente’ sei zwar immer noch gut, meint Kraske (der Wahlkampfstratege der CDU), treffe aber doch nicht mehr ganz die Psyche der Wähler, die von allen Parteien schon durchleuchtet und seziert wurde, um herauszufinden, worauf die Wähler reagieren.“ (Süddeutsche Zeitung, 28. Oktober 1960)

Bekanntlich sind die modernen Methoden zur Beherrschung des Volkes ohne offene Anwendung von Gewalt, die das Ergebnis unserer der Form nach immer noch demokratischen Wahlen bereits im voraus festlegen, im freien Amerika entwickelt worden. Es ist deshalb vielleicht ganz nützlich, auch in diesem Zusammenhang einige Fakten heranzuziehen, die der bereits mehrfach zitierte Vance Packard uns liefert. So berichtet er beispielsweise über eine kalifornische Presseagentur, die siebzig erfolgreiche Wahlkampagnen für konservative Politiker durchgeführt hatte. Als ein Reporter sie fragte, ob sie den gleichen Erfolg gehabt hätte, wenn sie für die Gegenseite gearbeitet haben würde, antwortete die Leiterin dieser Presseagentur: „Ich bin überzeugt, wir hätten fast jede gewonnen …“ Bei den entsprechenden Geldern, wie man natürlich hinzufügen muss.

Was den wissenschaftlich arbeitenden Volksverdummern anfangs manchmal noch Sorge bereitete, war einzig die Tatsache, dass – wie der Propagandaplaner Whitaker geklagt haben soll – ein Kandidat nicht so einfach zu verkaufen sei wie ein Wagen, denn ein Auto sei stumm, aber „ein Kandidat kann einem mitunter eine Wahl kaputt reden, obwohl man im Hauptquartier des Wahlfeldzuges alles für ihn tut, was man kann“. Inzwischen hat man auch dieses Problem gelöst: die Kandidaten werden selbst einem psychologischen Test unterworfen, um ihre Werbewirksamkeit auf die Massen zu garantieren. Und die politischen Veranstaltungen werden immer sorgfältiger inszeniert: Für ihr großes Treffen in Philadelphia, auf dem Mr. Eisenhower (im amerikanischen Wahlkampf von 1956) besonders herausgestellt werden sollte, arbeiteten die Republikaner ein 32 Seiten starkes „Drehbuch mit Zeitplan“ aus, das auch die Verteilung von „würdigen Beifallsspendern“ unter den Zuhörern vorsah. Ein Verfahren, das von den Unterbewusstseinsspezialisten im Dienste der herrschenden Parteien in der Bundesrepublik inzwischen mit großer Befriedigung übernommen wurde.

