Materialien 2013

Räumung des Rindermarkts

… damit nicht hungernde Flüchtlinge die Münchner beim Einkaufen stören

Letzte Woche war das Elend dieser Welt zu Besuch im reichen München, und die Stadt ist er-
schrocken darüber, bis hinauf zur Stadtspitze. Die „Verdammten dieser Erde“, denen es gelungen war, aus verschiedenen Ländern und Kontinenten die schier unerreichbare Wohlstandsinsel derer zu erreichen, die für die Gründe ihrer abenteuerlichen Flucht verantwortlich sind, vor deren großzügig exportierten Waffen und vor deren durch ihre Weltwirtschaftsordnung zementierter Armut, vor Kriegen und Bürgerkriegen sie unter Lebensgefahr zu entkommen versucht hatten, waren plötzlich da und im öffentlichen Raum kaum mehr zu ignorieren. Genau dort, wo die Leberkässemmel kauenden Passanten ansonsten ihre Dallmayer-Tragetaschen schlenkern oder sich einen neuen Trachtenhut anpassen lassen, am Rindermarkt. Wenige Schritte entfernt vom Marienplatz, dem politischen und touristischen Zentrum der „Weltstadt mit Herz“.

Über 50 Asylsuchende aus ganz Bayern hatten nach einer antirassistischen Demonstration „spontan“ ein Camp errichtet, und waren nicht mehr wegzukriegen. Sie traten in einen unbefri-
steten Hungerstreik. Ihre Zelte und Pavillons, Schlafsäcke und Decken hatten sie dabei, ebenso eine Supporter Group und die Zuversicht, kollektiv ihr Bleiberecht zu erstreiten, die unsäglichen Zustände in den bayerischen Flüchtlingsunterkünften zu humanisieren, die Residenzpflicht abzuschaffen, die verhassten Essenspakete durch Geldzahlungen zu ersetzen, die bedrückenden sanitären und räumlichen Verhältnisse zu verbessern, das Arbeitsverbot aufzuheben und, und, und. Allein die Bearbeitung der Anträge durch das Bundesamt dauert Monate, manchmal Jahre.
In dieser Zeit vegetieren sie mehr als dass sie leben, jederzeit darauf gefasst, abgelehnt und wieder abgeschoben zu werden. Bis 2010 standen jedem Asylberber 3,5 qm zu, nun sind es immerhin 7. Doch jetzt wollen sie überhaupt keine Lagerhaltung mehr, sondern Unterbringung in vernünftigen Wohnquartieren, nicht in Containern oder alten Kasernen. Zuviel für den Freistaat Bayern.

Ein Schock auch für manche, die mit Aldi- oder Norma-Tüten ausgerüstet sich entrüsteten darü-
ber, dass noch ärmere, noch erbarmungswürdigere Menschen hier um Asyl nachfragten, und freiwillig nicht nur nichts aßen, sondern bald auch noch in einen „trockenen Hungerstreik“ getreten waren, also auch nichts mehr tranken. Für Leute in Bayern, speziell für Münchner eine schier unvorstellbare Vorstellung. Entsprechend verständnislos reagierten viele, erschreckend viele, manche auch offen feindselig gegenüber der Zumutung, mit den Folgen der Politik ihrer Staatsregierung unmittelbar konfrontiert zu sein. Denn deren Maxime lautet in bestem Bürokra-
tendeutsch: „Die Umstände der Unterbringung sind so zu gestalten, dass die Bereitschaft der Flüchtlinge zur Rückkehr in ihre Heimatländer gefördert wird.“ So sinnverwandt ähnlich klingt staatliches Fördern dem schnörkelloseren brutalen Fordern der Nazis: „Haut ab“. Freilich gab es auch einfühlsamere, nachdenkliche und wirklich solidarische Menschen, die sich um das proviso-
rische Camp scharten, aber mehr abends und während der Nacht. Doch tagsüber dominierten die halslos hartleibigen Schweinsbraten-Cholesterineriker. Das althergebrachte „Geht’s doch nüber“ ist ein bisschen aus der Mode gekommen, darum grummeln einige: „Geht’s doch nunter!“ Damit meinen sie wohl die Südhalbkugel dieses Planeten, als dessen Nabel sie sich dünken. Manche meinen, der Nabel sei der Kopf, also denken sie damit, direkt aus dem Bauch heraus. Kommt aber nicht viel bei rum. Einer krakeelt: „Social terrorists!“, damit es auch die Flüchtlinge drinnen gut verstehen könnten. Das sollte wohl etwas weltgewandter klingen als ein deutsch-dümmliches „Sozialterroristen!“ Unsereiner denkt da eher an kriminelle Bau-Unternehmer, Miethaie oder Bänkster. Er meinte indes die restlos, weil rechtlos Verzweifelten, die Sans-papiers, die „Nicht-
bürger“, das menschliche Strandgut der Globalisierung.

