Flusslandschaft 2014

Lebensart

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Wolfgang Blaschka im Faschingsumzug der „Damischen Ritter“. Zugaufstellung am 16. Februar in der Herzog-Wilhelm-Straße hinterm Sendlinger Tor

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Es waren zuerst die Alternativen, die Partizipation einforderten, und es entstanden überall Bürger-
initiativen. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten konstatieren heute, dass die Zustimmung der Mehrheiten zum herrschenden status quo immer mehr sinkt. Da scheint es logisch, auf den neuen Zug aufzuspringen, um zu retten, was zu retten geht: Wir errichten eine „Beteiligungsfassa-
de“ und imaginieren ein demokratisches „Mitmachen“. Wo liegt nun die Grenze zwischen einer realen und einer fingierten Gegenstrategie? Die Mitmachfalle macht sich breit in simulierter Parti-
zipationskunst, in der digitalen Bohème, in Bürgerplattformen, im Community Organizing, in Bür-
gerhaushalten, in »strategischen« Dialogen, in Mediationsverfahren sowie in der Rolle von Kon-
zernstiftungen, Parteien und ideologischen Vordenkern. Näheres steht im Buch von Thomas Wag-
ner, „Die Mitmachfalle. Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument“, PapyRossa Verlag Köln.

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In der Fraunhoferstraße

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Schaufenster in der Schwanthalerstraße

Im September steigt die städtische Erregungskurve. Der Blick fällt auf die lederne Bux, die die Kör-
perausscheidungen dreier Generationen in sich aufgesogen hat, die Anprobe des Dirndl vom letz-
ten Jahr wird zur Qual: Nähte auftrennen und Taille erweitern oder doch ein neues erwerben? Die Warenlager füllen sich mit von zierlichen Händen im fernen Osten gefertigten Miedern, Schürzen, Blusen, Rüschen, Bändern. Der Discounter bietet eine Hirschlederne aus Kambodscha für 49,90 an. Die Wiesn steht an. Am Sonntag, 21. September, ziehen Wiesn-Wirte, lächelnde Politiker, stramme Musikkorps und zünftige Trachtler durch die Stadt. „… Während der zweite Tag der zweiten Aktionskonferenz zur Vorbereitung der Proteste gegen den G7-Gipfel in Elmau bereits begonnen hatte und die versäumten Minuten gnadenlos verrannen, kämpfte ich mich mutig durch die grausame Realität einer wiesntrunkenen Großstadt im folkloristischen Ausnahmezustand. Ich blieb heute im Trachtenzug stecken, da ging nichts mehr mit Straße überqueren. Da ich ins Eine-
WeltHaus wollte, welches jenseits der Route liegt, musste ich geschlagene anderthalb Stunden Tschindarassa, bis zu zehnspännige Pferdefuhrwerke, Seehofer, Reiter und Seppi-Schmidt-Kut-
schen, jeweils mit Gattinnen, an mir vorüberziehen lassen. Kein Rüberkommen. Also hielt ich den Promis missmutig den nach unten gereckten Daumen entgegen. Das war mein einziger Spaß an dem Spektakel. Die Bürgersteige waren mit Absperrseilen vor den Menschentrauben abgedichtet, davor stand alle 10 Meter ein Polizist. Unter deren Augen defilierten bewaffnete Formationen zahlloser Schützenvereine mit Stutzen, Armbrüsten, Vorderladern, teils aufgepflanzten Bajonetten, allerlei Bergbau-Arbeitsgeräten und Feldarbeits-Besteck, trommelten und schmetterten Fanfaren-
züge, tirillierten, flöteten und posaunten Musikkapellen, winkten müde wirkende Trachtengrup-
pen wie geistesabwesend, mit hässlich bebrillten Kindern, resolut röckeraffend dahinhastenden Frauen in bodenlangen Gewändern, jovial grüßenden Honoratioren und angestrengt gute Laune verbreiten wollenden Burschen und schiachen, landpomeranzigen, Blumensträuße schwenkenden Madln durch die publikumsgesäumten Straßen, die im Takt widerhallten vom Wummern der großen und Knattern der kleineren Trommeln, als ginge es gleich da hinten ab in den nächsten Weltkrieg. Schaurig, wie so eine ganze Stadt sich an endlosen 60 Abteilungen verkleideter Tradi-
tionalisten ergötzen kann! Am Schluss stacksten 4 stolz berittene Polizisten und grüßten in die Menge, als wären sie der Höhepunkt des militanten Aufzugs, und ließen ihre Rösser hoheitlich aufs Pflaster kacken. Gleich dahinter kehrten drei Fahrzeuge der Straßenreinigung über den noch leicht regenfeuchten Asphalt, um die frischen Pferdeäpfel gleichmäßig am Boden zu verschmieren …“4