Die perfekte Verführung

Um das Ausmaß der Verführbarkeit auch dem bis jetzt noch zweifelnden Leser vor Augen zu führen, genügt ein einziges Beispiel. Die Verführer begnügen sich nämlich nicht damit, zu verführen; sie messen sogar die Verhaltensweise des in der Verführung Stehenden, um ihr raffiniertes System immer mehr zu verfeinern. Packard berichtet in seinem Buch über Methoden, die in Selbstbedienungsläden angewandt werden. Da eine Frau im allgemeinen, wie man errechnete, für jede Reihe im Selbstbedienungsgeschäft genau zwanzig Sekunden braucht, „wenn sie nicht herumtrödelt“, müsse eine gutgestaltete Verpackung die Frau hypnotisieren „wie das vor ihren Augen auf- und niedertanzende Licht einer Taschenlampe“. Manche Farben, wie rot und gelb, unterstützen soIche hypnotischen Bestrebungen. Ein Motivanalytiker namens Vicary hat nun den Verlauf dieser Hypnose anhand des menschlichen Lidschlags mit Hilfe einer versteckten Kamera exakt untersucht. Der Lidschlag einer solchen in „hypnodialer Trance“ befindlichen Frau „fiel immer mehr ab bis zu der weit unter normal liegenden Häufigkeit von vierzehn Lidschlägen je Minute … Interessanterweise waren viele Frauen derart in Trance, dass sie an Nachbarn und alten Bekannten vorbeigingen, ohne sie zu bemerken oder zu grüßen. Manche hatten einen gläsern starren Blick. Sie waren, während sie durch das Geschäft gingen, so entrückt, dass sie blicklos gegen Kästen rannten und nicht einmal die Kamera bemerkten, obwohl sie manchmal im Abstand von weniger als einem halben Meter an der Stelle vorübergingen, wo die versteckte Kamera surrte. Wenn die Frauen ihre Wägelchen gefüllt (oder sich sattgekauft) hatten und zur Kasse gingen, steigerte sich der Lidschlag bis zu fünfundzwanzigmal je Minute. Das ist noch etwas unter normal. Dann aber, beim Klingeln der Registrierkasse und beim Klang der Stimme der Angestellten, die um den Betrag bat, stieg die Lidschlaghäufigkeit über normal bis zu dem ungewöhnlich hohen Satz von fünfundvierzig Lidschlägen je Minute. In vielen Fällen stellte sich heraus, dass die Frauen nicht genug Geld besaßen, um all die hübschen Dinge zu bezahlen, die sie in das Wägelchen gelegt hatten.“

Auf das Gebiet der Politik übertragen, sieht das etwa so aus: die Republikanische Partei Eisenhowers fand vor einem ihrer Wahlkämpfe heraus, dass halbstündige politische Reden, „ganz gleich, wie sorgfältig sie mit visuellem Beiwerk und Filmschlagern aufgemacht“ waren, die Leute langweilten. Sie stellte sich auf „Kurz-und-bündig-Reden“ von fünf Minuten Dauer um, denn „man kann in fünf Minuten wirklich eine ganze Menge sagen“. Sie kauften für diese Fünf-Minuten-Reden als den bestmöglichen Zeitraum die letzten fünf Minuten der großen Unterhaltungssendungen: das verschaffte ihnen ein im wesentlichen aufmerksames Publikum, weil die meisten Leute es für zu spät halten würden, noch ein anderes Programm einzuschalten. Der Schriftsteller John Steinbeck schrieb über die Aufnahmebereitschaft eines solchen Publikums, es sei durch einen „dicken Komödianten“ belustigt und schon halb hypnotisiert worden. Die Zeit nach einem derartigen Programm, sagte er, „ist sehr wertvoll, denn hier haben sie Millionen Menschen in einem willen- und hilflosen Zustand, unfähig, einer Suggestion Widerstand zu leisten …“

So lassen sich auch die Worte eines New Yorker Werbeleiters verstehen, der tiefenpsychologische Methoden benutzt. Er meinte, die Werbeleute seien durchaus in der Lage, „mit auf die unentschlossene oder gleichgültige Masse zielenden Appellen bei so gut wie jeder Wahl entscheidende Wählerstimmen hereinzuholen“. Während der Wahlkampagne 1952 führte seine Agentur eine Testuntersuchung bei den „Ich-weiß-nicht-Wählern“ durch, um des Gefühlsmoments habhaft zu werden, das der Einstellung dieser Wähler zugrunde lag; „hierfür benutzte man die gleichen Projektionstechniken wie für die Ermittlung von Wesensverwandtschaften von Marken-Leitbildern“. Nach der Wahl rief die Agentur die befragten Leute an (alle waren ausgesprochen unentschlossen gewesen) und stellte fest, dass ihre Vorhersagen, wie jeder einzelne wählen würde, zu 97 Prozent richtig gewesen waren.