Soll doch jeder dahin gehen, wo er herkommt! Diese gedankenlos dahin gegrantelte Devise spru-
delt schnell aus dem Mund gerade von Leuten, die ihre Familiengeschichte gründlich vergessen haben. Denn wenn alle Dahergelaufenen, „Zuag’roastn“ und irgendwann aus dem Bayerischen Wald zugewanderten Bewohner der Landeshauptstadt das tatsächlich täten, was sie von anderen verlangen, dann wäre München wieder das überschaubare, verschlafene Residenzstädtchen, das seine klügsten Köpfe noch nach Landshut schicken musste zum Studieren, weil es selbst nicht einmal eine Universität beherbergte. Eingeborene Münchner sind heute eine Rarität, beinahe so selten wie menschlicher Verstand in der Politik. Es gibt ihn, aber meistens muss man ihn suchen, so sehr versteckt er sich. Ein Funken Hirn hätte genügt, um zu erkennen, dass die Non-Citizens, wie sie sich nennen, Menschen in einer ausweglosen Situation waren, die zum Letzten entschlossen sogar ihr Leben einsetzten, um endlich dem Grauen des Lagerlebens zu entrinnen und anerkannt zu werden als die, die sie waren und sind: Politisch Verfolgte, aus weltanschaulichen oder religiö-
sen oder ethnischen Gründen Bedrängte, Vertriebene, um ihr Leben Bangende. Sie mussten weg, oft über Nacht, weil ihre Häscher kurz davor waren sie zu ermorden, einzukerkern und zu foltern. Sie haben ihre Heimat nicht leichtfertig verlassen, und schon gar nicht, weil ihnen dort das Essen nicht geschmeckt hätte und sie meinten, ins Schlaraffenland zu kommen, wo Kaviar und Sekt gereicht würden zum Ausfüllen des Asylantrags mit goldenem Federhalter. Niemand nimmt aus Jux und Tollerei die Strapazen einer derart unwägbaren Flucht auf sich, und nicht jeder kann sie sich überhaupt organisieren. Sie gaben ihr letztes Geld und retteten nur das, was sie auf dem Leib trugen, und den noch verbliebenen Rest an Lebenswillen darin.

Immerhin zeigte die Stadt zunächst die Einsicht, dass es sich dabei um eine politische Versamm-
lung handelte, die auch länger dauern konnte. Ein Krisenstab wurde gebildet. Sanitätskräfte wurden mobilisiert. Die Polizei hielt sich diskret zurück. Rot-Kreuz-Zelte wurden im Innenhof des Stadtmuseums aufgebaut, nachdem das Maltheser-Hilfswerk wieder abbauen musste, weil die Feuerwehr auf der Freihaltung eines Rettungswegs bestanden hatte. Bis sich so eine Armada rot- und gelbleuchtender und silbern oszillierender Rettungsjacken organisiert, dauert es etwas, aber dann ging es Schlag auf Schlag. Am dritten Tag des Durststreiks begann es kritisch zu werden. Erste Anzeichen von Dehydrierung traten auf. Ab dem vierten Tag wird es lebensbedrohlich, am fünften kann es tödlich enden. Plötzlich ging es darum, zu verhindern, dass Menschen verdursten. Wären sie in einer Nussschale auf dem Mittelmeer verdurstet, gekentert oder abgesoffen, hätte es weder Herrn Ude noch Herrn Seehofer im Innersten berührt. Sie hätten es nicht zur Kenntnis genommen, so wie die meisten Metropolenbewohner nicht. Inmitten der Stadt ist es freilich etwas anderes. Da greift eine gewisse Verantwortung, eine Obhuts- und Fürsorgepflicht, ein moralischer Druck.

