Materialien 1984

Juppeidi und Juppeida – Hausdurchsuchung, Razzia!

Unordentliches zum „Blatt“1

Dieser Sommer 1973 schmeckt fett nach Leben. Die Luft flirrt, Bruthitze steht zwischen den Häusern. Es gibt kaum Verkehr auf den Straßen und ich fantasiere, dass die Stadt uns gehört. Wir sind eine kleine Minderheit, die nicht nur träumt, sondern die in einigen mühsam abgeschotteten Räumen versucht anders zu leben, ohne bürgerliche Verkehrsregeln und Ideologien, ohne patriarchalisch angeordnete Gewalten, ohne Konsumterror, ohne die Tretmühle der Vernutzung unserer Arbeitskraft. Noch empfinden wir uns wie einen Fremdkörper, allerdings wie einen realen Fremdkörper in einer irrealen, unwirtlichen, lebensfeindlichen Umwelt, die still zu stehen scheint. Jetzt, in diesem Sommer, als sich die anderen nicht hinaustrauen in die Glut von erhitztem Asphalt, verdorrten Wiesen und lastender Stille, fangen wir wieder einmal an, versuchen wir etwas Neues.

Es geht uns nicht nur um gesellschaftliche Utopien, es geht auch um die Verteidigung unserer Wohngemeinschaften, um das „Milbenzentrum“, wie wir das selbstverwaltete Milbertshofener Zentrum in der Nietzschestraße nennen, die Buchhandlungen „Basis“, „Arbeiterbuch“, „Das Freie Buch“ und „Libresso“, die Theater „TAMS“, „Rationaltheater“, „Modernes Theater“, „KEKK“, „OFF-OFF-Theater“, „Theater 44“, „MUH“, „pro T“ …, alternative Kneipen wie das „Centro Espagnol“, „La Cumbia“, „Fasaneriehof“ … reale Orte, also nicht utopische Vorstellungen. Es geht uns um uns, es geht auch um die Verteidigung der Freiräume in unseren Köpfen. Und da wir begreifen, im täglichen Konflikt gibt es nur Rückzug oder Vorwärtsschreiten, bleibt uns nichts übrig als laut zu werden: „Leute, verstehtt doch, der kapitalistische Moloch macht Euch alle krank. So kanns nicht weiter gehen. Leute, macht mit bei uns, macht endlich mit!“

Wie die inneren Auseinandersetzungen anstoßen, Meinung bilden und gleichzeitig der herrschenden Deutungshegemonie etwas entgegensetzen? Bei Gerd Hortmeyer in der Einfahrt zum Hinterhof in der Knöbelstraße 10, in die heiß die Sonne knallt, treffen sich ganz unterschiedliche Menschen, Klaus „the bomb“ Mayer, Rüdiger „roots“ Dillooo, Annemarie Krauß, Jürgen Ritter, Jutta Riemenschneider, Alfred Schantz, Nick Brückner, Mieze, Christof, Otfried, Stefan, Hanns, Andreas, Elisabeth, Waltraud, Razzo … sie sprechen über ein Projekt. Der Schreiber dieser Zeilen ist mit seinem verrosteten Fahrrad gekommen. Auf dem Weg lag die Ruine des Armeemuseums, heute ragt hier Bayerische Staatskanzlei. Damals war sie von Gestrüpp umwuchert, Kaninchen hoppelten herum, Natur pur mitten in der Stadt. An der Südseite der Ruine stand unter der Kuppel in riesigen Buchstaben „Nie wieder Krieg!“. Einige ganz wagemutige Bergsteiger müssen sich da abgeseilt haben.

Die Gespräche in der Knöbelstraße hängen eng damit zusammen. Diese Stadtzeitung, eine Idee von Gerd, soll eine lebendige Mischung sein aus Politik und Lebensgefühl, aus Analyse und ökologischer Praxis; der Hippie soll sich genauso darin wiederfinden wie die Feministin, die Anarchistin, der knallharte Streetfighter oder der K-Gruppler. Wer zur Gegengesellschaft gehört, gehört zur Familie; niemand wird ausgegrenzt. Gerd schlägt vor, wir machens einfach. Wer, wenn nicht wir! Wenns schief geht, machen wir was anderes. Das Startkapital von 5.000 DM leiht sich „Chief Horti“ vom Papa.

Schlaf und Alpträume

Wenn du es damals geahnt hättest, dass du heute gefragt wirst, sag mal, wie war das damals mit dem „Blatt“, so ein Zeitzeuge wie du muss das doch wissen, und wenn du noch zusätzlich Rechenschaft ablegen musst: „Was haben Sie sich damals eigentlich dabei gedacht mit Ihrer dubiosen Öffentlichkeitsarbeit!!“ – wenn du es damals geahnt hättest, dann wärst du vielleicht lieber in deine Schwemme auf eine kühle Maß gegangen oder ganz woanders hin.

Jetzt weißt du, du hast da schon was angerichtet, nicht allein, aber schon auch, und dabei gibt es nicht viel, woran du dich erinnerst und was sich erklären lässt, natürlich. Denn wer dabei war, war das mit Haut und Haar und hatte keine Zeit und kein Motiv, über zeithistorisch Relevantes auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Das Motto lautete: Wir wollen Alles und das sofort. Da ist niemand anwesend, der Protokolle schreibt oder ein Tonband mitlaufen lässt. Ich behaupte: Wer sich erinnert, ist nie dabei gewesen.

Wie kann ich unsere Gefühle in den frühen 70er Jahren beschreiben? Heute habe ich graue Haare, damals …

Das Zeitalter der Prügel hatten wir in Watte gepackt. Die vielen missglückten Versuche, den Anschlägen auf unsere Seele auszuweichen, hatten wir schnell verdrängt. Wer sich nicht vom Acker machte, wurde stumpf und hart geschmiedet und es schwang immer ein helles, sinnloses Klingen mit. Du machtest die Augen zu, um nicht sehen zu müssen, und deine Seele wurde zu einem Rädchen im Getriebe: Jeden Schmerz, der dir zugefügt wurde, gibst du weiter ganz im Sinne des Grauens, das es liebt sich fortzupflanzen bis in alle Ewigkeit …

Heute wird überrascht festgestellt, welch verheerende Auswirkungen schwarze Pädagogik und sexuelle Übergriffe in den Heimen der 50er und 60er Jahre hatten. Dasselbe war aber auch üblich in der Schule und in der „Keimzelle des Staates“, der Kleinfamilie. Das relativiert nicht den Terror gegenüber den Heimkindern; ich kann nicht die eine Gewalt gegen die andere ausspielen.

Alles war bekannt. Wer sehen wollte, konnte sehen. Onkel Jakl meinte schon in den 50er Jahren zu meiner erzkatholischen Großmutter mit Blick auf die klerikale Landschaft in Bayern: „Pfaffen brauchen kleine Buben.“ Großmutter schüttelte dann immer den Kopf: „Dabei singen sie doch so glockenhell, die Regensburger Domspatzen und der Ettaler Knabenchor.“

Undeutlich erinnere ich mich an den Katholikentag im Juli 1984. Zehn Jugendliche demonstrierten gegen „Kinderbewahranstalten“ und Kindesmisshandlungen vor allem in kirchlichen Einrichtungen. Sie wurden verhaftet, es kam zu über vierzig Anzeigen, unter anderem wegen „Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz“, wegen „Verbreitung jugendgefährdender Schriften“ und – natürlich – wegen der „Verletzung religiöser Gefühle“. Am Samstag, dem 15. September 1984, fand eine weitere Demonstration am Sendlingertor-Platz unter dem Motto „Gegen legale Kindesmisshandlungen durch Familie, Kirche, Staat und Erziehung“2 statt. Ist je ein Mensch vor den Kadi gezogen und hat einen Prozess geführt wegen der „fortgesetzten Verletzung seines vernünftigen Denkvermögens“?

Eines ist klar: Da lastet in den 50er und 60er Jahren ein Alptraum, ein beständiger Druck, der uns vorschreibt, was zu tun ist und zu lassen, nicht nur zehn steinerne Gesetzestafeln, die allein schon unter Sündhaftigkeit stellen, was sich ganz natürlich dem Licht entgegenstrecken will, da herrscht viel mehr noch ein mächtiger, allgemein verbindlicher Kanon, der über uns schwebend ganz klar den alternativlosen Weg weist in eine graue Nichtexistenz. Konvention prägt das politische Klima, Auflehnung ist undenkbar.

