Materialien 1946

Eine Führung durch die Bayerische Verfassung

Meine Damen und Herren! Wir bitten um Ihre gefällige Aufmerksamkeit, denn sie bekommen heute eine Ausstellung des bayrischen Verfassungsentwurfes zu sehen. Wir befinden uns hier zunächst in der Deutschen Reichsehrenhalle.


Sie sieht noch recht nackt aus und nur dort auf der weiß-blauen Fahne thront einsam der Art. 1:

1. Bayern ist ein Freistaat.
2. Die Landesfarben sind weiß und blau.
3. Das Landeswappen wird durch Gesetz bestimmt.

Das darunter liegende Wappen ist ein Entwurf, der jedoch den Gegenstand ganz richtig zu treffen scheint.

Daneben finden Sie Art. 11 (4):

Die Selbstverwaltung in der Gemeinde dient dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben.

Um Ihnen diesen Aufbau etwas näher zu erklären, wollen Sie mir bitte durch diese Tür folgen.

Wir befinden uns nunmehr im sog. „Schwarzen Kabinett“.


Wenn sich Ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, so wollen Sie sich bitte diesen altar-
ähnlichen Tisch ansehen, Die Gegenstände auf ihm und in diesem Raum stellen diejenigen Artikel dar, die für die CSU und die Kirchen bestimmt sind. Nehmen wir zunächst das pompöse Prunk-
stück dort auf dem Samtkissen. Es ist der Art. 131 (2), dessen Wortlaut der „Gartenlaube“ Jhrg. 1890 entnommen zu sein scheint:


Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen,


Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit,


Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne.

Wenn wir auch nicht erklären können, was der Name des Höchsten in der Verfassung zu suchen hat, so gebührt ihm wohl – auch im Zusammenhang mit Bildungszielen – der erste Platz. Die wenigen Demokraten unter den verehrten Herrschaften werden sich gewiss freuen, dass die „Achtung vor der Würde des Menschen“ noch an dritter Stelle wenigstens Erwähnung findet.


Dieses etwas unbequeme Betpult ist das neue bayrisch-demokratische Schulbankmodell 1946 mit der Nummer 135 (1):

Die öffentlichen Volksschulen sind Bekenntnis- oder Gemeinschaftsschulen. Die Wahl der Schulart steht den Erziehungsberechtigten frei. Gemeinschaftsschulen sind jedoch nur an Orten mit bekenntnismäßig gemischter Bevölkerung auf Antrag der Erziehungsberechtigten zu errichten.

Zu einer Gemeinschaftsschule gehören also eine bekenntnismäßig gemischte Ortschaft und ein Antrag der Erziehungsberechtigten, deren Zahl recht groß sein muss, damit sich die Errichtung einer solchen Schule überhaupt lohnt. Bleiben praktischerweise nur die Bekenntnisschulen übrig.

Auch befindet sich an der Schulbank noch eine Handschelle, Art. 127:

Das eigene Recht der Religionsgemeinschaften und staatlich anerkannten weltanschaulichen Ge-
meinschaften auf einen angemessenen Einfluss bei der Erziehung der Kinder ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung wird unbeschadet des Erziehungsrechtes der Eltern gewährleistet.


Das Tintenfass trägt die schöne Aufschrift Art. 107 (1):

Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet.

Es handelt sich hier offenbar um ein Versehen, es sei denn, der Schüler würde nicht unbedingt in dem Glauben seiner Bekenntnisschule erzogen.


Die verrostete Maschine dort an der Wand stammt aus der Zeit der Inquisition und wurde unter Nr. 144 (2) nachträglich in die Verfassung mit aufgenommen:

Jede öffentliche Verächtlichmachung der Religion, ihrer Einrichtungen, der Geistlichen und Ordensleute in ihrer Eigenschaft als Religionsdiener ist verboten und strafbar.

Um alle demokratischen Bedenken des Publikums zu zerstreuen, hoffen wir, dass dieser Artikel für Geistliche und Ordensleute in ihrer Eigenschaft als Mensch oder Politiker nicht zutreffen muss.

Durch diese offene Verbindungstür kommen wir direkt zu dem Raum, der den Denkwürdigkeiten des Landtages gewidmet ist. Dort am Hauptportal finden Sie Art. 22 (2):

Wahrheitsgetreue Berichte über die Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Landtages oder seiner Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei, es sei denn, dass es sich um Wiedergabe von Ehrverletzungen handelt.


Der normale Text entspricht dem der Weimarer Verfassung für den Reichstag: Die fett gedruckten Sätze sind bayrische „Zuwaag“. Der Zusatz verlangt nichts weniger als dass die Öffentlichkeit vor der wohlmöglich „schmutzigen Wäsche“ irgendeines Landtagsabgeordneten nichts erfährt, um ihn das nächste mal wieder zu wählen. (Es wäre auch undemokratisch!)


Der Artikel dort auf dem Abgeordnetensessel trägt die Nr. 27:

Kein Mitglied des Landtags darf zu irgendeiner Zeit wegen seiner Abstimmung gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden.


