Materialien 1993
Vorwort
Was soll man in einem Vorwort schreiben?
Dass man „ohne eine ökologische Revolution binnen kürzester Zeit“ die „Erde nicht mehr retten“ kann (Washingtoner World Watch Institut 1991) oder dass die Ozonwerte drastisch gestiegen sind und wir immer noch auf Verordnungen aus Bonn warten?
„Niemand geht mehr auf den Straßen spazieren, weil sie so hässlich sind“ oder „Autos brauchen mehr Platz als Kinder“. Das waren zwei von vier Überschriften von Aufklebern, welche wir in München verteilt haben.
Und es stimmt! Wer geht denn noch auf so großen Straßen wie die Dachauer- oder Implerstraße (eigentlich kleinere Straßen!) spazieren? Wo sind die älteren Mitbürgerinnen?
Sie haben Angst auf der Straße zu gehen! …
Und die Kinder? Wenn man drei Zahlen vergleicht, dann hat man schon sehr viel:
Öffentliche Freiflächen in München (darunter die Spielplätze): 2,7 Quadratkilometer
750.000 angemeldete Autos in München (bei 6 qm pro Auto): 4,5 Quadratkilometer
Straßen in München (2.200 km à 10 Meter): 22,0 Quadratkilometer
Ganz abgesehen davon, dass unsere Kinder am meisten unter der Luftverschmutzung zu leiden haben! …
Jetzt bin ich soweit, Euch alle meine Erfahrungen in einem Seminar mitzuteilen, bei welchem natürlich neben dem Praxisunterricht (Carwalking, Streetwalking auf kleinen Straßen, Brotzeitmachen) auch die notwendige Theorie (Warum macht man das? Was erreicht man damit? Was für Konflikte mit dem Gesetz können sich daraus ergeben? Wie kann man dieses vermeiden? Etc.) nicht fehlen wird …
Carwalking, was ist das und wozu braucht man es?
Carwalking ist eine Methode, bei der man die Autos, die auf dem Bürgersteig stehen, einfach übersteigt, d.h. rauf auf den Kofferraum, dann aufs Dach, auf die Motorhaube und mit einem eleganten Sprung wieder nach unten. Das ist dazu gedacht, um den BürgerInnen bildlich zu zeigen, dass der Mensch über dem Auto steht.
Wie der Mensch, insbesondere das Kind, von dem Auto unterdrückt wird – hier nur zwei kleine, ausgewählte Beispiele:
1989 wurde in der Bundesrepublik Deutschland (alte) etwa alle sieben Minuten ein Kind im Straßenverkehr verletzt oder getötet! Das waren nur in diesem einen Jahr Dreiundvierzigtausendvierhundertvierundachtzig (43.484) Kinder!
11.480 Kinder wurden im gleichen Jahr durch Straßenverkehrsunfälle schwer verletzt, davon wird etwa jedes sechste Kind ein Leben lang behindert sein.
Tausende von Europäern sterben jährlich vorzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung. Weit mehr Menschen leiden an chronischen Lungenschäden. Besonders gefährdet sind Kinder, alte und kranke Menschen. Das war die Kernaussage eines im September 1990 an die Öffentlichkeit gelangten Berichts der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Er hatte einen Sperrvermerk: „Nicht für die Medien bestimmt!“
Was wollen und können wir mit dem Carwalken erreichen?
Wir wollen, dass zumindest die Bürgersteige und die Radwege wieder frei sind von den dort parkenden Autos. Wie der Tod eines zehn Monate alten Kindes aus Hamburg zeigte, sind Bürgersteigparker selbst an so tragischen Unfällen schuld: Auto parkt auf Bürgersteig, Radfahrerin mit zehn Monate altem Kind kommt, Autofahrer öffnet die Tür, Radfahrerin stürzt, Kind fällt auf die Straße und wird von Laster überrollt!
Wir wollen, dass man auf dem Bürgersteig parkend in jedem Fall abgeschleppt wird, dass die Autofahrer in zweiter Reihe vor Ausfahrten parken müssen (nur in kleineren Straßen?) und hier einen Strafzettel von 50 DM erhalten.