Der Schlaf hält dich umfangen. Von ganz weit weg hörst du eine Störung, willst weiter schlafen, dumpf, liegst wie gelähmt, und doch stört dich immer wieder dieses leise Rufen von Ferne, bis du es nicht mehr ableugnen kannst, da ruft dich wer und will etwas von dir. Du blinzelst, siehst Schemen, reibst dir die Augen, hörst Reden, Schreie, Aufruhr, siehst ein Gewoge, bunt, wirbelnd und hörst: Unsere Geduld ist jetzt zu Ende.

So suchen sich unsere Gefühle Raum, unsere Gedanken beschreiben, was sich da zeigt, und Wörter drängen an die Oberfläche und fragen: Muss es denn sein, dass wir schon tot sind, wenn wir doch gerade mit dem Leben beginnen?

Viele von uns sind von zu Hause weg gelaufen. Jetzt vagabundieren wir durch Wohngemeinschaften, schlüpfen irgendwo unter, haben rasch wechselnde Beziehungen. Unser Gefühlsleben gleicht einer Achterbahn.

Einige Freiräume haben wir in den letzten Jahren erobert, und jetzt gilt es, von ihnen nicht abzulassen. Denn das, was wir sagen, und die Art, wie wir leben, das hält die Mehrheitsgesellschaft nicht aus. „Geht doch rüber“, ist noch die harmloseste Einladung für die, die sich den tradierten Rollenmustern verweigern und ganz und gar unverschämt eine gerechte Welt fordern, für ein Gleichgewicht von Natur und Zivilisation eintreten, auf Solidarität mit den Schwachen bestehen, auf die Emanzipation der III. Welt, auf den Völkerfrieden … Wir haben die Hoffnung, das Mögliche ist Teil der Realität.

Utopien sind Nicht-Orte, üblicherweise. Bundeskanzler Helmut Schmidt meint süffisant, wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen. Er meint uns und spricht laut aus, was die perspektivlos-versteinerten Mehrheiten denken, die zufrieden sind mit dem alltäglich immergleichen Leerlauf tausender unterschiedsloser Teilchen in einer geldgeölten großen Maschinerie. Klaus dagegen meint: „Unsere Möglichkeiten sind grenzenlos!“

Aufgewacht

Unser Blatt heißt einfach „Blatt“ und nach der sechsten Nummer steht auch der Untertitel fest: „Stadtzeitung für München“. Vierzehntägig erscheinen nun alternative Inserate, Hinweise auf die Veranstaltungen der „scene“ und der eine oder andere grundsätzliche Artikel. Motto: „Blatt wird zu einer Zeitung für uns alle, wenn Blatt von uns allen gemacht wird. Unser optisches Zeichen ist der kleine Baum auf der Titelseite. Das schöne an Bäumen ist, dass sie wachsen.“3

Klaus zeichnet das Logo. „Ist symbolisch“, meint er. Andere sagen, „so was brauchma net“. Irgendwann mal wird der Baum gefällt.

Tatsächlich sind die ersten Ausgaben erstaunlich ungelenk und harmlos, bessere Schülerzeitungen. Die Umschläge allerdings sind farbig. Klaus bastelt zunächst serielle Bildabfolgen. Bei Nummer 4 bis 6 wird dann experimentiert. Der erste Hintergrunddruck erfolgt mit drei Farben, die von links nach rechts in die Farbwanne gegeben werden, so dass in einem Druckvorgang alle drei Farben, sich an ihren Rändern vermischend, aufs Papier flower-power-mäßig aufgetragen werden. Je weiter die Auflage fortschreitet, desto mehr mischen sich die Farben. Schließlich setzt der zweite Druck auf die psychedelische Komposition Konturen in Schwarz.

Anfang August kommt Gerhard Seyfried vorbei. Er kümmert sich um das Layout. Da gibt’s eine Menge Lücken im Satz. Fotos, um die Löcher zu stopfen, sind nicht da. Gerhard zeichnet die weißen Stellen einfach zu. Manchmal nur mit Blödsinn. Aber dann entstehen akribisch fein gezeichnete Karikaturen, die wir alle toll finden.

Nach ein paar Wochen wäre eigentlich Ende gewesen, da schon bald einige Mitstreiter der ersten Generation erschöpft sind, genervt von oft sinnlosen Diskussionen oder etwas anderes vorhaben, aber – es kommen immer wieder neue Leute, die mitmachen wollen. Auch ich steige nach den ersten Nummern aus, komme aber dann immer mal wieder, um einen kleinen Beitrag zu liefern.

Das „Blatt“ wird zum Zentrum der Münchner Subkultur, expandiert unaufhaltsam, steigert seine Verkaufszahlen, wird in seinen redaktionellen Beiträgen immer besser, ist als Veranstaltungsprogramm unverzichtbar und bringt etwas eigenartig Neues, nie da Gewesenes in die Stadt: Es ist Sprachrohr von Gruppen, bringt Bewegungen zum Ausdruck, stärkt das Selbstbewusstsein und bietet nebenbei einen Kleinanzeigenmarkt, der auch Menschen anspricht, die sonst nichts mit Politik am Hut haben. Das „Blatt“ dürfte die erste alternative Stadtzeitung der BRD sein, kein Underground-Polit-Blatt wie die „883“ oder „Linkeck“ mit spezifischer Zielgruppe, wie es sie seit den späten 60er Jahren gibt. Es wird zum Vorbild für viele weitere Stadtzeitungs-Gründungen im Land.


Seyfrieds Kommentar zur Münchner Pressevielfalt im
„Blatt“ 24 vom 31. Mai 1974, 7.

Das „Blatt“ gibt sich ein Profil, spielerisch, unübersichtlich, undogmatisch und für alle offen, die ein Ziel vereint: Weg mit den herrschenden Gewalten, weg mit dem Patriarchat, der spießbürgerlichen Arroganz und Selbstzufriedenheit. Es zieht ganz besondere Menschen an, und das ist jetzt schon ziemlich ungerecht, bei den vielen Mitstreitern einige Namen nennen und andere dafür nicht: Adu Junkmann, Inge Heinrichs, Peter Schult, Wolfgang Stoye, Achim Meyer, Franz Maierhofer, Uta Kopp, Wolfgang „Jack“ Gartmann, Lutz Olbrich, Nana Ochmann, Werner Steigemann, Thomas Tielsch, Lothar Seelandt, Werner Eckl, Norbert Kölling … Klar, bald entsteht ein fester Stamm von Mitarbeitern, um diesen Kern herum assoziieren sich viele andere. Wir haben das Gefühl, hier können wir endlich sagen, was los ist. Aber noch wichtiger ist: Wir beginnen zu leben. Und das ohne Furcht und Aggressionen. Um die Stadtzeitung gruppieren sich auch die „Arbeitersache“, die „Basis Buchhandlung“, der „Trikont Verlag“, die „Rote Hilfe“ und verschiedene Initiativen und Stadtteilgruppen, die am ehesten der undogmatischen Linken zuzurechnen sind.

Ab und zu helfe ich beim Layout. Die grüne Tube FIXOGUM verströmt einen betörenden Duft. Für Überschriften benutzen wir halb transparente LETRASET-Bögen, durch die wir mit stumpfem Bleistift die Buchstaben reiben. Sylvia Seyfried hat die Texte auf einem Composer geschrieben, wir schneiden den Satz zu und passen ihn über den Lichttisch gebeugt auf DIN A4. Wenn Karikaturen oder grafische Elemente fehlen, zerlegen wir ein altes „Blatt“. Manche ältere Exemplare sehen wie Emmentaler aus.

Zuweilen verwechseln wir den Originalsatz mit einer Kopie, manchmal haben wir den Originalsatz so zerschnippelt, dass er unbrauchbar geworden ist, und nun müssen wir eine Kopie verwenden. Kein Wunder, dass im „Blatt“ einige Texte kaum zu entziffern sind.

Es wird heftig

Schon bald beginnen die Auseinandersetzungen mit Ordnungskräften, Staatsanwälten und Gerichten. Am 27. Februar 1975 entführt die „Bewegung 2. Juni“ den Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz. Dieser wird am 4. März im Austausch gegen inhaftierte Mitglieder verschiedener Stadtguerillagruppen, unter ihnen Rolf Pohle, ausgetauscht. Auf dem Titel des 41. „Blatt“ grinst ein Flugzeug, im Heft heißt es „Beiseite vom Riesenrummel um die bisher glänzend gelungene Befreiung der politischen Gefangenen …“4 Der verantwortliche Redakteur Anatol Gardner bekommt einen Strafbefehl über 80 Tagessätze à 40 DM, der später auf 1.800 DM ermäßigt wird.