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Ein Prosit der Gemütlichkeit

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Und noch ein Schaufenster in der Schwanthalerstraße

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In Laim

Samstag, 27. September, 13 Uhr: „Während der Großteil von München sich die Seele aus dem Leib kotzt, lädt der Hanftag München alle Bayern und Nicht-Bayern ein, um für die Legalisierung einer von Gott gegebenen Pflanze zu demonstrieren. Cannabis ist ein Jahrtausende altes Heil- und Ge-
nussmittel, doch werden Patienten wie Konsumenten aufs Härteste verfolgt, diskriminiert und verurteilt. Das soll aufhören! Auf ein Neues treffen wir uns am Sendlinger Tor, um dann gemein-
sam durch die Straßen Münchens zu ziehen, um lautstark unser Recht zu fordern. Hinterher gibt
es wie üblich ein buntes Programm mit Rednern und Musik.“6


1 Fotos © Volker Derlath

2 Grafik: Bernd Bücking. In: Conrad Schuhler, Widerstand. Kapitalismus oder Demokratie, isw-Report Nr. 96, Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung München e.V., März 2014, 12.

3 Fotos: Richy Meyer

4 Aus einem Brief von Wolfgang Blaschka vom 21. September 2014. Siehe auch „Weltgipfel im Wiesn-Wahn. The ‘Original Bavarian Gemutlic-kit’“ von Wolfgang Blaschka unter www.rationalgalerie.de/kritik/-haupt-ueberschrift—3.html. Siehe außerdem www.youtube.com/watch?v=6LaFwL5JVbw und www.muenchenkotzt.de/.
Bürgermeister Josef Schmid, CSU, Leiter des Referats für Arbeit und Wirtschaft und Wiesn-Festleiter: „… Gerne erinnere ich mich zurück, als ich als junger Bub mit meinen Eltern und meinem Bruder über das Areal zu Fuße der Bavaria schlen-
derte, begeistert von den Fahrgeschäften, den riesigen Bierzelten und den vielen Schmankerln. Heute fasziniert mich, dass man damals aus den Bierzelten rausgehen konnte und nach einem Bummel auch wieder zurück an seinen Platz kam. Noch immer beginnt ein Wiesnbesuch für mich traditionell mit einer Fischsemmel, obwohl ich aus einem Metzgerhaushalt stamme … Besonders freue ich mich immer auf den Trachtenumzug. Es ist mir eine große Freude und Ehre, alle zwei Jahre mit meinen Allacher Alpenröslern am Sonntag auf der Wiesn einzuziehen. Die ganze Familie in Werdenfelser Tracht, versteht sich. In diesem Jahr habe ich als sogenannter Festleiter die große Ehre, in einer Kutsche mitfahren zu dürfen …“ Wiesn 2014. Das offizielle Wiesn-Magazin, 9.

5 Fotos © Volker Derlath

6 Siehe https://de-de.facebook.com/events/1390248971264854/?ref=22.

Überraschung

Jahr: 2014
Bereich: Lebensart