Nur ja keine Toten! Nicht unter unseren Augen! Gerade im Wahlkampf geht das schnell nach hinten los. Bloß nicht in unserem Wahlkreis, nur nicht in München, und überhaupt nicht in Bayern! Also wird sich plötzlich überschlagen. Jetzt kommt das Jugendamt ins Spiel, es sind
ja auch zwei Kinder drin. Das dritte ist in Ungarn oder Österreich abgeblieben, das hat bisher niemanden interessiert. Für den Vater dagegen hatte man sich sehr wohl interessiert: Er saß in der Abschiebehaft-Zelle am Flughafen und sollte nach Ungarn deportiert werden, selbstverständlich gegen seinen Willen. Den Willen bricht man notfalls. Aber erst musste die Mutter kollabieren; sie wird ins Krankenhaus abtransportiert. Nun hat man Waisen. Die Stadt läuft zur Höchstform auf und schickt zwei Mitarbeiter des Jugendamts, die sich überzeugen wollen, dass die Kinder wohlauf seien. Waren sie auch, aber nicht im Camp, sondern in einer Privatwohnung untergebracht. Gut versorgt und behütet. Unglaublich. Ohne Amtsgewalt, die einen Willen bezwingt! Ganz zivil und formlos.

Das war doch glatt ein Fall für die Polizei. Bürgerselbsthilfe geht gar nicht. Da muss eingeschritten werden, und notfalls mitten in der Nacht. Eine SEK-Einheit macht sich fertig zum humanitären Rettungseinsatz, gut gepolstert und ausstaffiert, um den Jugendamtsvertretern gewaltsam Zugang zu verschaffen zu dem Camp, in dem zu diesem Zeitpunkt keine Kinder waren. Mal nachschaun. Mal sehen, was es zu sehen gibt, wenn es nichts von dem zu sehen gibt, was man sucht und nicht finden wird, doch immerhin als Vorwand für einen nächtlichen Überfall allemal taugt: Kinderhilfe kommt gut in Deutschland. Da wäre Veronika Ferres, die bekennende Spießerin, auch dafür. Der Krisenstab hat den ganzen Abend getagt, nun soll auch was passieren. Die Stürmung des Lagers steht kurz bevor. Es ist kurz vor zwei. Da geschieht etwas Unerwartetes: Einem der Ärzte aus dem Kreis der internen Medi-Group, die das Vertrauen der Flüchtlinge genießt, gelingt es, der Sozial-
referentin Brigitte Meier per Ehrenwort zu verklickern, dass sich hier keine Kinder aufhalten. Sie glaubt ihm und kann den Krisenstab davon überzeugen, dass kein Grund vorliegt, ins Lager ein-
zubrechen. Die Polizei verkrümelt sich. Sie wollen morgen wieder kommen; tagsüber seien die Kinder ja wieder da. Welch rührende Fürsorge!

Um den Vater wird sich auch gekümmert, nicht nur vonseiten der Staatsgewalt, sondern auch
von der Zivilgesellschaft. Eine Aktivistin hat herausgefunden, mit welchem Flug der Mann nach Ungarn verfrachtet werden soll am nächsten Tag. Sie kauft sich ein Ticket und besteigt mit ihm
das Flugzeug. Als die Stewardessen zum Anschnallen bitten und ihre Notfall-Instruktionen in die Kabine gestikulieren, steht sie auf. Sie erklärt laut und deutlich, dass sich in der Maschine ein Mensch gegen seinen Willen befindet, der diese Reise ausdrücklich nicht unternehmen möchte. Und sie wolle sich nicht setzen und nicht angurten. Das ist für viele Piloten das Signal, den Start abzubrechen. Sie wollen das aus Sicherheitsgründen nicht verantworten und sich nicht zum Büttel des Staates machen, und ihre Airlines möchten aus Imagegründen nicht als Gefängnisbus-Betrei-
ber firmieren. Also kam der Papa wieder zurück in Abschiebehaft.