„Für die Seele ist die Kirche da“

Was wird nun aus dem Menschen, der von den Mächtigen zu einer bloßen Zahl in ihrer Rechnung degradiert wird? „Jeder zehnte Einwohner der Bundesrepublik leidet nach Ansicht der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft an einer schweren Neurose. 25 bis 30 Prozent der Patienten in den Wartezimmern der praktischen Ärzte und 30 bis 40 Prozent der Patienten der Internisten haben seelisch bedingte Krankheiten … wurde gestern auf einem internationalen Kongress der Gesellschaft in Düsseldorf mitgeteilt. Das Krankheitsbild dieser Patienten reiche von leichten Depressionen bis zu Herz- und Kreislaufstörungen sowie Asthma und Magenleiden. Grund für die Zunahme der Neurosen ist nach Meinung der Psychoanalytiker der Mangel an Geborgenheit, Weltangst und das Fehlen von Bindungen …“ (Westdeutsches Tageblatt, 8. September 1961)

Was heißt das: Neurose? Dazu noch einmal die Psychologin Alice Rühle-Gerstel: „Der Mut zur Überwindung der Hemmnisse wird angefressen von der Angst, sie nicht zu überwinden. Mit der Verengung des Kampfbereichs wächst das Gedränge, das Unbehagen, die Angst, die Entmutigung. Da wird das Ziel fetischistisch verselbständigt und unpersönlich verallgemeinert. Das Gemeinschaftsgefühl wird in die Gewissensbisse schlafloser Nächte verbannt, Tag und Jahr ist ausgefüllt von der Jagd um das Gefühl der Macht. Und bedroht durch die allseitige Rivalenschaft, gequält von immer schmerzlicheren Unsicherheitsgefühlen, sinnt der Mensch auf eine neue Kompensationsform: er findet sie in der Neurose. Die Neurose, sie ist die gegebene Kompensationsform des ganz entmutigten Menschen. Zuerst schlagen sich Einzelne davon, während andere die wachsende Angst durch lauteres Geschrei zu übertönen suchen. Es werden immer mehr, und im gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Menschheit durchneurotisiert.“

Die Wissenschaft verfügt heute durchaus über Erkenntnisse und Methoden, die Menschen von ihren psychischen Störungen zu heilen. Das aber würde bedeuten, sie über ihre Situation aufzuklären, und daran sind die Oberen begreiflicherweise nicht interessiert, denn sie leben vom Unten. Den Wissenschaftlern, die in den Dienst des Menschen treten wollen, werden mit Berechnung die nötigen Gelder vorenthalten. So musste sich ein Psychotherapeut, mit dem wir sprachen, kürzlich von einem Krankenkassendirektor sagen lassen: „Für Psychotherapie zahlen wir nicht. Für die Seele ist die Kirche da.“

Statt für die Heilung werden riesige Summen für weitere Zerstörung ausgegeben. So lesen wir bei Packard: „Unter den von den Marktforschern angewendeten Bildertests ist der Szondi-Test einer der erschreckendsten. Er ist, wie mir der Marktforschungsdirektor einer Werbeagentur erzählte, ,eine prima Sache’. Er wendet ihn bei Whiskytrinkern an. Der Test unterstellt, dass wir alle ein bisschen verrückt sind. Man zeigt der Testperson eine Reihe Karten mit Bildern von Leuten und bittet sie, die Person herauszusuchen, neben der sie auf einer Eisenbahnfahrt am liebsten und die Person, neben der sie höchst ungern sitzen würde. Man verschweigt, dass alle auf diesen Karten abgebildeten Personen gründlich geistig zerrüttet sind. Jede leidet schwer an einer von acht psychiatrischen Störungen (ist homosexuell, sadistisch, epileptisch, katatonisch, paranoid, hysterisch, depressiv oder manisch). Es wird als erwiesen angenommen, dass wir uns zu einigen stärker als zu anderen hingezogen fühlen, und dass wir beim Wählen eines Reisegefährten die Person wählen, die unter dem gleichen Gefühlszustand akut leidet, von dem wir nur leichthin betroffen sind.“