Das Blatt-Kollektiv zählt die Berichte auf, die die Staatsanwaltschaft interessiert:

„Berichte über Antikernkraftgeschichten, Häuserbesetzungen, über Schwarzfahrergeschichten, MVV-Aktionen, Bürgerinitiativen à la Bärlocher und Leopoldpark, 218-Aktionen, ungenehmigte Demonstrationen, Fabrikbesetzungen, wilde Streiks, Notwehrungen, selbstredend Dokumente und Darstellungen von militanten Gruppen, in denen sie ihre Aktionen begründen, rechtfertigen oder den Sachverhalt aus ihrer Sicht gegenüber Polizeiberichten richtig stellen wollen: das kann bis zur ‚Unterstützung einer kriminellen Vereinigung’ geahndet werden. Neuerdings kommen auch Zeichnungen zu dem ganzen Kram dazu: Wenn du ein Flugzeug zeichnest, das zu lachen scheint (welches Flugzeug lacht schon wirklich?) – Bums – hast du – in den rechten Zusammenhang gerückt, eins übergebraten … So geschehen im 42. Blatt. Kurios ist weiter bei dieser 42. Blatt-Geschichte, die vom SA mit 3.200 DM oder achtzig Tagen Haft ‚bewertet’ wird, dass selbst das Layout (= die Anordnung der Artikel und Bilder, die grafische Gesamtgestaltung der Zeitung) nach Ansicht der SA kriminelle Tendenzen hat – und bestraft werden soll. Eine Staatsform gutzuheißen, innerhalb derer derartiger durchaus bühnenreifer Horror zum Alltag für viele gehört – dazu gehört schon ein ganz schönes Stück Selbsterniedrigung und Menschenverachtung; dazu gehört die Kunst, schamlos lügen zu können – eine Kunst, die wir nicht beherrschen; und viele mit uns.“5

Dass wir die Staatsanwaltschaft mit „SA“ abkürzen, stinkt ihr. Klar, wenn sie gegen dieses Etikett vorgeht, macht sie sich nur lächerlich. Dem Drecksblatt muss doch anders beizukommen sein. Am 7. April 1975 findet bei einem Mitarbeiter der Stadtzeitung in der Herzogstraße eine Hausdurchsuchung statt. Man vermutet die Unterstützung krimineller Terroristen. Im „Blatt“ heißt es:

„wieder nichts! – am 7. april – nicht wie gewohnt in den frühen morgenstunden, zur zeit, wenn der milchmann kommt, sondern am hellichten vormittag: mal wieder hausdurchsuchung in einer wohnung von Blatt-mitarbeitern in der herzogstraße. – 10 kriminaler, maschinenpistolen – alles dabei. – man verdächtigt wegen ‚unterstützung einer kriminellen vereinigung’. man vermutet in der wohnung ein münchner nest von 2.juni-flugBlatt-verteilern. – pech! nichts stimmt. die polizisten kramen umsonst, wühlen umsonst, bedrohen die wohnungsinsassen umsonst mit der maschinenwaffe. – und weils nie ganz ohne ‚erfolg’ geht, muss einer aus der wohngemeinschaft mit den scharfen waffenbrüdern mitkommen: vorläufig festgenommen – bis redaktionsschluss konnten wir noch nichts über ihn erfahren. – vor dem hause der verdächtigen wohnung parkt friedlich ein 2CV. wer weiß schon so auf anhieb, wo sich gerade der besitzer des gefährts aufhält? – die polizei weiß es nicht. das ist den scharfsinnigen spurenlesern grund genug, das auto eines kriminellen inhalts zu verdächtigen. was mag in ihm sein? man wills genau wissen und zerlegt kurzerhand den wagen, demontiert was zu demontieren ist, bricht ihn auf, durchwühlt ihn: – wieder nichts! – für die polizei ein grauer tag, ein wasserschlag. – die polizisten sollen nach hause gehen.“6

Immer öfter schlägt die Justiz zu: Armin Witt findet die Bemerkung des bayrischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel (CSU), dass zu lebenslanger Haft verurteilte Mörder, in diesem Fall Vera Brühne, nur nach mindestens achtzehn Jahren zu begnadigen seien, sehr fragwürdig. Schließlich sei der Nazi Hans Zöberlein, der noch kurz vor Kriegsende acht Einwohner von Penzberg aufhängen ließ, oder Hermann Schepp, der einen Jungkommunisten ermordet habe, schon nach neun Jahren entlassen worden. Witt nennt Goppel einen „ein wenig senilen Weißwurst-Präsidenten“.7 Für die bayerische Justiz ist das zu viel, sie verurteilt den verantwortlich zeichnenden Redakteur Gardner zu einer Geldstrafe von 1.800 DM wegen Beleidigung des Präsidenten.


„Blatt“ 48 vom 20. Juni 1975, 3.

Hanno Strohmeier hört im Radio, dass der nordrhein-westfälische Innenminister Willy Weyer meint, die Bevölkerung müsse an den Anblick von mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizisten genauso gewöhnt werden wie ans Steuerzahlen und listet im „Blatt“ 56 acht Fälle auf, in denen in letzter Zeit Polizisten Menschen schwer verletzt oder getötet haben. Daraufhin wird der verantwortlich zeichnende Redakteur Gardner wieder einmal wegen eines „Vergehens der Verunglimpfung des Staates“ angeklagt.

Protesten gegen die zu hohen Fahrscheinpreise im öffentlichen Nahverkehr häufen sich. Die Stadtzeitung veröffentlicht im Februar 1975 ein Gedicht, in dem die MVV-Fahrpreise gegen die Kosten des Fahrpreissystems aufgerechnet werden. Der Autor vermutet, dass die Einnahmen aus dem Verkauf von Fahrscheinen die Summe aller Ausgaben für den Tarifkomplex nicht decken. Am Ende werde sogar das Tarifsystem noch mit Steuergeldern subventioniert. Die Allgemeinheit würde kostenlos besser im und mit dem öffentlichen Nahverkehr fahren. Die Forderung lautet: Nulltarif! Und die, die das fordern, probieren neue Sabotage-Methoden aus.

Die Phantasie treibt bunte Blüten. Die einen imprägnieren ihre Fahrscheine mit Tapetenkleister, so dass die Stempelfarbe recht elegant wieder abgewaschen werden kann. Andere erinnern sich an ihren Chemieunterricht:


„Blatt“ 57 vom 14. November 1975, 5.

Ein Comic im „Blatt“ 57 warnt im November eindringlich vor der Beschädigung von Fahrkartenautomaten, indem er beschreibt, wie man dieselben beschädigen kann. Es kommt zu Strafanzeigen. Im Prozess gegen zwei Mitarbeiter der Stadtzeitung meint Rechtsanwalt Jerzy Montag ironisch grinsend, die Staatsanwaltschaft habe „‚nicht alle zur Belastung des Angeschuldigten dienenden Umstände in der Anklageschrift aufgeführt’, und mit der Bitte um Würdigung führt er dem Amtsgericht vor, dass die kriminelle Bosheit der Blatt-Leute das vom Staatsanwalt vermutete Ausmaß bei weitem übersteigt!“8

Auch über „Blatt“ 58 empört sich die Staatsanwaltschaft; es hagelt Geldstrafen.

Trübe Tage

Ab 1. Mai 1976, so der § 88a, wird mit bis zu drei Jahren Gefängnis oder mit Geldstrafe bestraft, wer Schriften, die das befürworten, was in der Auslegung des Gesetzes als Gewalt zu betrachten ist, und wer Schriften, die dazu bestimmt oder geeignet sind, die Bereitschaft zu Handlungen zu fördern, die dem Bestand der Sicherheit oder den Verfassungsgrundsätzen der Bundesrepublik Deutschland entgegenarbeiten, verbreitet, vorzeigt, zugänglich macht, darstellt, lagert, importiert oder exportiert.9


„Blatt“ 64 vom 20. Februar 1976, 4 f.

Im März bringt die Stadtzeitung in einem „ExtraBlatt“ unter dem Titel „Unterdrückung und Widerstand in der BRD – Zum § 88a usw.“ ein Poem von Alfred Andersch. Daraufhin wird der Schriftsteller von konservativer Seite angegriffen: Es sei unzulässig, die Maßnahmen des demokratischen Rechtsstaats mit den Maßnahmen des nationalsozialistischen Unrechtsstaats zu vergleichen. Heinrich Böll springt Alfred Andersch bei. Da im „ExtraBlatt“ Autorinnen und Autoren wie Luise Rinser, Hans Magnus Enzensberger, Volker Schlöndorff und Peter O. Chotjewitz schreiben, traut sich die Staatsanwaltschaft nicht einzuschreiten.