Seine beiden Kinder tollten derweil gut gelaunt durch die kleine Zeltstadt. Immerhin blieb er in München, wenn auch draußen im Erdinger Moos. Der Mutter ging es bald wieder besser. Der dritte Sohn war irgendwo in Österreich oder in Ungarn. Genaueres wusste niemand. Immerhin ein kleiner Sieg gegen die Betonfraktion im Innenministerium, welches darüber nicht amüsiert gewesen sein durfte. Der Minister fürs Hartherzige hätte den Fall doch viel lieber auf bewährt rustikal-bayerische Weise „gelöst“ und das Problem gleich von Anfang an entsorgt. Das störende Zeltlager wäre schnell weggeputzt gewesen. Nein, so eine bayerische Staatsregierung darf sich auf Mitmenschlichkeiten gar nicht erst einlassen. Am Ende kämen sie alle. Aus aller Welt. Die halbe Menschheit. Und wählte nicht die CSU, weil sie ja gar nicht wählen dürfte! Da sollte man tunlichst nicht zuviel Rücksichten nehmen auf solche unberechtigten Nichtwähler. Präzedenzielle Ab-
schreckung war angesagt, nicht Duldung eines so humanitätserheischenden Zustandes. Irgend-
wann kämen dann noch die Bischöfe daher mit Gewissens-Appellen. Da sei die schnelle Räumung davor!

Frau Haderthauer, die sich Sozialministerin schimpft, erklärte von Anfang an in ihrer burschi-
kosen Art: „Der Staat lässt sich nicht erpressen“. Mag sein, dass ihrem Mann demnächst die Doktorwürde aberkannt wird, aber dass sie die Würde dieser Menschen, die sich allenfalls selbst schwächen und ihre Gesundheit gefährden, um das begehrte Asyl zu bekommen, mit dem Etikett der Staatserpressung zu denunzieren versucht, grenzt schon an Niedertracht und Ruchlosigkeit. Dabei ist es der Freistaat, der die Asylbewerber in diese erbärmlichen und kaum erträglichen Zustände zwingt, die sie selbst von Amts wegen ministeriell zu verantworten hat. Ihre treuherzigen Kulleraugen hat sie wohl aus kaltem Glas, ihr Herz vermutlich aus Stein und ganz oben nichts als Beton im Kopf, so sturschädelig lenkt sie ab von ihrer Verantwortung. Aber sie ist es ja gewohnt, mit Eingesperrten so umzuspringen. Ihr Doktorgatte hat sich mit den Modellbaukünsten eines bayerischen Strafgefangenen eine goldene Nase verdient.

Dass der bayerische Innenminister genauso scharfmacherisch daherredet, ist nicht weiter verwun-
derlich. Dass aber der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude (SPD), der den Ministerprä-
sidenten Horst Seehofer (CSU) beerben möchte (wozu eigentlich, wenn er’s nicht anders macht?) ins selbe Horn stößt, ist schon deswegen pikant, weil doch seine Partei nicht nur ihre „Familien-
geschichte“, sondern überhaupt die jüngere Geschichte vergessen zu haben scheint. Sein hoch verehrter Genosse Willy Brandt hätte während der NS-Diktatur ohne Asyl in Norwegen nicht überleben können. Die Sozialdemokratie hätte ohne Asyl in der (damals noch nicht wehrmachts-
besetzten) Tschechoslowakei kein Exil gefunden. Viele seiner Idole und Parteiväter wären in den Kerkern der Hitlerfaschisten verrottet wie so viele Kommunisten, welche die SPD anlässlich ihrer 150-Jahr-Feier einfach aus der Erinnerung getilgt hat, wo sie so selbstgerecht behauptete, Sozial-
demokraten seien die einzigen gewesen, die gegen das hitlersche Ermächtigungsgesetz gestimmt hätten, ohne zu erwähnen, dass die Sitze der KPD-Abgeordneten zu diesem Zeitpunkt längst „kassiert“ und deren Stimmen nicht mehr vernehmbar waren hinter Stacheldraht. So kann man sich hochstilisieren und beweihräuchern auf Kosten anderer, selbstvergessen geradezu.

