Materialien 1972

Standpunkte

– Du machst seit einigen Jahren Psychoanalysen bzw. versuchst, in Gruppen psychoanalytische Kenntnisse zu vermitteln. Kannst du mir zunächst einmal erklären, was du darunter verstehst? Was ist für dich Psychoanalyse?

– Zunächst ist das für mich mal der Prozess der Bewusstmachung der verinnerlichten Normen und Verhaltensweisen der bestehenden Gesellschaft; die Bewusstmachung psychischer Strukturen und das Erhellen des Prozesses, wie diese Strukturen sich gebildet haben, und damit auch ein Erhellen der individuellen Geschichte als Widerspiegelung der gesellschaftlichen Geschichte und gleichzeitig die Erhellung des gesamten Prozesses der Reproduktion bestehender Verhältnisse durch die Erziehung usw.

– Das hört sich ganz gut an, sogar nach politischem Anspruch, nur wird ja zur Zeit gerade von sozialistischen Gruppen bestritten, dass Psychoanalyse überhaupt einen politischen Stellenwert hat. Nicht zuletzt berufen sie sich dabei auf Marx. Ich lese dir mal einige Stellen vor, die besonders häufig zitiert werden. In dem Artikel über Feuerbach im ersten Teil der Deutschen Ideologie heißt es: „Er will das Bewusstsein über diese Tatsache etablieren, er will also, wie die übrigen Theoretiker, nur ein richtiges Bewusstsein über ein bestehendes Faktum hervorbringen, während es dem wirklichen Kommunisten darauf ankommt, dies bestehende umzustürzen.“

– Ja, genau. Und Psychoanalyse hebt eben nicht nur ins Bewusstsein, sondern fragt gleichzeitig auch nach Praxis. Sowohl nach alter wie nach möglicher neuer Praxis. Nur muss gesagt werden, dass durch die Verinnerlichung von gesellschaftlichen Normen, durch entsprechende gesellschaftlich gewünschte, dem Bestehenden angepasste Strukturen den Menschen der Blick in ihre eigene Praxis und für ihre eigene Praxis versperrt ist. Und die Marx’sche Forderung an den Kommunisten, den vor seinen Augen ablaufenden objektiven ökonomisch-sozialrevolutionären Prozess zu beobachten und sich zu seinem Sprecher zu machen, ist eben nicht so ohne weiteres zu erfüllen, weil die Beobachtung dieses Prozesses eine entsprechende Wahrnehmung erfordert. Wenn die Wahrnehmung aber eingeengt ist, wenn sie selektiv ist, bestimmt wird durch bestimmte Normen, bestimmte Verinnerlichungen, eine bestimmte anerzogene Sicht, reproduziert sich z.B. auch in dem Versuch, sich auf Marx zu berufen, nichts anderes als das Bestehende. Die von früherem Sein geprägten Bewusstseinsstrukturen sind entweder gar nicht oder kaum imstande zu erfassen, welch permanenter objektiver ökonomisch-sozialrevolutionärer Prozess seit Kriegsende bei uns im Gange ist. Bewusstsein hinkt also, wie fast immer in der Geschichte, nach. Oder, um es in modernen Kategorien auszudrücken: zwischen Prägungsstruktur und Realitätsstruktur herrscht eine ungeheure Diskrepanz. Und genau da beginnt das Problem der Psychoanalyse: Die Dinge bewusst zu machen, die Frage zu stellen, was hindert euch eigentlich, zu sehen, was ist? Wo ist hier Angst, auf was greift ihr zurück? Welche Praxis macht ihr und warum?