Dadurch würde dann in diesen kleinen Straßen die Durchschnittsgeschwindigkeit reduziert werden.
Eine Reduzierung der Durchschnittsgeschwindigkeit ist von Bedeutung bei der Unfallhäufigkeit und insbesondere Unfallschwere von hauptsächlich Kindern, aber auch erwachsenen und alten Leuten.
Was sagt denn das Gesetzbuch zum Überqueren von Autos?
Grundsätzlich nichts, außer man beschädigt ein Auto, d.h. Sachschaden. Aber mit der Teilnahme an einem solchen Carwalking-Kurs kann man das Diplom zu einem geprüften Carwalker erreichen und falls dann schließlich bei einem der tagtäglichen Überquerungen nun doch einmal ein Sachschaden entstehen sollte, so muss die private Haftpflichtversicherung (ca. 70.– DM pro Jahr) dafür aufkommen (Dez. 1996 noch immer nicht als Aktionskünstler anerkannt und gerichtliche Auseinandersetzung mit Haftpflichtversicherung, Anm.d.Verf.). Vorausgesetzt, jemand zeigt Dich an, sieht einen Schaden und Du kannst nicht glaubhaft machen, dass diese Delle nicht von Dir ist …
Auf jeden Fall dürfen da die MitbürgerInnen und die Polizei schon immer ganz genau hinschauen und wenn sie jemanden sehen (und sie sollen es sehen), so müssen sie dieses Auto auf einen Schaden hin untersuchen. Eventuell (falls nicht haftpflichtversichert und ein Schaden entstanden ist) käme es dann zu einer Gerichtsverhandlung. Hier kann man dann §§ GG, §§ StVO angeben usw …
Streetwalking
Ich will, dass die Menschen die Straße wieder so sehen, wie sie für uns ursprünglich gedacht und eingerichtet wurde: von der Mitte der Baumalle aus! Die kleinen Straßen soll man wieder in der Mitte derselben begehen, damit man eben die Häuser, Baumalleen wieder von der Mitte aus sieht links und rechts ein Haus, nicht rechts von Dir eine steile Hauswand aufragend und in 20 Metern Entfernung (auf der anderen Bürgersteigseite) ein Geschäft mit Auslage.
Ich will, dass die Menschen wieder in den Mittelpunkt gerückt werden, nicht mehr auf dem Bürgersteig gehen müssen, sondern auf der Straße gehen können und sollen! So, wie man sich auch in einer Fußgängerzone benimmt: da fahren keine Autos, da darf man ja in der Mitte der Straße gehen … nicht nur da!!!
Unter Tags sollte sich ein jeder trauen, auf kleinen Straßen spazieren zu gehen, Autos kommen hier vielleicht alle 20 Sekunden vorbei (Zählt einmal bis 20!), an manchen Straßen auch alle Minute oder gerade 10 Autos am Tag (und zwei in der Nacht).
Man kann so spazieren, wie man will; in der Mitte, etwas weiter rechts oder links, ohne dass einen die Autofahrer übersehen werden, und man merke sich: AutofahrerInnen sind auch nur Menschen und kein Mensch würde einen anderen einfach so umbringen, töten, verletzen, nur weil er auf der Straße geht, anstatt auf dem Bürgersteig.
Auch bei Nacht ergibt sich für uns Straßengeher kein Problem, da die Straßen im allgemeinen ausreichend beleuchtet sind und die Autos zumeist mit einem Licht ausgestattet sind. Schaut einmal, auf wie viel Meter Ihr jemanden gut erkennen könnt!
Ich selbst habe bei meinen Straßenspaziergängen auf kleineren Straßen festgestellt, dass ca. 80 Prozent der Autofahrer nur mit 10 km/h an mir vorbei fahren und selbst nach 100 Metern nicht schneller als 15 km/h fahren, wenn sie ursprünglich 25 – 30 km/h gefahren sind.
