Materialien 1996

Neue Verfassung der Bundesrepublik Deutschland

(Entwurf: Dr. Gerhard Beier)

Der deutsche Markt,
einig in seinen Stammaktien,
gibt sich die folgende Verfassung:

Art. 1: [Schutz des Wettbewerbs]

(1) Die Hürde des Wettbewerbs ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Der deutsche Markt bekennt sich darum zu verletzlichen und verkäuflichen Menschenrechten als Grundlage des Wettbewerbs und des Kampfes um höhere Marktmacht im globalen W€ettstreit.
(3) Die folgenden Grundrechte binden Börse, Kapitalmarkt und Unternehmensberater als unmittelbar geltendes Unrecht.

Art. 2: [Freiheitsrechte]

(1) Jeder hat das Recht auf aktive und passive Teilnahme am Wettbewerb, soweit er seinerseits den Wettbewerb akzeptiert und nicht gegen Marktgesetze und die normative Kraft des Geldes verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Einnahmen und Ausgaben und auf das Bankgeheimnis. Die Freiheit der Anbieter und Abnehmer ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund neuer Wechselkurse eingegriffen werden.
(3) Kirchen haben das Recht, sich als Aktiengesellschaften im Dienstleistungsbereich zu betätigen.
(4) Temporegelungen im Straßenverkehr schränken die Freiheit dort ein, wo sie die meisten betrifft. Solche Beschränkungen verstoßen deshalb gegen die Verfassung und sind per se hinfällig. Alle geschwindigkeitsbeschränkenden Verkehrsschilder verlieren ihre Gültigkeit. Hier setzt die Verfassung unmittelbar geltendes Recht.

Art. 3: [Gleichheit vor dem Konkursrichter]

(1) Alle Menschen sind vor dem Konkursrichter gleichgültig.
(2) Männer und Frauen dürfen sich gleichermaßen auf dem Markt anbieten.
(3) Niemand darf wegen der Art seines Angebotes, der Herkunft seiner Waren, der Art ihrer Kennzeichnung, ihrer ideologischen Einfärbung, der aufgeklebten Etiketten und der verteilten Prospekte benachteiligt oder bevorzugt werden.

Art. 4: [Kennzeichnungsfreiheit]

(1) Die Freiheit der Kennzeichnung nach qualitativen und quantitativen Merkmalen ist
unverletzlich. Chemische Zusätze, Bestrahlungen und andere konservierende Maßnahmen unterliegen nicht der Kennzeichnungspflicht.
(2) Die ungestörte Ausübung denaturierender Maßnahmen wird gewährleistet (Genfreiheit).
(3) Alle dürfen gegen ihr Gewissen zum Konkurrenzkampf gezwungen werden. Das Nähere regelt die Marktordnung.

Art. 5: [Recht auf irreführende Angaben]

(1) Jeder hat das Recht, seine Ware in Wort, Schrift und Bild frei anzupreisen und zu verkaufen und sich aus allgemein zugänglichen Märkten zu bedienen. Die Werbefreiheit in Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen wird gewährleistet.
(2) Die Pressefreiheit ist ein Privileg der Eigentümer von Druck- und Verlagshäusern.
(3) Die Informationsfreiheit orientiert sich am Anzeigenaufkommen.
(4) Eine Zensur von Münzen, Geldscheinen und Aktien findet nicht statt.

Art. 6: [Ehe, Familie, uneheliche Kinder]

(1) Familien werden dem Konkursrecht unterworfen.
(2) Die Erziehung der Kinder richtet sich nach den Marktchancen ihrer Jahrgänge.
(3) Kinder ohne Marktwert werden in Lagerhäusern untergebracht, bis die Nachfrage
steigt.
(4) Der Staat mischt sich in Erziehungsfragen des Marktes nicht ein.
(5) Mütter haben keinen Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(6) Uneheliche Kinder und ihre Mütter sind gleichberechtigt.
(7) Wer Kinder in die Welt setzt, ist für die Folgen verantwortlich. Wer es nicht tut, ebenso.