– Nun schreibt Marx aber auch, als Kritik zwar an der idealistischen Geschichtsauffassung, aber viele meinen, dies treffe ebenso auf die Psychoanalyse zu: im Gegensatz zur idealistischen Geschichtsauffassung – oder eben zur Psychoanalyse – erkläre die materialistische Geschichtsauffassung nicht die Praxis aus der Idee, sie „erklärt die Ideenformation aus der materiellen Praxis und kommt demgemäss auch zu dem Resultat, dass alle Formen und Produkte des Bewusstseins nicht durch geistige Kritik, durch Auflösung ins ,Selbstbewusstsein’ oder Verwandlung in ,Spuk’, ,Gespenster’, ‚Sparren’ etc., sondern nur durch den praktischen Umsturz der realen gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen diese idealistischen Flausen hervorgegangen sind, aufgelöst werden können – dass nicht die Kritik, sondern die Revolution die treibende Kraft der Geschichte, auch der Religion, Philosophie und sonstigen Theorie ist.“

– Richtig. Nur: wo ist da der Gegensatz zur Psychoanalyse?

– Na ja, dass der Analytiker dasitzt als Kritiker und sagt, dies und jenes denkst du dir falsch, da hast du falsche Vorstellungen, und versucht, alles ins „Selbstbewusstsein“ aufzulösen.

– Da muss ich zunächst mal fragen: wo ist in der Psychoanalyse nur Kritik? Selbst in der schlechtesten Analyse wird gefragt: Was bringt dich dazu, eine solche Auffassung von dir und der Welt zu haben? Woher kommt die, welche Praxis steht dahinter? Analyse ist in jedem Fall schon mal eines, nämlich Lernen von gesellschaftlichen Beziehungen.

Dass da einige nur im Bereiche der Kritik bleiben und sogar neue Gespenster produzieren, will ich gar nicht bestreiten. Das gilt übrigens nicht nur für Reaktionäre und Liberale, sondern auch für manche, die sich „links“ nennen. Unbestreitbar ist aber auch, dass psychoanalytisches Wissen angewandt wird, um – genau wie Marx es gefordert hat – auf individueller Ebene Geschichte aufzuarbeiten. Denn das tut man, wenn man fragt: welche Praxis wird gemacht, warum wird sie gemacht, aber auch: warum wird sie nicht gemacht.

– Nun gut. Aber selbst wenn mich jetzt deine Argumente überzeugt haben, dass durch Psychoanalyse einige wichtige Fragen behandelt werden. so bleibt für mich noch offen, ob diese Fragen nicht nur für das Bürgertum interessant sind, für das Proletariat aber gänzlich belanglos. Denn Marx schrieb, auch wieder in der Deutschen Ideologie: „Die wirkliche, praktische Auflösung dieser Phrasen“ – er spricht da über religiöse Auffassungen –, „die Beseitigung dieser Vorstellungen aus dem Bewusstsein der Menschen wird, wie schon gesagt, durch veränderte Umstände, nicht durch theoretische Deduktionen bewerkstelligt.“

– Ja halt, hier versuchst du doch wieder, Psychoanalyse mit theoretischer Deduktion gleichzusetzen. Das ist nicht richtig.

– Lass mich mal weiterlesen, der wichtige Abschnitt kommt noch: „Für die Masse der Menschen, d.h. das Proletariat, existieren diese theoretischen Vorstellungen nicht, brauchen also für sie auch nicht aufgelöst zu werden, und wenn diese Masse je einige theoretische Vorstellungen, z.B. Religion hatte, so sind diese schon längst durch die Umstände aufgelöst.“

– Da muss ich sagen, da komme ich nicht mehr mit. Das stimmt ganz einfach nicht. Ich habe durch meine Arbeit einigen Kontakt mit Arbeitern, und da sehe ich die vielfältigsten Formen von Religion, ganz primitive Formen eines magischen Denkens. Nehmen wir nur mal die Bereitschaft der Masse der Menschen zur Hypostasierung von Begriffen, die Neigung, Symbole, Fahnen und was weiß ich für die Wirklichkeit zu setzen, ihnen gewissermaßen eine übernatürliche Bedeutung zu geben. Da muss ich wirklich fragen, ob Marx mit dieser Aussage recht hat. (Er muss ja keineswegs immer recht haben, oder?) Zumindest muss man fragen, in welchem Kontext diese Sätze stehen, gegen wen und mit welcher Absicht sie geschrieben sind. Denn so einfach hat Marx es ja wohl nicht gesehen, dass sich die Umstände ändern und dann ändert sich auch schon das Denken und Verhalten der Menschen. Irgendwo im ersten Band des Kapital sagt er, es komme darauf an, den Menschen ins Bewusstsein zu heben, was sie im Grunde schon wissen. Das heißt, dass das Nachhinken des Überbaus etc. in bezug auf tatsächliche ökonomische, soziale Verhältnisse und Bewegungen überwunden werden muss, indem es ins Bewusstsein gehoben wird.