Warum wir dieses machen? Natürlich auch zur Verringerung der Geschwindigkeit auf den kleinen Straßen und damit wir den AutofahrerInnen zeigen, dass wir uns den Platz, den sie uns in den letzten hundert Jahren immer mehr geraubt haben, zurück erobern wollen und werden …
Was passiert noch auf diesem Seminar?
Wir werden erfahren, was passieren kann, wenn man sich auf einer großen Straße in die Mitte einer Fahrspur stellt und was das Ganze für rechtliche Probleme mit sich bringt!
Ich selbst habe mich schon des öfteren auf großen Straßen zum Brotzeitmachen hingestellt (man kann auch Stuhl und Tisch mitnehmen) – Flasche Milch, Apfel und Brezen durften nicht fehlen! Die Reaktionen der Autofahrer waren – wie dieses auch aus dem Film deutlich wird – recht unterschiedlich: vom Vogelzeigen und Hupen bis zum Aussteigen und Wegzerren. Aber auch positive Reaktionen konnte man beobachten!
Warum man dieses immer mal wieder machen sollte? Um den Autofahrern zu erklären: Wenn Ihr auf dem Bürgersteig parkts, um am Abend in die Kneipen zu gehen, so stehe ich halt hier, um Brotzeit zu machen, da ich auf dem Bürgersteig stören würde.
Was bringt das? Zum Einen verursacht es einen mehr oder weniger langen Stau und alles, was sich staut, ist gut, denn:
Erlebte Handlungsbarrieren, wie z.B. Parkplatzprobleme, Verkehrsstaus und Straßenlärm haben nicht nur eine unangenehme Seite, sondern können zugleich Ansatzpunkte für die Durchsetzung niedriger Fahrgeschwindigkeiten und seltenerer Autoverwendung sein. Sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechend bieten nämlich Handlungsbarrieren günstige Vorraussetzungen für ein Umdenken und den Erwerb neuer Gewohnheiten.
Zum Anderen hat damit die Polizei zumeist einige Schwierigkeiten, da sie zuerst gar nicht weiß, wie sie reagieren sollte, müsste. Sie wissen zumeist noch nicht, dass dieses ebenso wie das „Auf-der-Straße-Gehen“ nur ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung ist und somit mit einen Bußgeld von 30.– DM bestraft werden kann (wenn man bestimmte Regeln einhält). Falls man diese Regeln nicht einhält, kann es zu einer Gerichtsverhandlung kommen, welche aber recht interessant für die örtliche Presse sein wird.
Wie dem auch sei, auch dieses eine geeignete Methode, den Autoverkehr noch mehr zum Stocken zu bringen!
Autos vom Bürgersteig runter tragen auf die Straße, wo geht das, wie viele Leute braucht man dazu, was bringt dieses und was kostet dieses oder auch nicht!
Autos kann man natürlich nur dort vom Bürgersteig herunter heben, wo direkt nebenan die Straße ist, d.h. keine parkenden Autos, keine Bäume.
Man braucht dazu mindestens vier, höchstens acht Leute. Was das ganze bringt, ist vollkommen klar: die Bürgersteige werden frei von Autos und die Straße wird um eine Fahrspur verengt! Dadurch gibt es natürlich wieder ein Hindernis mehr für die AutofahrerInnen und wie schon oben erwähnt: alles, was sich staut, ist gut, denn …
Was das ganze kostet? Ich würde sagen: Nichts, außer Abschleppkosten, die der/die FahrerIn des Autos tragen muss. Falls nicht: Rechtsschutzversicherung hilft!
Bei all dieser Theorie kommt zu Anfang der Film „Chaos Verkehr“ (der Film von Roland Schraut, welcher ein Jahr später fertig werden sollte, Anm.d.Verf.), der sich mit all diesen Themen beschäftigt und natürlich auch immer eine langandauernde Praxis in Carwalking, Streetwalking, Brotzeitmachen und Autosheruntertragen!
Michael Hartmann, Der Autogeher. AutoBiographie eines AutoGegners. März 1988 bis Juli 1997, München 1997, 86 ff.