Materialien 1956

Ein Gesetz gegen die Unzucht

Schon vor längerer Zeit hatte der Bischof mit der Vorsitzenden des Dachverbandes der Jungfrauenbünde konferiert und dabei deren neuen Slogan „Kirche, Keuschheit, Kochkunst“ gebilligt, der ihm wegen seines modernen Klanges besonders gefiel. Dann hatte der Präsident des Spitzenverbandes der metallverarbeitenden Gebrauchsgüterindustrie mit dem Vorsitzenden der Kinderwagen- und Babyausstattungshersteller und dem leitenden Geschäftsführer der Vereinigung der Gummi-Industrie ein Abkommen zustande gebracht, das die letzten Widerstände beseitigte.

Der erste Vorsitzende der Fortschrittlich-Konservativen Christenpartei (FKCHP) schließlich brachte die Angelegenheit auf der Sitzung seiner Fraktions- und Landesverbandsvorsitzenden in konkreter Form zur Sprache. Die FKCHP, die seit zehn Jahren im Parlament allein über die absolute und im Verein mit ihren Koalitionspartnern (den Demokratisch-Autoritären und einer rechten Abspaltung der Nationalen Liberalen Sozialen Fortschrittlichen Konservativen) über die Zweidrittelmehrheit verfügte, vertrat, vom Vertrauen ihrer Wähler getragen, deren Interessen redlich zusammen mit denen der Industrie, des Handels und der Kirche. So brauchte der Parteivorsitzende nur auf die Notwendigkeit hinzuweisen, einerseits von der durch die Opposition entfachten Diskussion über die FKCHP-Politik des „Anschlusses in Selbständigkeit“ abzulenken und andererseits der metallverarbeitenden Gebrauchsgüterindustrie (die den Wahlfonds der FKCHP großzügig unterstützte) neue Impulse zu geben, um die Delegierten von seiner Idee zu überzeugen. „Nicht zuletzt aber“, so sagte er dann wörtlich, „befehlen uns die Lehren unseres Glaubens, die Sorge für die Volksgesundheit und der Gedanke des Fortschritts im Konservieren gleichzeitig, den entschiedenen Kampf gegen die Unzucht aufzunehmen.“

Die so beschlossene Kampagne sollte nun in die Öffentlichkeit getragen werden. Den Anfang machte man auf einer Wochenendtagung von Universitätsprofessoren (veranstaltet von der Kulturliga). Das Thema der Tagung („Mittelalter-Gegenwart-Mensch“) führte den Hauptreferenten („Soziologie der mittelalterlichen Gegenwart“) auch auf die Verwendung des Keuschheitsgürtels im mittelalterlichen Adel: „Man leuchte dieses Problem vom Soziologischen her an, man tue es vom Ethischen her. Hat nicht das Bewusstsein des mittelalterlichen Menschen, fehlbar zu sein vor Gott und doch strebend nach Reinheit, hier seinen destilliertesten und sinnfälligsten Ausdruck gefunden? Mögen die Prediger der modernen Ungebundenheit, der sexuellen Hybris es für lächerlich, für brutal halten: Auch die mechanische Keuschheit erhebt – noch heute!“ Die Professoren diskutierten vorsichtig, als jedoch der Rektor der Universität und der Vertreter des Kultusministeriums (FKCHP) vorschlugen, eine Sondervorlesungsreihe zum Thema „Mechanische Keuschheit" abzuhalten, einigten sich die Herren schnell über die Beiträge der einzelnen Fakultäten. Der Theologe sollte über „Mechanische Keuschheit – mechanische Heiligkeit“, der Jurist über „Keuschheit auf mechanischem Wege und rechtliche Individualsphäre“ sprechen, der Philosoph über „Die Lehre vom kategorischen Imperativ im Lichte einer neuen Sexualethik", der Mediziner über „Kreislaufprobleme bei mechanischer Keuschheit“ und so fort.

Nachdem die akademische Diskussion eingeleitet war, musste die Kampagne weiter ins Volk getragen werden. Der Public-relations-Spezialist des Spitzenverbandes der metallverarbeitenden Gebrauchsgüterindustrie, der dem Propagandaausschuss der FKCHP zur Verfügung gestellt worden war, sprach vom „langsamen Durchsickernlassen der Problematik in der Pyramide der werbetechnischen Ansprechbarkeit“.

Zunächst nahmen gepflegte Kulturzeitschriften, die der Regierung nahe standen, das Thema auf. Besonders beachtet wurde der Artikel in „kultur und zivilisation“ über „Jitterbug und Minnesang“. Der Artikel konfrontierte „die jitterbugisierte Teenager-Erotik unserer Zeit“ mit der mittelalterlichen Minne und vertrat die Auffassung, dass man über „mechanische Keuschheit zunächst zur Gewöhnung an vor- und außereheliche Keuschheit und damit schließlich wieder zur schönen Minne“ kommen könne.