– Du sprachst vorhin davon, dass einige Psychoanalytiker im Bereich der Kritik bleiben und sogar neue Gespenster produzieren. Heißt das …

– Richtig. Wir müssen ja auch sehen, dass es da verschiedene Schulen gibt. Wer macht welche Analyse mit wem, mit welchem Ziel? Ich habe mich zunächst dagegen gewandt, pauschal zu behaupten, Psychoanalyse sei positivistisch bzw. idealistisch und könne gar nicht anders sein. Allerdings muss ich hinzufügen, dass es darauf ankommt, welche Zielsetzung Analytiker und Analysand haben. Anpassung an Bestehendes, Befreiung von Bestehendem, Bewältigung von Bestehendem verstanden als Bewegung auf etwas Neues zu?

– Welche Zielsetzung hast denn du? Wie und wo unterscheidest du dich von Freudianern, Jungianern, Schultz-Henckianern und so?

– Da ist zunächst einmal das Arzt-Patient Verhältnis. Im Grunde genommen ist doch bei den Freudianern und Co. der eine der Wissende und der andere der Unwissende. Also Reproduktion des alten bürgerlichen Schemas. Ich betrachte nun aber Psychoanalyse als Lernprozess, und das heißt für mich, dass der Analytiker es auch nötig hat, vom Analysanden zu lernen. Irgendwann im Verlauf der Analyse wird der Analysand ein verdammt guter Analytiker, der mindestens ebenso gut seinen Analytiker analysieren kann wie dieser ihn. Das heißt also, die Dinge, die Situationen, die Positionen können sich wandeln. Auf diese Weise wird das typische Arzt-Patient-Verhältnis aufgehoben. Der Analytiker begibt sich in die Beziehung hinein mit all ihren Risiken, also auch mit dem Risiko des Prestigeverlustes und mit der Erwartung, dass der Analysand Mängel, Schwierigkeiten an ihm entdeckt, ihn darauf hinweist, gewissermaßen ihn analysiert: etwa im Hinblick auf seinen Realitätsbezug oder sein politisches Bewusstsein.

– Wenn der Analytiker sich aber mit in die Beziehung hineinbegibt, wie du sagst, kann er denn dann noch die für wichtig erachtete Rolle der „Projektionsleinwand“ einnehmen? Es wird doch angenommen, dass gerade über diese Projektionen die Situation des Analysanden erhellt wird.

– Der Anspruch, „weiße Projektionsleinwand“ oder „Spiegel“ zu sein, ist doch Quatsch. Zunächst bin ich der Meinung, wie die Antipsychiatrists, dass nicht das Problem der Übertragung entscheidend ist, sondern vielmehr das Lernen von zwischenmenschlichen Beziehungen – in denen selbstverständlich Übertragung eine Rolle spielt. Wichtig ist das Lernen von Beziehungen und dass man aus dem Sich-Begegnen auch die richtige Orientierung findet, denn das heißt, zu den wirklichen Bedürfnissen und Möglichkeiten vorzustoßen.

– Wie ist es denn nun aber mit der Zielsetzung: Wie kommst du als Analytiker zu dem Schluss, dies oder jenes muss bei dem Analysanden behandelt werden, davon muss er frei werden?

– Die Frage ist nicht, ob er einfach frei geworden ist oder so, sondern ob er wirklich imstande ist, wie soll ich sagen, Dinge zu befragen, zu bewältigen. Ob er gelernt hat, angesichts objektiv überprüfbarer Möglichkeiten Probleme zu bewältigen. Und eigentlich braucht dabei jeder, sowohl der Analytiker wie der Analysand, das Korrektiv. Und das bedeutet immer wieder sich zu fragen: von welchem gesellschaftlichen, geschichtlichen Standpunkt gehe ich aus, von welcher Weltauffassung.

