Materialien 1979

Luise in den Kaufhäusern

… Am Morgen hatte L. verschlafen. Als sie zur Arbeit lief, fiel die Sonne schon hell zwischen die hohen, alten Häuser in die Straße, die sie in Licht und Schatten zerschnitt. Weiß und frostig waren die schwarzen, laublosen Bäume auf der einen Straßenseite von Reif überzogen. Die auf der ande-
ren Seite glänzten in flutendem Licht, nach dem die dunklen Äste sich streckten. Noch einmal aufblitzend, in der Luft schon zerstäubend, stürzten die großen Tropfen des zu Tau geschmolzenen Reifs auf das Pflaster der Straße.

Im Büro wollte F., der Abteilungsleiter, sie sprechen, „Nehmen Sie doch bitte Platz“, sagte er,
als sie eintrat. „Es tut mir leid, Ihnen diese Mitteilung machen zu müssen, aber durch das neue Arbeitserleichterungsprogramm musste Ihre Stelle im Büro leider gestrichen werden. Aber in der Kantine ist ein Platz frei geworden. Wenn Sie wollen, können Sie dort arbeiten. Die Umstellung wird Ihnen sicher nicht schwer fallen. Darf ich Ihnen also diese Stelle frei halten?“

L., die schon bei den ersten Worten des Abteilungsleiters zusammengefahren war, griff nach der Stuhllehne, wollte gleich etwas entgegnen, zögerte, öffnete den Mund halb, zögerte wieder, schwieg eine Weile und sagte schließlich leise: „Ja, es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mir die Stelle frei halten wollen. Wann kann ich dort anfangen?“

„Zum nächsten Ersten. Bis dahin bleiben Sie selbstverständlich im Büro. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis.“

Beim Essen in der Kantine saß L. etwas abseits am Fenster. Sie aß nichts. Ihr linkes Knie zitterte heftig. Sie konnte sich nicht mehr halten. Sie lief auf die Toilette, schloss sich ein, setzte sich auf den Klodeckel und wartete, bis die Mittagspause vorüber war.

L. hörte an diesem Tag früh zu arbeiten auf. Sie lief durch die Etagen eines Kaufhauses ohne zu wissen, wo sie war. Sie sah und hörte niemanden. Alles war so weit weg. In der Musikabteilung blieb sie plötzlich stehen und schaute auf ein paar junge Leute, die gerade eine Platte aufgelegt hatten, die sie vor langer Zeit schon einmal gehört hatte. Es waren die Doors. L. trat an die Musikanlage heran, drehte plötzlich den Lautstärkeregler des Verstärkers voll auf, schob die erstaunte Verkäuferin beiseite, die in ihrem weißen Kittel nicht wusste, wie ihr geschah, und begann abzuräumen.

Sie packte ein paar Platten, warf sie zu Boden und trat mit den Füßen darüber, versuchte, ein Regal umzustoßen. Die Verkäuferin stand bleich und untätig da. Die Musik dröhnte. Alle Leute in der ganzen Etage waren stehen geblieben. Laut und wütend drang Jim Morrrison in die Gardinen-
abteilung: „Break on through to the other side …“ L. war inzwischen weiter gelaufen, hatte ein Regal mit Vasen umgestoßen, dass es klirrte und schepperte, und begann gerade, Kofferradios auf japanisches Teegeschirr zu werfen, als sie drei Männer von der Herren-Oberbekleidung ergriffen. L. schlug mit allen Vieren um sich. Die Doors spielten „L. A. Woman“. Später, als die Polizei schon da war, saß sie ganz ruhig da. Sie antwortete auf keine Fragen.

In der Klinik waren alle sehr nett zu ihr. Die Ärzte sagten, sie werde sich bald wieder erholen. Es wäre wohl alles durch gewisse Fehlfunktionen des Nervensystems ausgelöst worden. Anzeichen einer endogenen Schizophrenie lägen nicht vor. Man könne beruhigt sein. In ein paar Monaten wäre sie wohl wieder auf dem Damm. Auf ärztliche Befragungen antwortete L., es ginge ihr gut. Auch die Arbeit sei nicht schwer. Das Verpacken von Kosmetikartikeln sei eine sehr beruhigende Tätigkeit. Ja, sie sei zufrieden. Nein, sie könne sich nicht beklagen.

Roland Dörfler


Mode & Verzweiflung 3 vom Frühling/Sommer 1979, 19 f.