Danach kam die Phase der Massenblätter und Illustrierten (der Vorsitzende des Zentralverbandes der Herausgeber illustrierter Zeitschriften war Hauptaktionär des größten der dem Spitzenverband der metallverarbeitenden Gebrauchsgüterindustrie angeschlossenen Betriebe). Die Illustrierte OPTIK brachte, groß aufgemacht, einen „historischen Tatsachenbericht aus dem Mittelalter“ (womit eine neue Literaturgattung entstand) unter dem Titel „Frauen im Eisen“, einen „Frauenroman moderner Liebeskonflikte“, betitelt „Schließ auf, Renate“ (die Geschichte einer Dirne, die von einem Priester den Rat erhält, einen modernen Keuschheitsgürtel zu tragen, und so zu glücklicher Ehe kommt), schließlich eine Bildreportage unter dem Titel „Die Unzucht mordete unsere Liebe“, die die Eheschicksale dreier Filmstars schilderte. Die Ausgabe trug auf der Titelseite das Bild eines Mannequins, das einen Keuschheitsgürtel aus Leichtmetall vorführte („Sex-Appeal und mechanische Keuschheit verbindet mit Charme unser Titelmädchen“). Die Massenblätter trugen Überschriften wie DIE UNZUCHT TAT ES, SAGT KINDSMÖRDERIN oder LUSTMÖRDER VERLETZT SICH TÖDLICH AN K-GÜRTEL. In allen Zeitungen erschienen ganzseitige Inserate der „Arbeitsgemeinschaft Leichtmetall“ (einer Ausschussgründung des Spitzenverbandes der metallverarbeitenden Gebrauchsgüterindustrie) mit dem Aufhänger „Kann Aluminium Ehen retten?“

Drei Monate endlich nach jener Sitzung der FKCHP legte das Kabinett dem Parlament den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Unzucht (GBU) vor, in dem allen ledigen Frauenspersonen vom 16. bis zum vollendeten 55. Lebensjahr zur Pflicht gemacht war, einen K-Gürtel zu tragen, für den Übertretungsfall waren empfindliche Strafen vorgesehen. In der Parlamentsdebatte erhielt zwar der Sprecher der Opposition für die ironische Frage, ob die Regierung demnächst eine Atemordnung erlassen wolle, starken Beifall von links und feinschmeckerisch-zustimmende Kommentare fast unabhängiger Zeitungen, das Gesetz aber wurde von der Mehrheit durchgedrückt.

Im Volke wurde die Verabschiedung des Gesetzes zunächst kaum beachtet. Als vielen Frauen und Mädchen die Aufforderung, sich beim zuständigen Gesundheitsamt zwecks Anpassung eines K-Gürtels zu melden, zugestellt wurde, glaubten die Betroffenen, es handle sich um einen Reklamefeldzug für den Film „Du sollst nicht“, dem der Roman „Schließ auf, Renate“ zugrunde lag. Die zweite Aufforderung machte einige Frauen stutzig, zumal sie die Klausel enthielt, die für den Fall der Fruchtlosigkeit vorliegender letzter Aufforderung zwangsweise Vorführung und Ordnungsstrafe androhte.

Kurze Zeit später wurden die umsonst aufgeforderten Frauen auch tatsächlich zwangsweise vorgeführt. Da die Polizisten den Frauen nicht sagten, worum es sich handelte, gingen alle ohne Widerstand mit. Erst als auf dem Gesundheitsamt eine der Frauen, an denen die vorgeschriebene Prozedur ausgeführt werden sollte, erregt aus dem Amtsraum auf den Korridor lief und „Wollt ihr euch das gefallen lassen, wir sind doch keine Huren“ und dergleichen rief, verstanden die Frauen, worum es ging. Sie weigerten sich nun entschieden, sich den gesetzlichen Maßnahmen zu unterwerfen, ja sie griffen die noch anwesenden Polizisten und Gesundheitsbeamten tätlich an und verschafften sich mit Gewalt den Ausgang aus dem Gebäude.

Da die Frauen sofort alles ihren Arbeitskolleginnen, ihren Eltern und Freunden erzählten, entstand überall große Unruhe. Beinahe wäre es zu Demonstrationen und Aufruhr gekommen. Die Massenblätter trugen nun große Schlagzeilen wie SCHLAGEN SIE IHRE FRAU, HERR MINISTER und GERICHTSVOLLZIEHER GEGEN LIEBE. Die Opposition verteilte Flugblätter, die sehr klug und menschenfreundlich geschrieben, aber auch sehr lang waren, weshalb sie niemand las.

Durch all das war die FKCHP-Regierung sehr unpopulär geworden. Sie legte dem Parlament ein Gesetz zur Suspendierung des Gesetzes zur Bekämpfung der Unzucht vor, das diesmal mit den Stimmen der Opposition verabschiedet wurde. Trotzdem hatte der FKCHP die Empörung der Bevölkerung so viele Stimmen gekostet, dass sie keine Regierung mehr hatte bilden können, hätte sie nicht nach den nächsten Wahlen die Partei der christlichen Ökonomen (CHÖ) überreden können, sich der bisherigen Koalition anzuschließen. Ihr wurden dafür zwei Ministersessel zugesprochen.

Konrad Kittl


Simplicissimus 35 vom 1. September 1956, 547.

Überraschung

Jahr: 1956
Bereich: Lebensart