Heribert Prantl schrieb am 25. Juni 2013 in der Süddeutschen Zeitung: „Am 26. Mai 1993 wurde der alte Artikel 16/2 gestrichen. Drei Tage später wurde in Solingen die türkische Familie Genc von Neonazis verbrannt. Leserbriefe empörten sich über das Getue um ein paar tote Türken. In dieser Atmosphäre wuchsen in Zwickau die Rechtsextremisten des NSU zu Mördern heran“. Sie konzentrierten ihren tödlichen Hass auf jene, die sie zusammen mit ihren bürgerlich-konservati-
ven Stichwortgebern all die Jahre als „Wirtschaftsflüchtlinge“ diffamiert hatten, Familien, denen es gelungen war hier Fuß zu fassen und als Blumenverkäufer, Internetcafé-Betreiber oder Dönerbu-
denbesitzer ihren Unterhalt zu verdienen, Arbeitsmigranten in zweiter und dritter Generation. Um die zum Nichtstun verurteilten kasernierten Flüchtlinge brauchten die sich nicht mehr zu küm-
mern, die hielt der Staat fest im Griff. Er hatte die Macht, sie in den Tod abzuschieben; zwei von ihnen wurden im Iran am Flughafen direkt abgeholt und hingerichtet. Seitdem gilt wieder ein Abschiebestopp dorthin, aber man musste das ja erst einmal oder eben zweimal ausgetestet haben. Konnte doch niemand ahnen! Auch wenn man ansonsten dem Mullahstaat nicht über den Weg traut und vorsorglich mit Angriffskrieg bedroht. Eine rein menschliche Freizügigkeit muss doch erhalten bleiben, gerade aber auch im Reiseverkehr! Es sei denn, einer heißt Evo Morales und ist bolivianischer Präsident. Den holt man ohne Umschweife vom Himmel, vorerst noch ohne Kampfjets.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag kam die Humanität zum Höhepunkt. Man entschloss sich, mit den Flüchtlingen zu reden. Das gehört ja auch dazu, dass man miteinander redet. Auch wenn man sich zutiefst erpresst fühlt. Reden muss man. Nicht direkt, das nun wieder nicht. Man entsen-
det Unterhändler. Zwei alte, „lebenserfahrene Männer“, wie Alt-OB Jochen Vogel sich spaßig vor-
stellt, begleitet vom langjährigen CSU-Fraktionsvorsitzenden und heutigem Katholiken-Zentral-
rats-Honoratioren Alois Glück. Letzteres braucht man gewiss, denn die Gesprächsbereitschaft des Unterhändlers der Hungerstreikenden ist begrenzt. Er wiederholt nur immer wieder die Forderun-
gen und bleibt hart auf Linie nach dem Tenor: „16 a GG oder Tod“.

Zuvor hat er noch ein Interview gegeben, in dem er den ominösen Gefängnistod von Holger Meins nach dessen Hungerstreik und Zwangsernährung herbeizitierte, was auf allgemeines Befremden stieß. Sollte heißen: Wenn Leute sterben, dann in der Verantwortung des Staates. Die beiden Emissäre von Stadt und Staat haben nichts im Gepäck, nicht einmal ein Verhandlungsmandat, geschweige denn ein substanzielles Angebot. Sie wollen nur ein „Besinnungsgespräch“ führen, wie ein trauriger Spaßvogel hinterher betrübt der Presse zu erklären versucht. Wahrscheinlich um zu zeigen, wie gesprächsbereit sie gewesen wären, bevor die Verhandlung, die gar keine ist, scheitern muss. Nicht zuletzt an ihrer Vorbedingung, die sie für richtige Verhandlungen stellen, dass der Hunger- und Durststreik sofort abgebrochen werden müsse. Der einzige Grund, weswegen sie sich überhaupt herbeigelassen haben mit den Darbenden zu reden, soll zuerst aufgehoben sein, auf dass man reden könne. Das ist so ähnlich, als forderten die Flüchtlinge zunächst die Abschaffung der Polizei, bevor sie in Verhandlungen träten. Beide sollen ihre Waffen aus der Hand geben und niederlegen, damit Waffengleichheit bestünde. Nur dass die einen noch nicht einmal eine Wand haben, an der sie stehen könnten; sie liegen siech zu Boden, während die anderen heimlich ihre Mannschaftswägen zum Einsatzort beordern. So funktionieren Vermittlungsgespräche noch nicht einmal als Vorgespräch, und dieses wird um Mitternacht folglich abgebrochen. Dennoch herrscht selbst bei Anwälten eine verhaltene Zuversicht. Immerhin habe sich erstmals seit einer Woche etwas bewegt, und man könne am nächsten Tag vielleicht tatsächlich verhandeln. Die Zeit drängt, doch unter den Flüchtlingen scheint Hoffnung zu keimen. An diesem Abend werden keine ins Koma gefallenen Streikenden abtransportiert wie die Tage und Nächte vorher. Zuversicht schöpfen scheint als sichere Lebenserhaltungs-Methode zu wirken. Es ist ruhig, aber kalt.