Er stellt die Verstümmelung des Weimarer Art. 35 dar. Die Amputation erfolgte hinter „Abstim-
mung“, wo es weiter hieß: „… oder wegen der in Ausübung seines Berufes getanen Äußerungen.“ Diese Operation scheint notwendig gewesen zu sein, um sich noch eine Handhabe gegen unbe-
queme Landtagsmitglieder zu bewahren. Eine allerdings nur ähnliche Möglichkeit eröffnet der Art. 28 (3):

Jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied des Landtages und jede Haft oder sonstige Beschrän-
kung seiner persönlichen Freiheit wird auf Verlangen des Landtages für die Dauer der Tagung aufgehoben. Ein solches Verlangen kann jedoch nicht gestellt werden, wenn der Abgeordnete eines unpolitischen Verbrechens bezichtigt wird. Ob dieser Fall vorliegt, entscheidet der Landtag.


Diese nette Einschränkung erlaubt, ein Verbrechen als „politisch“ oder „unpolitisch“ abzu-
stempeln, je nach dem um welches Mitglied es sich handelt. Die verehrten Herrschaften werden zugeben müssen, dass diese Änderungen ebenso praktisch wie weise sind. – Und nun darf ich Sie durch diese Tür bitten.


Wir befinden uns hier im Saale der Gerichtsbarkeit. Die große Gipsfigur in der Mitte des Raumes stellt „Justitia“ dar. Die Waage hängt allerdings noch etwas schief, vermutlich deshalb, weil die Entnazifizierung noch nicht beendet ist. Sie brauchen daran aber weiter keinen Anstoß zu nehmen, denn es war bereits ein hochdeutsch sprechender Herr von der inzwischen wieder aufgelösten Vor-
prüfungskammer IIa hier, der versprach, dass sie wieder geradegebogen würde.


In Erinnerung an die politische Unabhängigkeit unserer Richter finden Sie unter dem Ölbild, das den Reichstagsbrand darstellt, den Artikel 85:

Die Richtet sind nur dem Gesetz unterworfen.


Und unter der Marmortafel zum Gedächtnis der Opfer des Volksgerichtshofes sehen Sie den Art. 86 (2):

Gerichte für besondere Sachgebiete sind nur kraft gesetzlicher Bestimmung zulässig.

Denn so wurden die „Sondergerichte“ mit Rücksicht auf die Opfer getauft.

Und nun kommen wir in die Ehrenhalle der „Freiheit des bayrischen Staatsbürgers“. Die Ausstel-
lungsleitung ist glücklich, Ihnen die wesentlichen Grundrechte des Staatsbürgers gebrauchsfertig vorführen zu können. Wir verdanken dies vor allem der späten, aber um so erfreulicheren Einsicht der „Verfassungsgebenden“, die die Grundrechte von ihren ursprünglichen gesetzlichen Einschrän-
kungen in letzter Stunde befreiten.


Als atavistisches Kuriosum verbleibt eigentlich nur das „Diktatorensprungbrett“ dort in der Ecke. Es wurde frei nach dem Modell „48“ der Weimarer Verfassung entworfen und trägt ganz zufällig bei uns ebenfalls die Katalognummer 48:

(1) Die Staatsregierung kann bei drohender Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung das Recht der öffentlichen freien Meinungsäußerung (Art. 110), die Pressefreiheit (Art. 111), das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis (Art. 112) und die Versammlungsfreiheit (Art. 113) vorübergehend einschränken oder aufheben.

Es bedurfte eines ernstlichen Einspruches der Amerikaner, um folgende Einschränkung zu erreichen:

Der dehnbare Begriff „vorübergehend“ wurde durch die exakte Formulierung „zunächst auf die Dauer einer Woche“ ersetzt, Gleichzeitig erhielt Absatz 2 den wesentlichen Zusatz:

Bestätigt der Landtag mit der Mehrheit seiner gesetzlichen Mitgliederzahl die getroffenen Maßnahmen, so wird ihre Geltung um einen Monat verlängert.

Fachleute versichern uns, dass auch der fanatischste Diktator schließlich müde werden muss, ein neues 1000-jähriges Reich mit der allmonatlichen Erneuerung des Ausnahmezustandes aufrecht zu erhalten. Es bleibt indessen zu bedauern, dass unsere „Verfassungsgebende“ diese Tatsache nicht ohne fremde Hilfe einzusehen geneigt war.


Um zu etwas Erfreulicherem zu kommen, sehen Sie hier die blasse Jungfrau aus Wachs, die auf den poetischen Namen „Freiheit“ getauft wurde.

Die beiden Gegenstände neben ihr in den Vitrinen sind ein Spezialkorsett und ein Keuschheitsgürtel, Die Erklärung dafür liefert Ihnen der Artikel 101:

Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Gesetze (Korsett) und der guten Sitten (– –) alles zu tun, was anderen nicht schadet.


Wollen Sie bitte gleich einen Blick in dieses Gefäß mit der undefinierbaren Schmiere werfen.

Die Substanz soll an eine Verallgemeinerung des Weimarer Artikel 118 erinnern, die bei uns Nr. 110 (2) trägt:

Die Bekämpfung von Schmutz und Schund ist Aufgabe des Staates und der Gemeinden.