Ich meine damit auch, dass man nicht einfach nur über Psychoanalyse reden kann, sondern Gesellschaft, Gesellschaftsprozess mit einbeziehen muss. Also wenn ich mit jemandem diskutiere und der sagt mir, ich will nicht mehr als meine Arbeitshemmungen loswerden, dann akzeptiere ich das und arbeite mit ihm zusammen darauf hin. Das heißt aber nicht, dass ich Arbeitsleistung einfach in dem entfremdeten Rahmen der bestehenden Gesellschaft akzeptiere, sondern ich mache ihn darauf aufmerksam, hier, in deinem Problem steckt auch deine Gesellschaft mit drin, deine Erfahrung von Gesellschaft, und ich stelle ihm die Frage, welche Auffassung von Arbeitsleistung er denn eigentlich hat. Ich bin der Meinung, dass Gesellschaft als Realität gesehen werden muss, die ich zu akzeptieren habe und gleichzeitig befragen muss: Was für eine neue Realität kann daraus werden?

– Dient dieses Korrektiv auch dazu, die Furcht vor der Macht des Analytikers zu nehmen? Viele befürchten ja, er sei in der Lage, Menschen etwas einzureden, sie zu etwas zu bringen, was sie gar nicht wollen. Und dann die Angst: er kennt all meine schwachen Stellen, ich gebe mich ihm in die Hand und das nützt er aus.

– Ein fortschrittlicher Analytiker sollte immer die Entscheidungsfreiheit des anderen in den Vordergrund stellen; es kommt auch nicht darauf an, dass der Analysand sich für eine bestimmte Richtung entscheidet, sondern dass er zunächst einmal überhaupt weiß, warum er sich entscheidet, warum er etwas tut, und dass er dieses Warum und dieses Wozu in seinem gesellschaftlichen Zusammenhang begreift und lernt, von dieser Welt alles zu wollen. Wenn ich jetzt nicht einfach den berüchtigten Spruch: „Sinn aller Analyse ist auf Gott gerichtet“ umwandle in: „Sinn aller Analyse ist auf Kommunismus gerichtet“, so ist das nicht „Moral“ im bürgerlichen Sinne, sondern der Entschluss, den Menschen ernst zu nehmen, ihn nicht als Ding zu betrachten.

– Entscheidungsfreiheit, heißt das, du überlässt es dem Analysanden, was er tun und lassen will?

– Nicht ganz. Entscheidungsfreiheit schon mit Konsequenzen. Es gibt die Situation, wo ich sagen muss: Unter diesen Bedingungen können wir nicht weiter zusammenarbeiten. Wenn die Analysestunden immer nur zur Entspannung herhalten sollen, wenn nur immer wieder Material gebracht wird, um ja nicht in der Praxis die gewonnenen Erkenntnisse überprüfen zu müssen, dann sehe ich keinen Sinn mehr in der weiteren Zusammenarbeit. Und auch die umgekehrte Situation, wo ich ganzklar sagen muss: Wenn du weiterhin deine Kreativität zugunsten deiner Managerposition einengst, all dein Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge usw. dauernd verdrängst, dann musst du dich allerdings für dein Magengeschwür entscheiden.

– Welche Möglichkeiten siehst du, eine emanzipatorisch wirkende Anwendung psychoanalytischen Wissens durchzusetzen? Durch dein Beispiel, so wie du Psychoanalyse betreibst …

– Nein, keinesfalls. Auch das ist nicht die Sache einer einzelnen Person, sondern die eines allgemeinen Dialogs von Linken. Es gibt nicht den Standpunkt. Wir müssen immer wieder unseren Standpunkt überprüfen, indem wir auch das Ziel immer wieder überprüfen.

Horst Przytulla im Gespräch mit Rolf Gramke


Kursbuch 29. Das Elend mit der Psyche. II Psychoanalyse, Berlin September 1972, 103 ff.

Überraschung

Jahr: 1972
Bereich: Alternative Szene