„ExtraBlatt“ vom März 1976, 33.

Am 15. April betreten fünf Herren die Redaktion und verlangen die Herausgabe der Nummer 68 der Stadtzeitung.

„Wegen Blatt Nr. 68 wurde im April eine Polizeiaktion gestartet. Die Polizei durchsuchte die Redaktionsräume und zwang alle Verkäufer – die Zeitung hat zu den normalen Vertriebswegen Zugang gefunden – eine beanstandete Seite herauszureißen oder zu schwärzen. Jeder Kiosk, jede Kneipe, jeder Laden, dem das Blatt zuzutrauen war, wurde ausgemacht und zur Herausgabe gezwungen. Auf Seite 38 war mitten im Veranstaltungskalender die Zeichnung eines Menschen zu sehen, der angeblich so etwas wie einen Molotow-Cocktail werfen soll. Dies Bildnis – aus der französischen Tageszeitung ‚Liberation’ ausgeschnitten, nebst den Wörtchen ‚right on’ – stellt angeblich in Wirklichkeit eine ‚Aufforderung zur Begehung strafbarer Handlungen (Brandstiftung)’ dar.“10

Die Blatt-Redaktion druckt Flugblätter, die über die Beschlagnahme informieren. Am 28. April betreten sechs Herren erneut die Redaktion und beschlagnahmen unter anderem auch diese Flugblätter. Die Absurdität der Ereignisse wird auch im Ausland wahrgenommen. In der in Stockholm erscheinenden Tageszeitung „Dagens Nyheter“ heißt es am 16. Mai:

„Bilderjagd in München – Die Stimmung in dem großen Geschäftslokal an der Adelgundenstraße in der Nähe der hässlichen schwarzen Statue Maximilians des II. in München ist gewöhnlich ‚gemütlich’. Von Montag bis Freitag geht dort das Volk aus und ein von früh bis spät. Man schreibt Schreibmaschine, beantwortet das Telefon, das gerade läutet oder man zeichnet und klebt. Man sollte nicht glauben, dass Uta, Lola, Wolfgang, Gerhard, Anatol oder Adu zu den Gefährlichsten der Bayerischen Hauptstadt gehören. Aber dies denken die Herren auf dem LKA, Landeskriminalamt, die Kriminalpolizei des Teilstaates. Das denkt der Staatsankläger des Staates. Fünf dieser Herren zogen in diesen Laden am Donnerstag, dem 15. April, kurz nach dem Mittagessen. Sie kamen nicht eher wieder heraus, bis sie 298 Exemplare der Zeitung ‚Blatt’ beschlagnahmt hatten, deren Redaktion just in der Adelgundenstraße 18 sitzt. Diese besteht aus den sechs obengenannten und einer unbekannten Zahl freiwilliger Mitarbeiter. Der Staat Bayern pflegt vorne zu liegen vor den übrigen neun Teilstaaten der Bundesrepublik, wenn es gilt alte oder neue Terrorparagraphen durchzusetzen. Das tat er auch an diesem Tag, als seine Dienstmänner der Anwendung des bekannten § 88a zuvorkamen, der noch nicht in Kraft getreten ist, durch einen sowohl lächerlichen als auch empörenden Eingriff gegen das Blatt. Blatt kommt seit drei Jahren jeden zweiten Mittwoch heraus. Die Auflage liegt nun bei 9.000 Exemplaren, aber den Leserkreis schätzt man auf 30.000. Viele Kommunen (WGs) halten nämlich ein Abonnement … Im letzten Jahr haben verschiedene Staatsankläger in München zusammengenommen 15.000 Kronen Strafe gefordert in verschiedenen Prozessen gegen das Blatt. Manchmal für ein Wort, manchmal für ein Bild. ‚Wir sind gefährlich. Wir müssen weg. Das ist es, was die wollen,’ sagt Uta in der Redaktion. Blatt antwortete mit einem Flugblatt, das die Polizeirazzia schilderte und reproduzierte das Bild … Am 28. April tauchten ‚die Herren’ wieder auf in der Adelgundenstraße. Sie waren zu sechst: zwei Staatsankläger und vier Polizisten in Zivil. Sie durchsuchten die Redaktion gründlich und beschlagnahmten obendrein 45 unzensierte Exemplare der Nummer 68. Um ihre Zeitungen zurückzuerhalten, mussten die Redakteure zur Polizei gehen und unter Bewachung selbst die gefährliche Seite 38 aus jedem Exemplar herausreißen! So geht es zu in Bayern. Der Täter muss selbst sein Werk zerstören!“11

So wendet sich das Blatt, scheinbar. Kritische Öffentlichkeit und noch dazu im Ausland hat man gar nicht gern. Ein mieses Image, das ist nicht gut für den Fremdenverkehr und mehr. Das Landgericht hebt die Beschlagnahme wieder auf, denn es sei in keiner Weise erkennbar, wohin die Brandflasche fliege oder geschleudert werde. Die Annahme, dass eine Brandstiftung begangen werden solle, sei eine „reine Spekulation“.12 Außerdem hätten die Worte „Right on“ nur zustimmenden, nicht aber auffordernden Charakter. In der Stadtzeitung heißt es: „Selbst wenn, wie beim 68. Blatt, die Beschlagnahme nach x Wochen aufgehoben und für rechtswidrig erklärt wird, so wird immer ein schaler Geschmack zurückbleiben. Gerade bei den Vertriebsstellen.“13

Die Ruhe währt nur kurz. Am 25. Mai durchsuchen Polizisten, unter ihnen auch Beamte des Bundeskriminalamts, erneut die Redaktionsräume. Auch dies wird wieder im Ausland wahrgenommen und kommentiert. Der Hohen Politik ist das jetzt wurscht. Die Süddeutsche Zeitung schreibt: „Die CSU-Landesleitung bezeichnete die Absicht (des französischen Staatspräsidenten) Mitterands (Gründung eines Komitees für die Verteidigung der bürgerlichen und beruflichen Freiheiten in der BRD) als eine unverfrorene Anmaßung. Ebenso wie bei der skandalösen Berichterstattung des belgischen Fernsehens und der Münchner Rede Alfred Grossers handle es sich dabei um einen Teil einer umfassenden, international gesteuerten Aktion mit doppeltem Zweck: die kommunistische Infiltration der Bundesrepublik durchgängig zu machen und eine antideutsche Stimmung in Europa zu erzeugen.“14

Im Oktober beschlagnahmt die Polizei das 79. „Blatt“:

„Neun bis zehn Tage nach Erscheinen setzten sich die Herren Gesetzeshüter in Marsch und kassierten das noch vorhandene Potential an 79. Blatt. Diesmal war es die Sitte, die zugeschlagen hat. Wie wir später und erst auf Drängen unseres Rechtsanwalts erfuhren, ging es diesmal um den Päderastie-Artikel, mit dem wir eine Diskussion über Sexualität und linke Moral in Gang bringen wollten, und die so jugendgefährdend ist, dass sie unbedingt auf den Index muss. Wer sich jetzt aber vorstellt, dass diese Herren die Redaktionsräume auf den Kopf gestellt hätten, um den letzten Rest Schmutz zu verhaften und unter Anklage zu stellen, liegt heute wirklich völlig falsch.

Betroffen sind (erst mal jedenfalls) die Kioske und Läden, und Kneipen und Kinos und Theater, also unsere Vertriebsstellen, die in gutem Glauben das Blatt ausgelegt und ein Titelblatt ausgehängt hatten. Denn die haben sich nach Auffassung des herrschenden Rechts schuldig gemacht, der ‚Verbreitung jugendgefährdender Schriften’. Das hat man ihnen zwar nicht überall gesagt, der Beschlagnahme-Beschluss wurde auch nur so vors Gesicht gehalten, dagelassen hat man in den wenigsten Fällen etwas Schriftliches, aber dafür wurde den Kioskbesitzern mit Anzeige gedroht und mit Ladenschließung, falls so ein Fall von ‚Verbreitung jugendgefährdender Schriften’ noch einmal vorkäme.

Man kann sich wohl vorstellen, wie das auf unsere Vertriebsstellen gewirkt hat. Wegen des Blatts die Existenz verlieren?