Art. 7: [Schulwesen]

(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Marktes.
(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, die Marktchancen unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse selber zu bewerten und ihre Kinder dementsprechend am Religionsunterricht teilnehmen zu lassen.
(3) Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach, soweit Angebot und Nachfrage es gestatten.
(4) Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen geht dem der öffentlichen Schulen vor. Wo private Schulen unter mangelnder Nachfrage leiden, sind öffentliche Schulen zu schließen, bis der private Schulmarkt sich wieder stabilisiert hat.
(5) In Abschlusszeugnissen ist die Kreditwürdigkeit der Schulabgänger und ihrer Angehörigen zu testieren.

Art. 8: [Versammlungsfreiheit]

(1) Alle Deutschen haben das Recht, ohne Anmeldung oder Erlaubnis auf dem Markt zu erscheinen.
(2) Den Zugang zur Börse (Aktienmarkt) regelt das jeweilige Depotrecht.

Art. 9: [Vereinigungsfreiheit]

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Aktiengesellschaften, GmbH’s und Kommanditgesellschaften zu bilden.
(2) Die Gründung von Genossenschaften bedarf der Genehmigung durch die Kreditinstitute. Persönlich haftende Genossenschafter werden gegebenenfalls verhaftet.
(3) Vereinigungen, die den internationalen Wettbewerb durch Lohnabsprachen (Konditionenkartell) beeinträchtigen, widersprechen der marktwirtschaftlichen Grundordnung.
(4) Die Vereinigungsfreiheit ist ein Vorrecht der Monopole.
(5) Arbeitskämpfe mit politischen Forderungen werden als terroristische Aktionen verboten.
(6) Lohnstreiks unterliegen dem Gebot der Marktverträglichkeit. Sie dürfen nur eingeleitet werden, wenn ihr Erfolg zum Lohndumping oder zum Zusammenbruch der Tarifsysteme führt.
(7) Wer durch Lohnabsprachen den Standort Deutschland gefährdet, wird wegen Hoch- und Marktverrat strafrechtlich verfolgt.

Art. 10: [Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis]

(1) Das Briefgeheimnis wird von der Post AG kontrolliert.
(2) Das Telefongeheimnis untersteht der Kontrolle der Telekom AG.
(3) Das Bankgeheimnis gehört der Schufa.
(4) Weitere Geheimnisse unterliegen der Kontrolle durch die öffentlichen Dienste.
(5) Die informationelle Selbstbesinnung (sogenannter Datenschutz) ist Privatsache.

Art. 11: [Freizügigkeit]

(1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit nach Maßgabe ihrer Mobilität.
(2) Wer nicht bereit ist, seinen Wohnsitz nach dem Arbeitsplatz zu richten, verliert das
Recht auf Freizügigkeit.
(3) Der Wohnsitzwechsel folgt dem Mietpreisgefälle, solange der Wohnraum reicht.
(4) Die öffentliche Hand darf sich in das Angebot von Wohnräumen nicht einmischen,
um dem Reinheitsgebot des Wohnungs- und Immobilienmarktes zu entsprechen.

Art. 12: [Freiheit der Berufswahl]

(1) Die Freiheit der Berufswahl richtet sich nach den familiären Verhältnissen des Bewerbers.
(2) Die Berufsausbildung dient der Vermarktung von Talenten und der Anpassung des
Charakters an wirtschaftliche Gegebenheiten.
(3) Arbeitszwang wird durch Anstellungsfreiheit ersetzt.
(4) Zwangsarbeit gilt für alle Berufe, deren Lohnhöhe eine befriedigende Nachfrage von
Arbeitsuchenden dauerhaft unmöglich macht.
(5) Der Ämterkauf unterliegt den Regeln des freien Marktes.

