Flusslandschaft 1972

Jugend

Ellen Römer und das Soziale Selbsthilfekomitee in der Frauenlobstraße 24 kümmern sich um Heimjugendliche, entlaufene Jugendliche und Rocker.

Revolution der Massenmedien, Fluch oder Segen? 1972 ist das „Jahr der Audiovision“. Informati-
onsgestöber. Ersetzt die schiere Fülle der Information das Verständnis der Zusammenhänge? Er-
schlägt die Giftlawine der Quantität die Qualität? Bleibt im heiß umkämpften Milliardenmarkt das Ethos auf der Strecke? Steht der Menschheit eine Telekratie bevor? Der Generalsekretär der Deut-
schen Gesellschaft für Kommunikationsforschung
, Karl H. Kaesbach, entdeckt, dass Jugendliche auf die neuen Herausforderungen empfindlich reagieren: „… Der durchschnittliche Fernseher schläft im Jahr 3000 Stunden.Er arbeitet in der gleichen Zeit 2000 Stunden, und er sieht bis 100 Stunden fern. Es gibt keine vergleichbare Beschäftigung, für die freiwillig und kontinuierlich soviel Zeit aufgewendet wird. Das die Informationsflut immer größer wird, besteht die Möglichkeit, dass der Einheitsmensch von morgen als Folge eines durch die internationale Ausweitung der Massen-
kommunikationssysteme entwickelten kollektiven Wertbewusstseins weniger der Gefahr eines to-
talitären Regimes ausgesetzt ist als vielmehr einer gewaltlosen Verführung durch die Massenmedi-
en, wenn nicht rechtzeitig einer hemmungslosen Entwicklung vorgebeugt wird’ Denn sonst wird die Vision Orwells von einer Welt Wirklichkeit, in der jeder Mensch bis in seinen tiefsten Seelen-
winkel pausenlos von den Massenmedien bearbeitet wird. – Das permanente Angebot von Infor-
mationen an das menschliche Gehirn beginnt schon jetzt seine Kapazitätsgrenzen zu sprengen. Die verwirrende Informationsflut gehört neben der Umweltverseuchung zu den ernstesten Zeitproble-
men. Von unseren gängigen Medien haben steigende Tendenz: das Buch, die Schallplatte, das Fernsehen und neuerlich die Kassette. Zeitungen und Zeitschriften zeigen eine fallende Tendenz, wie auch der Film. Der Niedergang des Films vollzieht sich inmitten einer teilweise blühenden Konjunktur anderer Nationen, die den Film erfolgreich als Mittel ihrer Kulturpolitik in aller Welt einsetzen. Der deutsche Film hat über die Hälfte seiner Einnahmen, zwei Drittel seines Publikums und rund 3.500 Filmtheater verloren. – Die Generation von heute, zu deren Jugenderlebnissen Weltraumflug, Pille und ideologische Zusammenbrüche gehören, spricht eine Sprache, die sie im Film und auch im Fernsehen vermisst. Aus Opposition, aus Aggression und aus dem Untergrund macht sie eigene Filme und hält einen primitiv gefilmten Beischlaf für einen Beitrag zur Weltrevo-
lution. Eines ist am Film auffällig: Die junge Generation – und im nächsten Jahr wird die Hälfte der bundesrepublikanischen Bevölkerung jünger als 30 Jahre sein – setzt sich noch vorzugsweise mit dem Film auseinander, revolutioniert vor der Kinoleinwand, nicht aber vor ihrer Zeitung oder vor dem Bildschirm. Sie möchte mit der Kamera Revolution machen. Dass sie sich dabei mit Vor-
liebe auf Pornographie verlegt, ist nichts anderes als Enttäuschung und Trotzreaktion auf die Tat-
sache, dass sie anders kaum gehört wird. Die Presse steht in einem Mehrfrontenexistenzkampf. Noch beträgt hierzulande die Druckauflage der Tageszeitungen rund 27 Millionen täglich, die der Publikumszeitschriften 230 Millionen monatlich. 2.300 Fachzeitschriften erscheinen mit einer Gesamtauflage von 50 Millionen …“1

(zuletzt geändert am 12.7.2020)


1 Graphik 10 vom Oktober 1972, München, 54.

Überraschung

Jahr: 1972
Bereich: Jugend