Die Sitten- und anderen Wächter sind streng. Ein Problem zu diskutieren, es tiefer anzugehen und zu lösen, das ist nicht ihre Aufgabe und überschreitet bei weitem den Bereich ihrer ohnehin schon geringen Kompetenzen. Aber immerhin reichen die soweit, eine Zeitung erst mal zu beschlagnahmen, die Vertriebsstellen einzuschüchtern und uns einen finanziellen Schaden zuzufügen. Denn anders als bei unseren Polit-Sachen, die wir – Blatt – selbst mit der Justiz ausfechten, gehn sie diesmal über die Vertriebsstellen vor. Wenn die Kioske eine Anzeige bekommen und Strafe zahlen müssen, wenn sie dann das Blatt nicht mehr verkaufen, trifft uns das natürlich hart. Außerdem droht uns bei einem zweiten Vorfall dieser Art eine Dauer-Indizierung. Dann wird, wenn überhaupt noch, das Blatt unterm Ladentisch gehandelt …

Von der Aktion der Polizei haben sich die Besitzer von elf Vertriebsstellen einschüchtern lassen: sie verkaufen das ‚Blatt’ nicht mehr. Viele andere sind verunsichert. So fragte einer in der Blattredaktion nach, ob er das 80. Blatt (soeben rausgekommen) verkaufen könne. Aber es gab auch Vertreiber, die den Blattleuten sagten: ‚Ist ja wie im 3. Reich’ und ‚Nu soll’n se mal kommen’. Gewesen sind die Sittenhüter bei 40 Vertriebsstellen, bei 25 haben sie insgesamt 350 Ausgaben vom Blatt 79 beschlagnahmt, ohne etwas Schriftliches wie Verfügung oder dergleichen vorzulegen. Dafür haben sie den Kioskbesitzern mit Anzeigen gedroht. Einer wurde genötigt: Er musste unterschreiben, dass er das ‚Blatt’ nicht mehr verkauft.“15

Ein Münchner Justizbeamter soll ausschließlich mit der Suche nach verdächtigen Äußerungen in der vierzehntäglichen Publikation, einschließlich ihres Kleinanzeigenteils, beschäftigt sein. Die vielen Haussuchungen, Razzien und Beschlagnahmungen gehen den Blatt-Machern ganz schön auf die Nerven.

Sogar der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof ermittelt wegen des „Verdachts der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“, gibt aber schließlich den Vorgang an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht München I ab. Der Gruppenleiter der Staatsanwaltschaft, Görlach, stellt zwar dieses Verfahren ein, fragt aber bei Jack Gartmann an, „ob Sie sich mit der formlosen Einziehung der am 18.8.76 in Ihrer Wohnung sichergestellten Schriften (Flugblatt ‚RZ’ und ‚Revolutionärer Zorn, Mai 75’) einverstanden erklären. Sie wollen weiter erklären, ob Sie sich mit der formlosen Einziehung der im ‚Basis-Buchladen’ am 18.8.76 sichergestellten 53 Exemplare der Druckschrift ‚Revolutionärer Zorn, Mai 76’ einverstanden erklären, weil Sie insoweit als Mitgewahrsamsinhaber in Betracht kommen. Sollte eine Einverständniserklärung mit der formlosen Einziehung nicht erteilt werden, muss die Einziehung der vorgenannten Druckschriften in einem objektiven Verfahren erfolgen, weil die Druckschriften einen solchen Inhalt haben, dass jede vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhaltes den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würde. Sie wollen sich insoweit bis spätestens 10.1.77 schriftlich erklären …“

Gartmann antwortet: „Betreff: Ihr objektives Verfahren – Vergelt’s Gott, Gruppenleiter! – Ihr Schreiben vom 21.12.76 ist mir heute mit Freuden unter dem Weihnachtsbaum in die Hände gefallen. Voll dankbarer Rührung erfahre ich somit von der Einschläferung Ihres Verdachts gegen mich, ich würde kriminelle Vereinigungen u.a. unterstützen, womit mein zwischenzeitlich doch manchmal etwas lädiertes Vertrauen in die bundesdeutsche Justiz endlich wieder voll hergestellt wurde. Denn schließlich bin ich schon seit Jahren in keinem Verein mehr Mitglied. Was Ihr sicherlich nett und freundlich gemeintes Angebot der formlosen Einziehung diverser Schriftstücke betrifft, die sowohl in meiner Wohnung als auch in der BASIS-Buchhandlung sichergestellt wurden, so muss ich es doch mit dem Ausdruck des Bedauerns ablehnen. Denn formlos mit Ihnen zu verkehren, ist nicht unbedingt das, was ich mir wünsche. Da bleibe ich doch lieber bei einem förmlichen Verhältnis zu Ihnen und erlaube mir daher, Ihnen im Namen der BASIS-Buchhandlung eine Rechnung über 53 Exemplare ‚Rev. Zorn, Mai 76’ (= DM 106.-) beizulegen. Bei den bei mir sichergestellten Gegenständen (Flugblatt ‚RZ’ und ‚Rev. Zorn, Mai 75’) traue ich mich nicht, Ihnen ein ähnliches Angebot zu machen, da bei der Durchsuchungsaktion vom 18.8.76 in der BASIS-Buchhandlung Ihre Kollegen vom BKA die Ausgabe Mai 75 offensichtlich für so wertlos hielten, dass sie die beiden Nummern sorgfältig trennten und nur die Ausgabe vom Mai 76 mitnahmen, während sie uns die Nr. vom Mai 75 zum weiteren Verkauf daließen. Daher mag ich Ihnen dieses Exemplar sowie das Flugblatt nicht in Rechnung stellen, sondern bitte Sie um prompte Rücksendung, zumal ich diese Schriftstücke auch dringend benötige für meine Sammlung zeitgenössischer Dokumente zur Verfassungswirklichkeit der BRD (zu der ich natürlich auch Ihr Schreiben abgeheftet habe).“16

Anfang 1977 sind gegen die Stadtzeitung – sie hat, so heißt es, jetzt eine Auflage von 25.000 – zehn Verfahren anhängig. Gehen sie verloren, bedeutet das das finanzielle Aus für die alternative Publikation.


Gerhard Seyfried bei einer Polizeikontrolle
Sammlung „Blatt, Basis, Trikont“, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

Seyfried wird zu einem der führenden Underground-Zeichner Deutschlands, der auch im Ausland häufig kopiert wird – sogar bis in die Gegenwart. 1977 geht er nach Berlin. Dort veröffentlicht er im „Rotbuch-Verlag“ die Cartoons der letzten zehn Jahre unter dem Titel „Wo soll das alles enden“. Immer häufiger zeichnet jetzt Hansi „Kif“ Kiefersauer fürs „Blatt“.


Karikatur von Kif im „Blatt“ 115 vom 24. Februar 1978, 4.

Nachdem am 19. Februar 1978 bei einer der Demonstrationen in Brockdorf zivil gekleidete, vermummte und schwer bewaffnete Männer des so genannten „Mobilen Einsatzkommandos“ der Polizei (MEK) mitmarschierten, provozierten und bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen auslösten, bringt das „Blatt“ im Schaufenster seiner Redaktion ein Plakat an, das Fotos von zwei vermummten Vertretern des MEK zeigt und mit folgendem Kommentar versieht: „Deutsche Polizisten sind die Terroristen – MEK: wenn wir nicht töten, provozieren wir.“17

Am 12. April betreten sechs Herrn und eine Dame die Redaktionsräume mit einem Durchsuchungsbefehl und beschlagnahmen das Plakat. Sechs Menschen, unter ihnen zufällige Besucher, werden zur erkennungsdienstlichen Behandlung mitgenommen. „Wir sehen dies als eine reine Einschüchterungsmaßnahme; das Plakat hing schon ziemlich lange im Schaufenster – auch diese Aktion muss man im Zusammenhang mit der von der Bundesregierung angestrebten ‚Austrocknung des Sympathisantenumfeldes’ sehen. Diese neue Wortschöpfung ist nichts anderes als ein Legitimationsversuch für die abenteuerlichen Fahndungsmethoden nach Bubacks Tod.“18

Vom April bis in den Mai hinein überwacht die Exekutive Einrichtungen der Münchner Linken exzessiv. Egal, ob du am Morgen auf die Straße trittst, oder wann immer du nach Hause kommst, auf der Straßenseite gegenüber steht ein Wagen mit zwei oder drei Männern drin. Sie sind in Zivil, tragen zum Teil längere Haare oder Bart, und wenn es kälter ist, hörst du das Summen der Standheizung. Manchmal steigt auch einer aus und geht hinter dir her. Wenn du ihn ansiehst, grinst er.