Die nähere Bestimmung, was man unter „Schmutz und Schund“ einerseits und „guten Sitten“ andererseits versteht, erfolgt vermutlich später noch durch einen Sonderausschuss der Akademie und Religionsgemeinschaften, um jede Willkür in unserer Demokratie auszuschalten.


In dem Glaskasten nebenan sehen Sie eine Frau zu Füßen eines wohlbeleibten Herrn mit Hitlerbärtchen. Diese Wachsgruppe trägt die Nr. 124:

(1) Ehe und Familie sind die natürliche und sittliche Grundlage der menschlichen Gesellschaft
und stehen unter dem besonderen Schutz des Staates.

(2) Mann und Frau haben in der Ehe grundsätzlich die gleichen bürgerlichen Rechte und Pflichten.

Die seltsame Komposition erklärt sich ganz einfach daraus, dass der ursprüngliche Absatz (2) des Artikels: „Die Ehe beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter“ vorsorglich gestrichen worden ist. Damit wird auch die Wendung: „grundsätzlich“ verständlich, ebenso wie die Tatsache, dass bürgerliche (= juristische) nicht unbedingt auch „menschliche“ Rechte und Pflichten sein müssen.

An dem eigentümlichen Barockstück Nr. 141 wirkt folgender Satz etwas beklemmend:

Herabgewürdigte Denkmäler der Kunst und Geschichte sind möglichst ihrer früheren Bestimmung wieder zuzuführen.

Vielleicht ließe sich noch einfügen: von den Nazis herabgewürdigt, da sonst leicht jemand auf die Idee kommen könnte, wieder Hitlerbüsten aufzustellen.


Die Bronzefigur, die einen wohlgenährten Bauern auf einen Schlagbaum gestützt darstellt, ist unser Art. 165:

Die Überschuldung landwirtschaftlicher Betriebe ist durch die Gesetzgebung möglichst zu verhindern.

Das kann die Einführung von Schutzzöllen bedeuten, sozusagen als nachträgliche Anerkennung der derzeitig regen Unterstützung des Schwarzen Marktes durch unsere gottesfürchtigen Kalo-
rienerzeuger.


Dieses herrliche Granitbecken hier enthält eine Probe des trüben Wassers, in das die ursprünglich vorgesehene „Planwirtschaft“ gefallen ist.


Zum Abschluss möchte ich Ihnen noch jenen sparbüchsenähnlichen Patentkäfig erklären.

Er dient zur Aufnahme des Volksrechtes und ist aus drei Teilen zusammengesetzt. Teil I ist Artikel 72 (l):

Die Gesetze werden vom Landtag oder vom Volk (Volksentscheid) beschlossen.

Das ist gewissermaßen der Köder für die Wählerschar. Mit Rücksicht auf die unter dem Volk weitverbreitete Meinung, dass es mehr als genug Gesetze gibt, besteht der Teil II aus Artikel 74 (1):

Ein Volksentscheid ist herbeizuführen, wenn ein Zehntel der stimmberechtigten Staatsbürger das Begehren nach Schaffung eines Gesetzes stellt.


Für den Fall, dass das Volk aber andere Wünsche hat oder Staat und Verfassung als unzulänglich erkennt, wurde der Käfig durch Teil III Art.15 (1) verstärkt:

Wählergruppen, deren Mitglieder oder Förderer darauf ausgehen, die staatsbürgerlichen Freiheiten zu unterdrücken oder gegen Volk, Staat oder Verfassung Gewalt anzuwenden, dürfen sich an Wahlen und Abstimmungen nicht beteiligen.

Innerhalb dieses soliden Rahmens können sich der Volkswille und die Volksseele frei erheben.


Der Artikel 147 kommt gerade diesen Regungen besonders entgegen:

Die Sonntage und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der seelischen Erhebung und der Arbeitsruhe gesetzlich geschützt.

Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende unseres Rundganges angelangt. Die Aus-
stellung hatte vor allem die Aufgabe, Ihnen zu zeigen, dass man sich ehrlich bemüht hat, die „bayerische Ruhe“ nach altem Muster und unter Berücksichtigung moderner staatstechnischer Errungenschaften wieder aufzubauen.

In Anbetracht der Fülle der nichtkommentierten Artikel von gangbarer Qualität, die Sie im Vor-
beigehen besichtigen konnten, entsprach dieser Rundgang gleichzeitig einer Unterrichtsstunde in Demokratie.


Die Ausstellungsleitung erlaubt sich, Sie abschließend daran zu erinnern, dass die kommenden Wahlen im gewissen Sinne auch eine kleine Reifeprüfung sind, deren Ergebnis das Ausland mit Interesse erwartet, und dass es Ihnen freisteht, die Verfassung in ihrer augenblicklichen Form anzunehmen oder sie (nach dem Beispiel Frankreichs) abändern zu lassen.

Markus Schrimpf


Zeichnungen: Max Radler


Der Simpl. Sondernummer: Die Bayerische Verfassung 13 vom November 1946, 152 ff.

Überraschung

Jahr: 1946
Bereich: Bürgerrechte