Materialien 1993
Sehr geehrter Herr Kronawitter!
Wir, die Radl Aktion Fuß Front sind eine Gruppe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, den Autoverkehr innerhalb kürzester Zeit drastisch zu reduzieren, da sowohl die ökologischen als auch die sozialen Folgen des Autoverkehrs nicht weiter hinzunehmen sind!
Die ökologischen Folgen sind hinreichend bekannt, die sozialen Folgen seien hier nur kurz angeschnitten, ansonsten können wir auf die beiliegenden Aufkleber und das Flugblatt Nr. 1 verweisen: Kinder können nicht mehr auf eigene Faust ihre nähere Umgebung erkunden, da der Autoverkehr zu gefährlich für sie ist; Kinder lernen seltener Nachbarskinder kennen, da man ja sowieso nicht mehr auf den Straßen spazieren geht; alte Leute vereinsamen in ihren Wohnungen, da sie sich nicht mehr raustrauen, da sie sich nicht irgendwo auf eine Bank an der Straße hinsetzen können und wollen, weil der Autoverkehr zu laut ist, zu sehr stinkt!
Folge: wir werden eine Gesellschaft (besser: sind geworden), in der Rücksichtnahme auf andere, Kommunikationsbereitschaft, das Kennenlernen von neuen Leuten für viele Alte, aber auch und gerade für Kinder immer mehr verhindert wird!
Angefangen haben wir am 6. Juni mit unserem ersten Straßenspaziergang – natürlich in der Mitte einer Fahrspur. Ab Mitte September sind wir dann jeden Samstag auf der Leopoldstraße gegangen, um schließlich an dem 19. Dezember einen Aktionstag zu machen, an dem immerhin 40 Leute teilnahmen – uns Fußgängern gehörte wieder eine Fahrspur von der Universität bis zur Münchner Freiheit.
Ich selbst habe vom 6. Juni 1992 bis zum 14. Januar 1993 alle meine Wege in der Mitte einer Fahrspur auf der Straße zurückgelegt. Am 9. Januar 1993 schließlich war der letzte Leopoldstraßenspaziergang! …
An diesem ersten Aktionstag am 18. Juni 1993 erwarten wir, dass mindestens 300 Leute sich beteiligen werden …
Da wir diese Aktion nicht angemeldet haben (Begründung erfolgt etwas weiter unten), kann es natürlich sein, dass an dem 1. Aktionstag die Polizei massenhaft anrückt. Wir müssen ihnen versuchen klarzumachen, dass jeder, der hier auf der Straße gehen würde, nur mit einen Bußgeld von höchstens 40.– DM belegt werden könnte. Hat dies keinen Erfolg oder versucht die Polizei das Ganze aufzulösen, so werden wir es mit Verzögerungstaktik geschehen lassen …
Wenn nun ein ganzer Straßenzug, vielmehr fünf Straßen mit einer Länge von insgesamt 900 Metern jeden Freitag so begangen werden wie erwünscht, dann wird es gewiss keinem Autofahrer einfallen, in diesen Gebiet überhaupt noch an Freitag Nachmittagen rumzufahren …
So wird sich zeigen, dass zumindest … eine bessere Luft herrscht, Kinder sich vielleicht irgendwann völlig frei bewegen, ältere Leute sich wieder draußen auf der Straße unterhalten. Dadurch wäre auch der für das Inkrafttreten des § 34 („Rechtfertigender Notstand“) nötige Erfolg sichergestellt.
Wenn also Sie, lieber Herr Kronawitter; doch bitte dafür Sorge tragen könnten, dass sich die Polizei gesittet benimmt, dann hätten wir eben mit dem richtigen Konzept die Möglichkeit der drastischen Reduzierung der Autoplage mit sehr geringem Kostenaufwand.
Denn die Stadt hätte gewiss auch die Möglichkeit, Geld vom Bund für den MVV-Ausbau zu fordern, insbesondere dann, wenn dieses „Auf der Straße Gehen“ sich aufgrund der Erfahrungen des Haidhausnergebietes in mehreren Stadtteilen abspielt. Dadurch wäre der § 34 „Rechtfertigender Notstand“ auch gegenüber dem Bund wirksam …
Nachdem also die ersten 25 Fußgängerzonen so entstanden sind und auf den größeren Straßen die Fahrspuren 25 mal auf ca. vier mal 400 Meter von drei auf zweieinhalb bzw. von zwei auf eineinhalb Fahrspuren verringert worden sind (durch Querparkgebot, was zu einer Verengung und deshalb Geschwindigkeitsreduzierung führt, gleichwohl die ehemals in der FußgängerInnenzone parkenden Autos nicht auf ihren Stellplatz verzichten müssen, Anm.d.Verf.), kann der MVV nun sowohl wegen der vermehrten Stauungen als auch wegen der größeren Nachfrage Busspuren einrichten …
Der mittlere Ring wird sowohl für die außerhalb des Mittleren Rings Wohnenden als auch für Pendler zu einem Großparkplatz für 25.000 Autos mit Ringbuslinie umfunktioniert. Daraus folgt: Einreise nach München nur noch mit der Bahn, daraus folgt: Plus für die Bahn! Als nächstes Nachtfahrverbot …
Außerdem muss das Car-Sharing gut ausgebaut sein bzw. Mietwagen müsste die Stadt anbieten – natürlich Solarmobile … Die Industrie kann dadurch, dass der MVV sie auffordert, 700 solarbetriebene Busse und noch einige (2.000 bis 20.000) städtische Fahrzeuge innerhalb des nächsten Jahres herzustellen und auszuliefern, „gezwungen“ werden, auf die solare Produktion einzusteigen …
Ab 2000 dürfte niemand mehr innerhalb des Mittleren Rings fahren, alle noch fahrenden Autos (Polizei, Essen auf Rädern, Krankenwagen, Behindertendienste, best. Handwerker) müssten auf Solar umgestellt werden (ca. 80.000).
Damit würde München führend werden für eine Solarstadt, würde München führend werden für eine ökologische Wende in der Energiepolitik, Verkehrspolitik!!! Die Deutsche Bundesbahn erlebt einen ungeheuren Aufschwung!!! Die Menschen wären zufriedener, glücklicher …
Sehr geehrter Herr Kronawitter, wir rechnen nicht nur mit einer finanziellen Unterstützung, sondern auch mit einer moralischen, vielleicht sogar mit einer aktiven Unterstützung Ihrerseits und verbleiben hiermit – nicht ohne noch auf das beiliegende Blatt „Wie stelle ich mir München vor – eine Stadt der Zukunft bis zum Jahr 1997“ hinzuweisen –
Ihre
Radl Aktion Fuß Front
Michael Hartmann, Der Autogeher. AutoBiographie eines AutoGegners. März 1988 bis Juli 1997, München 1997, 70 ff.