Am 15. Juni 1978 zieht die Stadtzeitung in das Ladenlokal in der Georgenstraße 123 um. In der Nummer 85 ist ein Flugblatt der „Revolutionären Zellen“ abgedruckt: Geldstrafe 1.600 DM. Auch die Ausgabe 114 wird beanstandet: Strafbefehl über 1.000 DM. Im „Blatt“ vom 7. Juli heißt es:

„Im 114. Blatt hatte unser frühverstorbenes Kind, das ‚Blatt im Blatt’ eine Karikatur veröffentlicht, die unübersehbar ein männchen-machendes Schwein darstellt. Diese Zeichnung und der danebenstehende Dialog (Ist das nicht der Richter vom Obersten Landesgericht? – Nein! Siehst Du nicht, dass das ein Schwein ist – Habs mir gleich gedacht, aber nicht getraut es laut zu sagen) waren Richter Garke 1.000,– DM wert. Strafbefehl wegen Beleidigung der Richterschaft des Bayrischen Obersten Landesgerichtes. Einspruch Euer Ehren, haben wir gesagt und bald wird sich das Schwein der Interpretation von Richtern, Anwälten und Staatsanwälten stellen müssen. Der Staat ist keine Pestbeule, schon gar nicht eine widernatürliche, meint Herr Hübner-Werner vom Kriminalkommissariat 14 und zeigt uns wegen Staatsverunglimpfung an. Im 119. Blatt stand in einem Artikel über MVV-Kontrolleure: ‚… wenn immer mehr MVV-Teilnehmer einsehen würden, dass auch Kontrolleure nur Menschen sind und keine Vorgesetzten, keine höheren Wesen, die den MVV oder besser gesagt den Staat, diese allgegenwärtige, widernatürliche Pestbeule, repräsentieren, als seien sie dessen Statthalter’. Im 98. Blatt war ein Foto des Polizisten Böttcher erschienen. Dies mussten wir mit 600,— DM als Verstoß gegen das Kunsturhebergesetz büßen – sonst würde gar am Schluss jede Zeitung Fotos veröffentlichen!“19

Der „Rheinische Merkur“ weiß zu berichten: „Von den über hundert Druckerzeugnissen kommunistischer Gruppierungen hat ‚Blatt’ vermutlich den größten Erfolg. Es gibt sich unabhängig und durchbricht so das Partei-Ghetto. Derweil ist die Nähe zum KBW unverkennbar. Und dieser wiederum hält nach außen hin klare Distanz zur Stadtguerilla der ‚Roten Armee Fraktion’.“ Der „Münchner Merkur“ vom 22. Oktober findet im „Blatt“ die „Rechtfertigung der Gewalt und Kneipentipps“, die „Süddeutsche Zeitung“ nennt das „Blatt“ „Baader-Meinhof-Blatt“ und der „Bayernkurier“ vom 8. Oktober schreibt: „Solange noch Pamphlete wie ‚Blatt’, die auf die Zerstörung unsres Staates hinarbeiten, für jedermann öffentlich am Kiosk für 1,50 erworben werden können, so lange wirken die beschwörenden und beschwichtigenden Kanzlerappelle in dieser kritischen Zeit nur als verbale Schaumschlägerei.“20

Im falschen Leben

Das geht Schlag auf Schlag. Du kommst kaum noch zum Nachdenken. Jetzt werde ich mal persönlich. Vieles ist kaputt. In dir. Altes Verhalten funktioniert nicht mehr. Neues habe ich nicht gelernt. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Richtig. Da kommt ein Anflug von Befriedigung, der sich gleich wieder auflöst. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Das ruckt und stampft und hämmert in deinem Schädel. Diese Welt ist ein Gefängnis.

Manchmal habe ich in diesen verwirrenden Zeiten lichte Augenblicke. Da frage ich mich, wieso ich so misstrauisch bin und manchmal auch so aggressiv? Da kann ich schon was erzählen.

Ich fuhr damals eine klapprige Karre mit einer roten Karosserie aus dünnem Blech. Du konntest sogar die Erhebungen vom Punktschweißen an den Nähten sehen. Und da bin ich gefahren, ich weiß nicht mehr, worum es ging; ich kutschierte um die Mittagszeit von der Landshuter Allee kommend über die Donnersberger Brücke und mitten drin, genau vor dem westlichen Eingang zur S-Bahn, wurde ich gestoppt. Ein Auto stellte sich vor mir quer hin, ich bremste, war verwirrt, aus einem zweiten Wagen neben mir sprangen Männer, zerrten mich aus meinem R4, schrieen mich an, schoben mich vor zur Motorhaube, drückten mich nieder, hielten meine Hände auf das kochend-heiße Blech. Ich versuchte, den Kopf, so gut es ging, zu heben; die Schmerzen an den Händen waren so stark, dass es mir das Wasser aus den Augen drückte. Undeutlich konnte ich zwei Männer sehen mit dicken Westen an und mit Maschinenpistolen.

Sofort standen hundert oder mehr Menschen da und sahen genüsslich zu, wie die Polizisten den R4 durchsuchten. Einer rief ganz laut „Kurzen Prozess“. Ein anderer: „Die hat man in Auschwitz beim Vergasen vergessen.“ Oft erlebt: Der Protest der Benachteiligten, die, abgefüllt mit den Versatzstücken der Herrschenden, empört sind, dass die Exekutive nicht hart genug durchgreift. Protest gegen Protest.

Mich drückten sie weiter nach unten, dass ich kaum noch Luft bekam und deshalb auch nicht schreien konnte. Die Durchsuchung des Autos dauerte nur ein paar Minuten, das Demütigende aber ließ die Zeit endlos werden. Dann ließen sie mich los und fuhren, ohne noch ein Wort zu sagen, ziemlich schnell weg. Ich hatte an den Händen, vor allen Dingen an der rechten Hand, dicke Brandblasen.

Die Leute standen da und redeten über mich, und ich war so fertig, dass ich zunächst mein Hemd wieder in die Hose stopfte und völlig verdattert in meine Mühle stieg. Es dauerte, bis die alte Karre ansprang. Erst zu Hause wurde mir so richtig klar, was geschehen war; ein paar Tage später erzählte ich es meinen Mitbewohnern.

Ich war niedergeschlagen, hoffnungslos: Wir sind ein kleines Häuflein, das dieser Apparat mit einer Handbewegung wegputzt, wenn er will. Wir sind gerade mal geduldet, ein Abschaum, auf den man spuckt. Beim Schreiben dieser Zeilen kommt die Scham wieder hoch. Gemischt mit Schuldgefühlen.

Auch ein Effekt! Wer sich schämt, will am liebsten unsichtbar werden, am besten sich verstecken wie die meisten Erwerbslosen, die sich nicht wehren. Wehren kann sich erst, wer erkannt hat, dass Scham lähmt.

Und dann erlebtest du wieder Überraschendes, hattest kleine Hoffnungen. Herr B., Beamter bei der „Allianz“, schrieb, dass er froh sei, dass es das „Blatt“ gibt. Frau E., die bald 65 Jahre alt wurde und eine gepflegte Dauerwelle trug, hatte der Redaktion einen Kuchen gebacken. Sie brachte ihn vorbei und wir alle waren etwas unbeholfen, waren äußerst höflich, räumten Platz frei. Auch Frau E. war ein wenig unsicher. Sie meinte, wir sollen weitermachen.

Inzwischen hatte der Staat einige von uns hingerichtet. Georg von Rauch erschossen und Petra Schelm, Holger Meins und Katharina Hammerschmidt haben sie qualvoll krepieren lassen.

Ich hatte – und ich sage das ganz offen – auch Angst. Demütigungen kannte ich, geschlagen zu werden bin ich gewohnt, auch wenn der Widerwille sich inzwischen zur Wut ausgewachsen hatte, zu einer blinden Wut, die zuweilen nicht mehr unterscheiden kann, aber der Tod … Hass war es nicht. Unter Hass, denke ich, leidet immer nur der, der hasst. Die Gehassten wissen gar nichts von ihrem „Glück“. Besser, du verstehst, warum strukturelle Gewalt so ist, wie sie ist, und du greifst sie sinnvoll an, weil du sie verstehst. Hass macht dich nur selber fertig.

Ab und zu beim „Blatt“ aushelfen, das geschah so nebenbei aus Freundschaft. Da gab es auch noch zwei, drei weitere politische Betätigungsfelder neben der alltäglichen Arbeit, die ja auch getan werden musste, um Miete und Essen zu bezahlen.

