Flusslandschaft 1996

Kapitalismus

Der Verfasser dieser Zeilen war in den 90er Jahren in Kontakt mit dem Historiker Dr. Gerhard Beier (10. April 1937 in Flensburg – 13. Dezember 2000 in Kronberg im Taunus). Sie waren in ihrer Beurteilung der Geschichte der SPD und der Arbeiterbewegung oft uneins, trafen sich aber häufig in der Einschätzung der aktuellen weltgeschichtlichen Ereignisse und empfanden es als Katastrophe, dass nach dem Kollaps einer wenn auch noch so schlecht umgesetzten Systemal-
ternative nun offensichtlich der Kapitalismus als alternativlose Gesellschaftsorganisation seinen Siegeszug antreten werde. Nachdem Beier eine neue, bis heute aktuelle Fassung einer deutschen Verfassung entworfen hatte, wurde diese nun als Flugblatt in München kommentarlos verteilt.1

Theo Waigel, Bundesfinanzminister von 1989 bis 1998, „war nicht nur damit befasst, für die Etab-
lierung der EU und die Vorbereitung des Euro im Sinne eines eher einfältigen Monetarismus und Neoliberalismus seine ‚Maastricht’-Stabilitätsnormen als Inbegriff des Gemeinwohls zu diktieren. In der gleichen Zeit war Waigel politisch auch zumindest mitverantwortlich für die zwei übelsten Privatisierungsschläge gegen die deutsche Nachkriegsgesellschaft und ihren Daseinsvorsorgestaat: Gemeint sind die so genannten ‚Reformen’ von Post und Bahn.“2

Pierre Bourdieu, Professor für Soziologie am Collège de France in Paris, geißelt den Neoliberalis-
mus, der Wettbewerbsfähigkeit und Haushaltskontrolle, Deregulierung und Privatisierung, Lohn-
zurückhaltung und Arbeitsflexibilität wie ein Mantra fordert, als eine Religion.3 Auch andere stimmen in diese Kritik ein: „Ich glaube, dass es diese grundsätzliche Kritik am Kapitalismus … bereits gibt … Aber das Problem besteht darin, dass diese Kritik nur dann weiterführt, wenn ihr eine Perspektive, ein Projekt zugeordnet ist. Das war ja das Faszinosum der Marxistischen Theorie, dass sie nicht nur den Kapitalismus kritisierte, sondern gleichzeitig ein Projekt formulierte … Heute fehlt der Kritik ein solches Projekt. – Selbst Liberale wie Dahrendorf sagen mittlerweile, die Globalisierung sei eine Gefährdung für die Demokratie. Sie führe zum Autoritarismus, weil die Konkurrenz dazu führe, dass immer die niedrigsten sozialen und ökologischen Standards sich durchsetzen, und das seien diejenigen, die mit autoritären Mitteln erzwungen werden. Also würde sich der Autoritarismus auch in den westlichen Demokratien durchsetzen. Immer vorausgesetzt: Wir tun nichts dagegen. Das ist eine Kapitalismuskritik – allerdings eine ohne Projekt. Und das ist zu wenig.”4

(zuletzt geändert am 9.11.2023)


1 Siehe „Neue Verfassung der Bundesrepublik Deutschland“ von Gerhard Beier.

2 Albrecht Goeschel/Markus Steinmetz, Klosterschüler Streibl lächelt Exportbombe in die EWU, Bayern-Saga: Wie man am eigenen Erfolg scheitert – Teil 9, 30. März 2020, https://www.heise.de/-4676116

3 Siehe Die Zeit 45 vom 1. November 1996, www.zeit.de/1996/45/Warnung_vor_dem_Modell_Tietmeyer. Siehe Der Spie-
gel 50 vom 9. Dezember 1996, 172 ff., www.spiegel.de/spiegel/print/d-9133291.html.

4 Elmar Altvater, Johano Strasser, Tilman Fichter, Kapitalismus ohne Alternative? Gespräch. Die Neue Gesellschaft/Frank-
furter Hefte 1/1996, 23 f.

Überraschung

Jahr: 1996
Bereich: Kapitalismus