Materialien 1976
Die kritische Beleuchtung der Bundesrepublik vorenthalten
CSU-Generalsekretär Tandler ist um das Wohl der die ganze Woche schwer arbeitenden Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland besorgt. Auch andere Vertreter der CDU-CSU (den Bindestrich wird man wohl bald weglassen können!) haben gegen die Hereinnahme der Dokumentation einer Veranstaltung der IG Metall in Köln mit Wolf Biermann in das Abendhauptprogramm der ARD protestiert. Mit Erfolg, wie man am Samstag gegen 2 Uhr früh schmerzlich am eigenen Leibe erfahren mußte. „Eine Zensur findet nicht statt.“ (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikei 5, 1.)
Die Situation ist fast pervers. Lautstarke Proteste gegen die gewiß verächtliche und entlarvende Ausbürgerung und gegen das vorausgegangene jahrelange Berufsverbot gegen Wolf Biermann, besonders von den beiden christlichen Parteien. Die Proteste sind natürlich berechtigt, einer Parteigruppierung, die unter dem Schlagwort der Freiheit am 3. Oktober große Wahlerfolge erzielte, stünden sie sogar gut an. Nun sollte aber die Probe aufs Exempel gemacht werden. Der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland und, was Herrn Tandler offensichtlich völlig entgangen ist, auch der der DDR, sollte Gelegenheit gegeben werden, sich ein anschauliches Bild zu machen, warum und wie sich Wolf Biermann um Kopf und Kragen sang. Eine Dokumentation stand ins Haus, lehrreich und interessant, ein wichtiger politischer Anschauungsunterricht für den mündigen Bürger in einem Staat mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung. Doch plötzlich besann man sich darauf, für wen man da die Freiheitstrommel gerührt hatte! Biermann ist Kommunist, was eigentlich allen von Anfang an bekannt war.
Biermann fand sich wohl am Freitagabend bei uns in einer ihm sehr vertrauten Situation wieder: Auftrittsverbot. Denn darauf lief doch dieser mitternächtliche Sendetermin hinaus.
Zu bedauern sind außer den Staatsorganen der DDR, die sich ins Fäustchen lachen werden, alle: die Bürger der Bundesrepublik, denen eine der besten Fernsehsendungen der letzten Jahre vermiest wurde, die Bürger der DDR, denen eine kritische Beleuchtung ihrer Republik praktisch vorenthalten wurde, die CDU-CSU, die einen weiteren Schritt zur Knebelung der Freiheit des Geistes tat, und am meisten WoIf Biermann, dem, wenn er wirklich nicht mehr in die DDR zurückkehren kann, in der Bundesrepublik Deutschland nur ein trauriges Schicksal vorauszusagen ist.
Günter Ernstberger, Studiendirektor
Trogerstraße 42
8000 München 80
Süddeutsche Zeitung vom 27./28. November 1976.