In den frühen Morgenstunden gegen fünf Uhr rührt sich was. 350 Polizisten in Kampfmontur, Heerscharen von Sanitätern, Notärzten und Feuerwehr-Rettern stürmen von allen Seiten über-
fallartig den Platz. Heller Aufruhr bei den Unterstützern, die sich ringsum in Hauseingängen und Passagen schlafen gelegt hatten. Es kommt zum brutalen Finale. Die Polizei greift hart durch, jeder Widerstand wird gebrochen, innerhalb und außerhalb der Umfriedung mit dem rotweißen Flatter-
band, auf dem steht: „Do not enter“. Da wird nichts mehr respektiert. Eine schwangere Frau wird über den Boden gezerrt, Schreie sind zu hören und das Klappern von Rettungswägelchen. Wer sich nicht sofort ergibt, wird gefesselt. Die meisten sind ohnehin zu geschwächt, manche vielleicht so-
gar froh, dass es endlich vorbei ist. Einzelne wehren sich dennoch. Sie werden nicht ins Kranken-
haus gebracht, sondern erst mal ins Polizeipräsidium. Ordnungswidrigkeiten und Straftaten gehen vor medizinische Hilfe. Wer sich noch wehrt, ist noch nicht kurz vor dem Tod. Soviel Zeit muss doch sein, ihn seiner verdienten polizeilichen Ingewahrsamnahme zuzuführen. Auch zwölf der Unterstützer um das Camp herum fahren ein, weil sie Krankentransporter blockiert haben sollen. Ein schweres Vergehen, wenn der humanitäre Rechtsstaat Ordnung schafft. Platzverweise werden erteilt. Der Einsatz darf nicht behindert werden. Polizeiketten schirmen nach außen ab. Der Wort-
führer der Flüchtlinge wird nicht nur vorübergehend festgenommen, sondern gleich so richtig verhaftet. Ihm droht Schlimmeres.

Im Hintergrund steht sogar ein Wasserwerfer bereit. Falls jemand akut verdursten sollte. Inner-
halb kürzester Zeit ist die Sache ordnungspolitisch erledigt. Mittags sieht der leer geräumte Platz aus wie immer, als wäre nie was gewesen. Nur noch zwei Dixi-Klos sind abzuholen. Anscheinend arbeitet die Verleiher-Firma sonntags nicht. Alles andere, Zelte, Transparente, Plastikplanen, Schlafsäcke, Matten, Klamotten sind in einen Container gewandert, beschlagnahmte Computer oder Handys in der Ettstraße gelandet zur Auswertung. Danach lassen sich Ude und Seehofer von der Presse einträchtig als die Retter in der Not feiern. Sie haben einvernehmlich den Notfall be-
siegt. Sie meinen gewiss auch die Not des Freistaats, denn der muss doch in Notwehr gehandelt haben, erpresst wie er sich wähnte. Das sei ein Zeichen der Reife der Demokratie, wenn sich zwei Wahlkonkurrenten angesichts der Notlage so einträchtig hilfreich zeigten.

Während die Unterstützergruppe sich später am verwaisten Rindermarkt einfindet, um eine im-
provisierte Pressekonferenz unter freiem Himmel zu geben, signalisiert ein scheinheilig weißblaues Firmament, dass die Liberalitas Bavariae die Lebensgefahr überwunden hat. Immerhin, das Thema ist in aller Munde, und die Betroffenen sind vorerst in Hotels und Pensionen untergebracht. Der Vater ist aus der Abschiebehaft entlassen und die Familie bald wieder komplett vereint; sogar der verloren geglaubte Sohn wird nach München geholt. Auf einmal geht was. Die Regierung diskutiert zumindest, die verhassten Essenspakete abzuschaffen und die Residenzpflicht zu lockern, gegen die alle hier Versammelten (bis auf die Drei aus dem Regierungsbezirk Oberbayern) bewusst verstoßen hatten. Die Asylbewerber-Betreuung soll von nun an verbessert werden, dafür sollen Sozialarbeiter-Stellen geschaffen werden. Wann allerdings die Drittstaaten-Regelung fällt, ist derzeit noch nicht abzusehen. Die RATIONALGALERIE (www.rationalgalerie.de) wird darüber berichten, sobald sich eine Bundestags-Zweidrittelmehrheit zur Wiederherstellung des Grund-
rechts auf Asyl zu finden bereit ist. Zwingender Anlass wäre gegeben, zumal nach zwanzig Jahren systematischer Flüchtlingsabschottung.