Art. 12a: [Wehr- und andere Dienstverpflichtungen]

(1) Die Wehrmacht wird in Wehrmarkt umgekauft.
(2) Die Wehrfreiheit ist obligatorisch.
(3) Das Wehrgeschehen folgt den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Luft- und Raumfahrtindustrie.
(4) Wer nicht am Wettbewerb teilnimmt, darf auch nicht schießen.
(5) Im Verteidigungsfalle werden die Märkte geschlosscn. Wer sich bis dahin nicht ausreichend bevorratet hat, unterliegt der Erfahrung des Mangels.
(6) Manöverschäden werden nur entschädigt, wenn es der Konjunkturlage dient (Defizitspending).
(7) Im Friedensfalle findet der Krieg im Straßenverkehr statt.
(8) Wer die schnellsten und stärksten Motoren hat, soll im Verkehrswettbewerb siegen.
(9) Vorfahrtsregelungen folgen dem PS-Prinzip.

Art. 13: [Unverletzlichkeit der Wohnung]

(1) Wohnungen dürfen nur zu Lauschzwecken angegriffen werden.
(2) Einzelstehende Einfamilienhäuser, Praxen und Büros freiberuflich tätiger Mitbürger
werden gesetzlich geschützt.
(3) Der Wohnraum dient als Reservefläche für Firmen, in denen der/die Versorger/in beschäftigt ist. Im Konfliktfalle erhält der größere Betrieb das Belegrecht.
(4) Wer keinen Wohnraum vernichtet, wird zu einer Ausgleichsabgabe für den Verein der Haus- und Grundbesitzer herangezogen.

Art. 14: [Eigentum, Erbrecht und Enteignung]

(1) Grundbesitz unterliegt dem besonderen Schutz der Staatsgewalt (Territorialstaatlichkeit).
(2) Eigentum verpflichtet zu Eigennutz und Steuerflucht.
(3) Wer sein Eigentum an Eigentumslose verteilt, verstößt gegen das Eigentumsprivileg.
(4) Der Gebrauch des Eigentums soll allein dem Wohl des einzelnen dienen.
(5) Die Entschädigung geht der Enteignung voraus.
(6) Verluste werden vergesellschaftet, sofern sie die Millionengrenze überschreiten und keine Arbeitsplätze gefährden.
(7) Wer Eigentum als Diebstahl bezeichnet, wird zum Literaten ernannt (Goethe-Medaille).

Art. 15: [Sozialisierung]

(l) Das Privateigentum ist nur sich selber verpflichtet.
(2) Die Privatisierung wird als einzige Form der Sozialisierung anerkannt.

Art. 16: [Ausbürgerung, Auslieferung, Asylrecht]

(1) Haus- und Grundbesitzer dürfen nicht ausgebürgert ode€r ausgeliefert werden.
(2) Ausländische Haus- und Grundbesitzer genießen das Recht auf politisches Asyl.

Art. 17: [Petitionsrecht]

Beschwerden gegen Verletzungen des Wettbewerbs werden vom Parlament entgegen genommen und dem Markt überantwortet.

Art. 18: [Einschränkung von Grundrechten]

(1) Wer keinen Gewinn macht, verliert das allgemeine Wahlrecht, bis er wieder schwarze Zahlen schreibt.
(2) Bewaffnete Männer schützen die Hürde des Wettbewerbs.
(3) Zivildienstleistende haben kein Recht auf Eigentum.

Art. 19: [Verwirkung von Grundrechten]

(1) Wer im Wettbewerb nicht mehr hochkommt, verliert seine Rechte am Markt.
(2) Wer sich nicht am Konkurrenzkampf beteiligt, verliert das aktive und passive Wahlrecht.
(3) Wer den Existenzkampf negiert, bekommt keine Sozialhilfe.

Art. 20: [Verfassungsgrundsätze – Widerstandsrecht]

(1) Die Bundesrepublik Deutschland bildet eine Holding von Aktiengesellschaften.
(2) Der Sozialstaat ist abgeschafft.
(3) Die Währungshoheit unterliegt de€r Deutschen Bank (Münzprivileg).
(4) Alle Staatsgewalt geht vom Markt aus.
(5) Die Börse ist das Bundesverfassungsgericht.
(6) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen
das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

V.i.S.d.P.: Günther Gerstenberg, Gundermannstraße 34, 80935 München


Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

Überraschung

Jahr: 1996
Bereich: Alternative Medien