Einige von uns trafen sich, um Aktionen gegen die staatliche Repression zu planen. Nach Mitternacht gab ich mir dann manchmal im „Alten Ofen“ in der Zieblandstraße ein frisches Fleischpflanzl. Dazu ein Bier und noch mit Freunden sprechen. Schließlich gings heim. Unsere WG war nicht weit, in der Georgenstraße bei der Kreuzung Hiltenspergerstraße. Es war etwa 2 Uhr früh mitten im November.

Die Straßenbeleuchtung drang kaum durch den Nebel, der das Tappen meiner Schritte verschluckte. Es war nichts Auffälliges zu sehen, halt einige geparkte Fahrzeuge wie immer. Hinter dem Hoftor des Gründerzeithauses, in dem unsere WG im dritten Stock hauste, führte ein breiter Gang, von ihm ausgehend begann rechter Hand die Treppe, die ins Treppenhaus mündete. Ich tastete nach dem Lichtschalter, drückte ihn. Das laute Klappen, wenn das Licht angeht, blieb aus. Ich tastete mich durch die Dunkelheit, fand die Treppe, wollte nach oben.

Es ging rasend schnell. Während einer mich von oben kommend runter schubste, fing mich ein zweiter auf und ein dritter riss mir die Arme nach hinten. Zwei grell leuchtende Lampen blendeten mich, sie fesselten mich, zerrten mich raus auf die Straße und schmissen mich wie ein Stück Vieh in die bereit stehende Wanne. Rrrrrrums, die Schiebetür war zu.

Die Fahrt dauerte. Man ließ sich Zeit. Nach der Ankunft das Übliche. Erkennungsdienst nicht mehr nötig. Das alles hatten sie schon längst. Aber Fragen über Fragen mit drohendem Unterton. Sie schüchterten ein, ließen dir die viel zu engen Handschellen dran, stießen dir immer mal wieder gegen das Schienbein. Du wusstest, du bist ein Nichts, und du wusstest: Irgendetwas sagen ist schon ein Fehler. Du schwiegst, die Uniformen grinsten. Nach ein paar Stunden ließen sie dich laufen. Durch den Nebel drang erstes Tageslicht. Auch das war mehr als erniedrigend. Aber vielleicht kapierst Du jetzt, warum einer, der noch jung ist, militant wird.

Was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Auch so ein Satz. Und dann der Gedanke: Was solls! Vor 1945 ging es ganz anders zur Sache. Dagegen ist das, was du heute erlebst, läppisch. Nimm dich nicht so wichtig.

Andere nahmen sich auch nicht so wichtig. So nebenbei bemerkt kamen im „Blatt“ Leute zu Wort wie der Achternbusch, der Bierbichler, der Polt, Vlado Kristl, die Biermösln, der Zimmerschied, der Carl Amery und viele mehr, die sich das auch trauten, die keine Scheu hatten davor, in „diesem“ Blatt aufzutauchen und vielleicht der sympathisantenhaften Komplizenschaft beschuldigt zu werden.

So ganz eindeutig war das ja nie! Eine Handvoll Terroristen gegen die ganze Gesellschaft, das war der herrschende Tenor in der herkömmlichen Presse. Manchmal glaubtest du das auch. Tatsächlich gab es immer wieder Leute, von denen du es gar nicht erwartetest, die sprachen voller Hochachtung von der Stadtguerilla. Das waren oft überraschende Begegnungen. Sicher ist die Auflage der Stadtzeitung auch deshalb so hochgesprungen, weil sie das einzige Medium war, in dem etwas anderes stand als in den übrigen Blättern.

Die Mainstream-Medien sorgten unisono für Stimmung, aber die konnte auch kippen: Im Herbst 1977 sprach auf einer FDP-Versammlung beim Siedlerfest in Freimann Bundeslandwirtschaftsminister Ertl. Er bezeichnete Sympathisanten als „Mithelfer von Verbrechen“ und erntete dafür Pfiffe und Gelächter. Nach einem Bundesligaspiel der 60er, das einige Wochen später stattfand und verloren ging, riefen Fans Parolen wie „Es lebe die RAF“ und „Baader, Baader, wir wollen noch mehr Tote“21 Politische Motive, so meinte die Polizei, seien für die Handlungsweise der Fans nicht erkennbar.

Klar, es ging hier nur um Stimmungen, nicht um politisches Bewusstsein in den Köpfen einer Mehrheitsgesellschaft. Da konntest du schon alle Hoffnung fahren lassen. Gerade deshalb kam der Spaß zuerst, denn Frechheit steckt an. Da stand im „Blatt“:

„Ampfnwampfn, Braffers Änsistas – wrtnlostr gut reden rhätoretzki müßte plitr man spratzki können! kurs für achuhucha atem- vrost und rhabar sprechtechnik ab 26.2. in djädlnit haidhauser wrotni werkstatt naduprtl im nasch musäum haidhausen, chagaslegs kirchenstr. 24 vonski undra mitski kay ken derrick. – auskunft vorher jd. Freit. ab 18 h im musäum“22

Kay Ken Derrick von der „Haidhauser Literaturwerkstatt“ lachte alle die aus, die ihn ansprachen und meinten: „Du, das verstehn die Leut doch nicht!“ Derrick: „Wenn DU es nicht verstehst, dann sags MIR, aber versteck Dich nicht hinter anderen. Die sind nämlich nicht so blöd wie Du!“

Es geht bergab

So locker-flockig die Blatt-Schreibe ist, die Redaktionskonferenzen sind oft grauenhaft. Beständig kommt jemand und beschwert sich über den oder jenen Artikel, poltert rum, weil ein Artikel nicht erschienen ist oder findet die SM-Anzeigen bei den Kontakten eine Sauerei. Das Blatt-Kollektiv fühlt sich oft eher als benutzter Erfüllungsgehilfe der verschiedensten, wie selbstverständlich erhobenen Ansprüche denn als politischer Akteur. Außerdem streben die verschiedenen Fraktionen der „scene“ immer mehr auseinander, kochen ihr eigenes Süppchen und machen zuweilen ihre eigene Zeitung wie den „Spion. Zeitung für München“.

Die Szene bröckelt, nicht wenige gehen zu den „Grünen“, was sie später bitter bereuen. Da hilft auch kein Appell: Leute, schaut doch mal über den Tellerrand Eurer Gruppe; es gibt nicht nur Anti-Atomkraft, nur Friedensbewegung, nur Anti-Psychiatrie, nur bio-dynamische Ernährung, nur Flughafen im Erdinger Moos, nur Häuserkampf, nur Feminismus, nur „grüne“ Partei, nur Knastarbeit, nur schwule Emanzipation …

Schließlich wächst eine jüngere Generation mit einer neuen, anderen Sprache und einem neuen und anderen Selbstverständnis nach. Punks und „Freizeit ’81“ orientieren sich jenseits der Stadtzeitung. Eine Zeitlang diente das „Blatt“ als Klammer für die Szene, aber langsam geht ihm die Puste aus.

Für den presserechtlich Blatt-Verantwortlichen erfolgt im Februar 1980 wieder mal ein Strafbefehl über 400 DM. Zugleich finden Ermittlungen gegen „Blatt“ 177, 178 und 179 statt. Im Mai 1981 wird die Nummer 194 beschlagnahmt. Bis jetzt weiß keiner, wie viele Haussuchungen, Anzeigen, Beschlagnahmungen und Prozesse stattgefunden haben.

Inzwischen haben Großverlage den Braten gerochen. Sie entdecken im Metropolenmagazin ein neues lukratives Geschäftsmodell. Das „Blatt“ bekommt kommerzielle Konkurrenz. In Berlin, Hamburg, Frankfurt, Hannover und auch in München entstehen „Stadtmagazine“. Beim „Blatt“ bleiben die Anzeigen aus, die Abozahlen sinken.