Doch selbst einen Edward Snowden haben sie schnöde abgewiesen. Es wäre ihm auch wirklich nicht zu raten gewesen, ausgerechnet nach Deutschland zu kommen, um hier Asyl zu beantragen. Sie hätten ihn umgehend, weil das Auslieferungsabkommen vorginge, gnadenlos an die USA überstellt. Weil das ja bekanntlich auch ein Rechtsstaat ist. Noch dazu einer, der sich nicht der Offenlegung seiner Geheimnisse preisgegeben sehen will, die nun mal darin bestehen, dass er sich die Post- und Fernmelde-Geheimnisse der Bevölkerung, ja sogar die Binnenkommunikation der Bundesregierung und der verwanzten EU- und UN-Behörden aneignet. So was darf gar nicht erst einreißen. Diebstahl von Regierungseigentum nennt das der Rechtsstaat jenseits der Rechtsstaat-
lichkeit, und Geheimnisverrat. Also Landesverrat, und auf die Zukunft gesehen: Erpressung! Ohne permanentes Abzapfen des freien Datenflusses fühlte sich die NSA wie in einer WHO-ärztlich verordneten Fastenkur wider Willen. Sie würde sich jedoch niemals freiwillig auf Diät setzen.
Für Leute, die generell immer mehr wollen, ist die Idee eines Hungerstreiks überhaupt schwer verstehbar bis unbegreiflich. Schon von daher muss dagegen konsequent eingeschritten werden.

Sogar gegen eine geplante Solidaritäts-Kundgebung wird aufgeregt gewettert aus „Angst vor einem weiteren Hungerstreik“ (SZ). Allein die Erwähnung von „Stelltafeln“ als Kungebungsmittel veran-
lasst das KVR zu den schlimmsten Befürchtungen. Ein ebenfalls vorgesehenes symbolisches rot-
weißes Absperrband muss aus der Anmeldung zurückgezogen werden. In der eilends anberaum-
ten Stadtratssitzung fragte der Oberbürgermeister die Antrag stellende Stadträtin der LINKEn in einem empörten Zwischenruf, ob er sie wohl richtig verstanden hätte, dass sie betrübt sei, weil es nicht zu Todesfällen gekommen ist. Marian Offmann (CSU) schwingt sich gar zum feierlichen Zitieren des Talmud auf: Derjenige sei gottgefällig, der auch nur ein einziges Menschenleben rette. Ob der wackere Israel-Verteidiger das ebenso echauffiert der Israelischen Luftwaffe entgegen geschleudert hat, als sie im Januar 2009 den Gaza-Streifen phosphorisierte?! Interessiert ihn
das Schicksal der Palästinenser dort auch so aufgewühlt herzbewegend? Die jetzt grassierende Humanitäts-Heuchelei samt Helfer-Hysterie werden nur noch übertroffen vom Hungerstreik-Horror. Möglicherweise werden die KundgebungsteilnehmerInnen von der fürsorglichen Polizei vorsorglich mit Wurstbroten und Käsestullen zwangsverköstigt. Wehe, wer sich weigert! Derweil bleibt die einzig verbliebene Interpretationsmöglichkeit des Grundgesetzartikels 16 a, wie ihn Union und SPD 1993 verbrochen haben, auf unabsehbare Zeit die gültige: Flüchtlinge genießen Asyl, aber möglichst nicht bei uns. Es darf wieder ungestört eingekauft werden.

Wolfgang Blaschka


zugeschickt am 9. Juli 2013

Überraschung

Jahr: 2013
Bereich: Flüchtlinge