Sehnsucht nach dem Dritten Reich

Die Zerstörung erfasst den ganzen Menschen. Zurückgeworfen auf sich selbst, erlebt er die ganze Welt als feindlich; und aus der ursprünglichen Mitmenschlichkeit wird die Gegenmenschlichkeit. Er überblickt die Zusammenhänge nicht mehr und flüchtet immer weiter in seine privateste Sphäre. So haben die nur an ihrem eigenen Vorteil interessierten Menschenverächter schließlich den „unpolitischen Menschen“ trimmen können, der ihre Handlungen nicht mehr durchschauen kann und darum leicht am Gängelband zu führen ist. Nun ist Politik aber in Wirklichkeit keine Sache der Spezialisten, sondern die allgemeine aktive Stellungnahme zu den Vorgängen der Gegenwart, die direkt oder indirekt jeden etwas angehen. Der „unpolitische“ oder „neutrale“ Mensch ist daher weder unpolitisch noch neutral; er weiß nur von sich nicht, dass er politisch und parteiisch ist, und weil er das nicht weiß, wird er die hilflose Beute der tiefsten Gegner seiner eigenen Interessen.

Wer soll sich da noch wundern, wenn das Institut für Demoskopie in Allensbach in seiner Untersuchung über das politische Bewusstsein der westdeutschen Bevölkerung zu dem Ergebnis kommt: „Die Verwirrung über politische Begriffe ist allgemein. Die Hälfte der Bevölkerung kann zum Beispiel nichts mit dem Begriff Opposition anfangen. Auch das Prinzip der Gewaltenteilung wird nicht verstanden. Dass die Abgeordneten nicht zur Bundesregierung gehören, wissen nur 36 Prozent, und die meisten Bundesbürger sind der Meinung, der Bundesgerichtshof sei ein Teil des Kabinetts.“ Diese „unpolitischen“ Bundesbürger bestimmen aber über den Ausgang unserer demokratischen Wahlen!

Die Frage „Glauben Sie, dass das Leben der Menschen immer leichter oder immer schwerer wird?“ beantwortete, nach Auskunft desselben Instituts, eine ausgeprägte Mehrheit negativ: „Der größte Teil der Deutschen findet das Dasein schwerer als je zuvor. Und mehr als die Hälfte aller Befragten wünscht sich in die Kaiserzeit, die Weimarer Republik oder gar ins ,Dritte Reich’ zurück, weil sie davon überzeugt sind, es sei den Deutschen damals am besten gegangen.“

So sehr ist also ein großer Teil unserer Mitbürger bereits entmutigt worden, dass sie in der offenen Diktatur immer noch das kleinere Übel sehen: die Diktatur ist überschaubar; man kennt seinen Gegner. Er bleibt nicht anonym wie in der Demokratie. Und der neurotische Mensch braucht seinen Gegner. Er erlebt die Welt als böse; die Verhältnisse haben ihn im Innersten verletzt; so kommt es, dass er in seiner Ohnmacht das Nächstbeste zum Schuldigen stempelt und den wirklichen Gegner seiner Interessen gar nicht wahrnimmt. Diesem fällt es dann nicht schwer, seine Erbitterung jederzeit auf etwas Vorgeschobenes abzulenken. Einmal sind es die Türken, einmal sind es die Franzosen, dann ist es das Judentum und schließlich der Kommunismus.

Freiheit, die sie meinen

„Bereits 1958 entfielen auf 2,7 Prozent aller Industriebetriebe 55 Prozent des Gesamtumsatzes. 17 miteinander verflochtene Großkonzerne kontrollieren rund 80 Prozent des westdeutschen Aktienkapitals. Allein die IG-Nachfolgegesellschaften und die von ihnen beherrschten Gesellschaften stellen weit über 10 Prozent des westdeutschen Aktienkapitals. Die ökonomische Macht der Monopole ist allumfassend.“ Das schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Dieter Gross. Und einer Statistik, die als kleine Notiz sogar in einigen Tageszeitungen abgedruckt war, konnte man entnehmen, dass 2 Prozent der westdeutschen Bevölkerung über 60 Prozent des Volkseinkommens verfügen. Oder andersherum ausgedrückt: 98 Prozent unserer Bevölkerung müssen sich mit knapp 40 Prozent des Volkseinkommens begnügen …

Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß teilte in einer Rede vor dem Economic Club in New York am 16. Januar 1961 mit, dass die Bundesregierung von 1950 bis 1960 rund 90 Milliarden DM für die Aufrüstung ausgegeben hat. Welcher Quelle diese Gelder entstammen, macht sein gleichzeitiger Hinweis auf den Privatverbrauch in der Bundesrepublik klar: während die Amerikaner im Durchschnitt immerhin noch 1.773 Dollar pro Kopf ausgeben konnten, liege der Privatverbrauch in der Bundesrepublik bei nur 715 Dollar pro Kopf.

Und in wessen Interesse lag es wohl, dass folgendes geschah: die hessische Verfassung von 1946 sieht bis heute in Artikel 41 zwingend die Überführung der Großbetriebe in Gemeineigentum vor. Der damalige amerikanische Oberkommandierende, General Lucius Clay, ließ das Volk über diesen Artikel sogar gesondert abstimmen: 71 Prozent der wahlberechtigten hessischen Bevölkerung entschieden sich für Annahme des Artikels. Trotzdem wurde seine Durchführung verboten. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen beschloss im selben Jahre die Verstaatlichung des Kohlenbergbaus. Auch die Durchführung dieses Gesetzes wurde verboten.

Die Verbote schützten die Interessen der westdeutschen Industriellen, solange sie schwach waren. Seit sie durch Währungsreform und andere Machenschaften wieder erstarkten, können sie ihre Interessen wieder selbst verteidigen. Und so gehört es heute zur Tagesordnung, dass wir Meldungen lesen wie: „Bundesinnenminister Schröder droht 79 streikenden Landarbeitern mit Aussperrung, falls sie nicht binnen vier Tagen die Arbeit wieder aufnähmen. Der Streik hat vor drei Tagen in den bundeseigenen Wirtschaftsbetrieben begonnen, die zu der ,Erprobungsstelle für Waffen und Munition’ in Meppen/Emsland gehören. Mit der Aussperrung ist der Ausschluss aus der Versorgungskasse des Bundes und die Räumung der dem Bund gehörenden Arbeiterhäuser verbunden. Auch fallen sämtliche Deputatleistungen an die Landarbeiter fort.“ (Süddeutsche Zeitung, 28./29. November 1961)

Dabei gelangen die schwereren Vorfälle überhaupt nicht in die Zeitung. So wurde am 27. November dieses Jahres der Betriebsratsvorsitzende Lerch der Solinger Firma Bremshey & Co., Werk Gelsenkirchen, vom Chef Bremshey persönlich fristlos und ohne Angabe von Gründen entlassen. Lerch ist schwerbeschädigt und hat sechs Kinder. Er hatte sich bei dem Unternehmer unter anderem damit unbeliebt gemacht, dass er den Leiter des Zweigbetriebes auf betriebliche Unfallgefahren aufmerksam machte und deren Beseitigung verlangte. Er hatte darauf die barsche Antwort bekommen, der Betriebsrat habe sich nicht um die Unfallverhütung, sondern um die Steigerung der Arbeitsleistung bei der Belegschaft zu kümmern …

Wie frei ist also unsere Freiheit? Erinnern wir uns an den nachdenklichen Ausspruch des amerikanischen Universitätsprofessors Kenneth Boulding: „Eine Welt der unsichtbaren Diktatur ist denkbar, die sich noch der demokratischen Regierungsformen bedient.“

Rolf Gramke


Contra 15/1961, 84 ff.

Überraschung

Jahr: 1961
Bereich: Lebensart