Anfang 1984 verschickt das „Blatt“ einen Aufruf „Grüße an politische Gefangene“ als Beilage zum Heft. „Sicherlich nicht zum ersten und wohl auch nicht zum letzten Mal durchsuchten fünfzehn Herren des Morgengrauens (darunter eine weibliche Person) am 19. Februar 1984 die Redaktionsräume des Blatts. Stadtzeitung für München … In ihrer Tasche trugen die LKA-Männer einen Beschlagnahme- und Durchsuchungsbeschluss ausgestellt vom Ermittlungsrichter des Bayerischen Obersten Landesgerichts namens Dr. Uschold. Aufhänger des Beschlusses war eine Beilage im Blatt Nr. 263 unter dem Titel ‚Aufruf — Grüße an politische Gefangene’ … Nach Rücksprache mit einem Rechtsanwalt begab sich der presserechtlich Verantwortliche W.S. in den Gewahrsam der LKA’s, wurde voll ED-behandelt, auch sein überaus bairischer Dialekt wurde nun endlich amtsbekannt … An den darauf folgenden Wochen des bitterkalten Februars flatterten den anderen Blattkollektivmitgliedern Zettel auf den Tisch. Auch sie wurden Gegenstand eines Verfahrens nach § 129a StGB. Als Kollektiv werden sie insgesamt für den Inhalt verantwortlich gemacht, nicht nur der presserechtlich Verantwortliche. (Bleibt abzuwarten, wann sie selbiges bei der TAZ versuchen und gleich die ganze Mannschaft einkassieren. Dann können sie endlich Prozesskäfige bauen wie in Italien oder so einen richtigen Massenprozess nach türkischem Vorbild veranstalten.) Also ein Angriff auf das gesamte Blatt und eine neue Qualität der Vernichtungsstrategen. Aber damit nicht genug. Am 9. März 1984 erscheinen die LKA’s beim Blatt-Drucker, schnüffeln herum und lassen durchblicken, dass auch ihm ein § 129a-Verfahren blühen kann … Am 13. März 1984 erhalten sämtliche Kollektivmitglieder ein formloses Schreiben, in dem mitgeteilt wird, dass in Sachen Blatt Nr. 264 und Nr. 265 wegen „Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ ein Ermittlungsverfahren eingeleitet ist! Es geht diesmal um eine „Presseerklärung“ der Angehörigen der politischen Gefangenen in der BRD, die zweimal im Blatt abgedruckt war. (Das erste Mal wurde sie durch einen technischen Fehler verfälscht.) Diese Erklärung befasst sich fast ausschließlich mit der Situation von B. Rössner, enthält Informationen über die Schikanen gegenüber Gefangenen & Angehörigen und endet mit der lange, lange Jahre sattsam bekannten Zusammenlegungsforderung. Dies reicht ihnen bereits.“23

Mitte März ist das Blatt-Kollektiv mit vier Verfahren, davon drei wegen § 129a StGB konfrontiert.

Wie hält das „Blatt“ das aus!? Wenn mehrere Ermittlungsverfahren gleichzeitig laufen, wenn klar ist, das nächste kommt wie das Amen in der Kirche!? Diese Redaktion steht da wie eine Eins. Der verantwortliche Redakteur hat ein breites Kreuz. Nimm dir daran ein Beispiel. Am „Blatt“ kann man sich festhalten, wenn einem der Boden unter den Füßen wegrutscht. Mir fällt ein, vor hundert Jahren gab es bei sozialdemokratischen Zeitungen den „Sitzredakteur“, einer, der pro forma die Verantwortung übernahm, um dann, wenn das Urteil gesprochen war, in den Knast zu gehen und dort zu „sitzen“.

Aber da ist viel mehr als dieses breite Kreuz. Alle Anstrengung, alle Mühe, sich zusammen zu nehmen, verkrampft und macht genauso krank wie diese kranke Gesellschaft, macht uns noch kränker. Wenn du den Giftschwaden, die du bekämpfst, allzu nahe kommst, fängst auch du an zu stinken.

Im März/April 1984 kommt es zu weiteren Verfahren gegen „Blatt“ 263, 264 und 265. — Am 14. Juni erscheint die Notausgabe. Der Konkurs ist unausweichlich. Das „Blatt“ stellt sein Erscheinen ein.

Es hat immer noch eine Auflage von 6.000 Exemplaren, von denen mindestens 4.500 verkauft werden, aber die Schulden sind erdrückend.

Damit Geschäftsführer Uwe Feigl die Schulden abzahlen kann, finden Benefizkonzerte statt. Es spielen „Embryo“ und viele andere. Auch Kabarettist Dieter Hildebrandt bestreitet einen gut besuchten Soli-Abend. Und die Druckerei verzichtet solidarisch auf das Begleichen der letzten offen stehenden Rechnungen.

Die Blattmacher sind stur. Wenn Stadtzeitungen in anderen Städten vom Trend der Zeit zur Kommerzialisierung getrieben ihre Konzepte verändern – wir machen da nicht mit. Mögen die anderen zu Stadtillustrierten mutieren, die Schritt für Schritt auf das Konzept der Gegenöffentlichkeit verzichten, sich vom Gedanken der „Zeitung von uns für uns“ verabschieden, sich auf eine urbane, linksliberale, aktive Zielgruppe mit kulturafinem Freizeitverhalten beziehen und sich damit auch nur noch am Markt orientieren, wir nicht!

Aufhören, wenn es Zeit ist. Scheitern ist Bestandteil unseres Lebens. Wir sind die romantischen Verlierer. Und jetzt machen wir was anderes. Was genau, sagen wir Euch aber nicht. So traurig das Ende, das Gute dabei ist: Wir gewinnen ein neues Leben.

Zum Glück gibt es da so etwas wie lächelnde Intuition, die einen Sog erzeugt. Eine Lockerheit der Selbstgewissheit, die dir sagt, schau, Alter, wenn du geprügelt wirst, heißt das noch lange nicht, dass du im Unrecht bist. Nein, noch besser: Die Prügel wollen Eindruck schinden, wollen einschüchtern, und sie beweisen nachgerade, dass du recht hast. Sie sind nur lächerlich. Lass sie, die diese alte, verrottete Welt mit Zähnen und Klauen gegen uns verteidigen. Sie können dir nichts anhaben. Sie bewegen sich noch, sind aber eigentlich schon tot. Lasst uns diese armen Schweine auslachen.

Dieses innere feeling schwingt da immer mit. Und deshalb passen wir in keine Schubladen, sind unberechenbar und damit unkontrollierbar.

Öha, sagst Du da, das ist ja ganz nett, aber wieso erzählst Du das? Erst behauptest Du, wer sich erinnert, war nicht dabei, und dann dämmert dir so mancherlei. Seltsam! Hier stimmt was nicht.

Klar, sage ich, das stimmt auch nicht, das ist ziemlich unscharf, woran ich mich da erinnere, und wer kann die Grenze ziehen zwischen der Legende, die ich jetzt mitbilde und die sich verselbständigt, und der nüchternen Ereignisfolge seinerzeit. Jack Gartmann oder Gerd Hortmeyer erinnern sich an ganz andere Dinge, ich war ja nur am Rand dabei. Also, nimm das, was ich sage, nicht allzu ernst. Ich bin schon froh, wenn Du die, die das „Blatt“ gemacht haben, nicht für naive Idioten hältst.

Leute, nur Ihr könnt die Spreu vom Weizen trennen und feststellen, wie es wirklich war. Je mehr einer erzählt, desto falscher wird seine Geschichte. Deshalb hör ich jetzt auf damit.

Günther Gerstenberg


„Blatt“ 87 vom 4. Februar 1977, 15.


1 Der Titel dieses Textes stammt von einem Lied, das Tommi häufig auf Kundgebungen der Szene gesungen hat.

2 Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

3 Blatt. Vierzehn Tage Münchner Möglichkeiten 1 vom 6. Juli 1973, 2.

4 Blatt. Stadtzeitung für München 41 vom 7. März 1975, 3.

5 Blatt 61 vom 9. Januar 1976, 4 f.

6 Blatt 43 vom 11. April 1975, 7.

7 Blatt 48 vom 20. Juni 1975, 11.

8 Monika Döring u.a. (Hg.), Beschlagnahmt, Berlin 1976, 122 ff. Vgl. dazu auch Süddeutsche Zeitung vom 17. Mai 1976, 15.

9 Siehe www.lexetius.com/StGB/88a.

10 Monika Döring u.a. (Hg.), Beschlagnahmt, Berlin 1976, 122.

11 Blatt 71 vom 4. Juni 1976, 6.

12 Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten ID 134 vom 16. Juli 1976.

13 Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten ID 149 vom 30. Oktober 1976.

14 Süddeutsche Zeitung vom 29. Mai 1976.

15 Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten ID 149 vom 30. Oktober 1976.

16 Blatt 85 vom 14. Januar 1977, 29.

17 Blatt 92 vom 22. April 1977, 4.

18 A.a.O.

19 Blatt 124 vom 7. Juli 1978, 4.

20 Blatt 106 vom 21. Oktober 1977, 4.

21 Süddeutsche Zeitung vom 7. Oktober 1977 und Süddeutsche Zeitung vom 24. Oktober 1977.

22 Blatt 165 vom 8. Februar 1980, 3.

23 Handschriftliches Manuskript, Material „Blatt“, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

Überraschung

Jahr: 1984
Bereich: Alternative Medien