Materialien 1947

Der Schrei nach dem Maulkorb

Das ist bei uns ein ehrwürdiges Thema. Es beginnt ungefähr mit des „epistolae obscurorum virorum“ und setzt sich mit den Schreibverboten gegen Lessing fort. 1819 kommt Metternich mit den Karlsbader Beschlüssen. Es folgen die Presseunterdrückungsgesetze des wilhelminischen Deutschlands und schließlich, nach den weimaraner Zwischenspielen, kommt in Bayern – um-
rahmt von rückständigen Schulgesetzen – jene Verfassung, als deren Vater sich augenblicklich noch Dr. Wilhelm Högner gerne nennen hört. Kurzum: Die Presseknebelung der Nazis fußt auf einer alten Tradition.

Damals wie heute immer die gleiche Leier. Der „Untertan“ in uns, der Unteroffizier, der Chargierte, der SA- und SS-Mann kurz „Hitler in uns“ erfindet unaufhörlich neue Ausreden, um der Kritik und Satire, um der Presse- und Meinungsfreiheit immer wieder einmal das Lebenslicht auszublasen. Sie ist der Feind, der Urfeind des ewigen Untertans, des getarnten Nazis. Ohne Kritik aber gibt es keine Demokratie. Position und Opposition, These und Antithese, Satz und Gegensatz sind die notwendigen Elemente jeder wirklichen Demokratie.

Nun geht es also wieder einmal los! Wie auf Kommando erhebt sich ein Chorus in den Parlamen-
ten und stürzt sich auf die Presse; jene Presse, die Lizenzpresse, die sich ohnehin in behutsamer Loyalität kaum genug tun kann. Selbst diese Presse (der wir – im Zeitungsstil gesprochen – in objektiver Würdigung und bei Innehaltung strengster und nahezu schon steriler Neutralität die Anerkennung dafür nicht verweigern können, dass sie für den Aufbau einer wirklichen Demokratie bisher mehr geleistet hat als die Parlamente), selbst sie geht den Volksvertretern schon derart auf die Nerven, dass sie vor Entsetzen toben.

Wie in Bayern der Fraktionssekretär der SPD, v. Knoeringen, den Angriff auf die Pressefreiheit „begründete“, so in Hessen’s Parlament der SPD-Fraktionsvorsitzende selbst, Er gab, so schrieb
die Neue Zeitung am 28. 4. das Stichwort zu „tumultartigen Szenen“. Und aus der Fraktion der SPD erscholl der Ruf: „Die SPD ist gegen die Pressefreiheit!“

In beiden Fällen freilich waltete hier ein Irrtum. In beiden Fällen vertraten nur die Landtags-
fraktionen derartige Parolen gegen die Pressefreiheit und keineswegs die sozialdemokratischen Parteien der Länder selbst.

Dass CDU und CSU – bei ihrem vielfach nazibelasteten Personalbestand – die Pressefreiheit unangenehm empfinden, ist begreiflich; dass die koalitionspolitische Atmosphäre in beiden Landtagen aber bereits auch die Fraktionen der SPD jeweils so stark beeinflusst hat, das ist neu. Das ist ein entschiedener Fortschritt. Es fragt sich nur: wohin?

Diese panische Furcht vor der Öffentlichkeit, dieser Hass auf eine Presse, die sich bemüht, der noch so schwachen Demokratie auf die Beine zu helfen, ist typisch; um so typischer, als die Mehrheit der Lizenzträger und Schriftleiter der von den SPD-Fraktionen so heftig angegriffenen Presse ja selbst Sozialdemokraten sind. Das, was sich hier äußert, kann nur eines sein: entweder schlechtes Gewissen oder ein wahrhaft greisenhaftes Ruhebedürfnis. Was muss gegebenenfalls da alles zu verbergen und zu verstecken sein, dass sich sogar die Fraktionen der SPD – keineswegs die Partei! – mit den Dunkelmännern und Scheindemokraten aller Schattierung in eine Front stellen.

Eines der Motive ist klar: In unserer Lizenzpresse gibt es keine offenen und getarnten Nazis. In ihr gibt es in summa nur wirkliche Demokraten.

In ihr wimmelt es nicht von Nazinutznießern, die sich noch irgendwie zu fürchten haben. In ihr sind keine Leute mehr am Werk, die etwa von 1933 bis 1945 in Nazidiensten standen, die von den Nazis für treue Dienstleistungen befördert wurden und die nunmehr aktiven Kämpfern gegen die Nazis Demokratie lehren wollen.

„Destruktive Kritik“, was das ist? Das ist das, wenn ein als Demokrat getarnter Nazinutznießer entlarvt wird. Das ist das, wenn einer aus der breiten Front der Überzeugungsschwindler heraus-
gegriffen wird, um Unheil zu verhüten. („Wir waren doch gar keine Nazis von 1933 bis 1945, wir haben doch nur so getan, als ob wir Nazis wären, um auch während der Nazizeit unser Gehalt einstecken zu können.“)

Schon längst gibt es bei uns eine heimliche neue Gesellschaft; eine Gesellschaft zur gegenseitigen Deckung der Nazinutznießer, eine Gesellschaft mit gegenseitiger Haftung G.m.g.H. Wird einer
von den Aktionären dieser Gilde gefischt, dann schreit der Chorus sogleich unisono: „Destruktive Kritik!“, so wie er vorher 12 Jahre lang „Heil Hitler“ schrie und „Wir fahren gegen Engelland“ usw.

Hier steckt ein ernstes Problem. Hier sind zwei verschiedene Maßstäbe am Werk: jener der Über-
zeugungsschwindler und Nazinutznießer und der Überzeugungstäter und Naziopfer. Das ist der Kern der Sache. Die Flut der Nutznießer versucht nunmehr den wirklichen Demokraten ihren Maßstab aufzuzwingen. Das aber kann nur dann gelingen, wenn der Kritik ein Maulkorb ange-
hängt wird; wenn die Presse und die Meinungsfreiheit wiederum geknebelt werden könnten, wie
in der guten alten Maulkorbzeit von anno domini bis 1945.


Der Simpl. Kunst, Karikatur, Kritik 7 vom Mai 1947, 82.

Überraschung

Jahr: 1947
Bereich: Zensur