Flusslandschaft 1968

Nazis

Die junge Generation fordert die Offenlegung der Vergangenheit wichtiger Personen in Wirtschaft und Politik. Das münchner rationaltheater in der Hohenzollernstraße 74 in Schwabing zeigt in seinen Schaufenstern die Verstrickungen von Bundespräsident Lübke in die eigene NS-Vergangen-
heit. Im Bayerischen Rundfunk spricht regelmäßig Winfried Martini seine Kommentare. Am 2. März meint er: „Ungefähr mit dem Ende des kalten Krieges und wohl nicht ohne Zusammenhang damit begann in Deutschland eine neue, durch keine Gesetze begrenzte Flut der Denazifizierung, die sich unter dem Stichwort der Vergangenheitsbewältigung etablierte. Mehr als jemals zuvor wurde … die Denunziation zur geläufigen Übung. Selbstverständlich nahm der Osten bald die Chancen wahr, die unsere Beflissenheit ihm unverhoffterweise bot. Indessen muss die Frage nach … Motiven doch wenigstens gestellt werden. Sie können nicht rechtsstaatlicher Art sein. Die Mo-
tive des Ostens können … nur auf die Diffamierung der Bundesrepublik, auf ihre politische Isolie-
rung und schließlich darauf zielen, ihr politisches und gesellschaftliches Gefüge zu erschüttern. Dann stellte Ulbricht einem Münchner Schriftsteller ein paar Originale zur Verfügung; ein renom-
mierter amerikanischer Handschriftengelehrter bestätigte die Echtheit der Unterschrift Lübkes. Der „Stern“ fand nichts dabei, eines der Dokumente mit entsprechenden Kommentaren zu veröf-
fentlichen. Lübke hatte immer die Echtheit des Dokumentes unterstellt, weder auf die Errichtung jener Außenstelle noch auf deren Belegung irgendeinen Einfluss, das ergibt sich schon aus seiner damaligen Stellung. Hingegen hat er das Los der Häftlinge beträchtlich erleichtert, indem er sie vor der kalten Jahreszeit schützte. Sie dürften ihm damals, falls sie seinen Namen überhaupt erfahren haben, sehr dankbar gewesen sein. Ich bin der Meinung, dass Lübke, die Bundesregierung und der Bundesinnenminister am besten niemals reagiert hätten. Angriffe erreichen nur dann etwas, wenn der Angegriffene reagiert, andernfalls verpuffen sie und werden nach einer Weile als aussichtslos eingestellt. Allerdings hat Bonn sich in seine eigenen Gewohnheiten verstrickt. So hat es sich selber der Möglichkeit begeben, sich im Falle Lübke so zu verhalten, wie es allein würdig gewesen wäre.“1

Das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OwiG) tritt am 1. Oktober in Kraft. Es scheidet viele Tat-
bestände aus dem Kriminalunrecht aus und stuft sie zu Ordnungswidrigkeiten herab. Dieses „Dre-
her-Gesetz“, benannt nach dem Leiter der Strafrechtsabteilung im Justizministerium, Eduard Dre-
her, NSDAP-Mitglied und unbarmherziger Staatsanwalt beim Sondergericht in Innsbruck und Feldkirch, führt mit einem Schlag zu einer Generalamnestie der meisten Verbrecher des Nazi-Re-
gimes: Mörder gelten jetzt als Totschläger und damit sind ihre Taten seit 1960 verjährt.

(zuletzt geändert am 8.12.2020)


1 Zitiert in: das münchner rationaltheater. ein politisches kabarett, 5. Programm: „So legt man Euch Ihr Brüder“, Pro-
grammheft 1968, unpag. Das rationaltheater kommentiert: „Winfried Martini, 63, praktizierender Antidemokrat (Sie wer-
den verzeihen, dass mich die Frage, ob ich Demokrat bin, nie interessiert hat), von 1943 bis 1945 wegen seiner politischen Einstellung mit Berufsverbot belegt und bei der Deutschen Wehrmacht als Flieger beschäftigt, setzt sich seitdem folgerich-
tig für die Todesstrafe bei Fahnenflucht im Kriege ein. Ein Meister im Verkaufen von Halbwahrheiten, stellt er die Ge-
schichte in den Dienst des Herrenmenschen. Halbbildung und Eloquenz gehen in ihm eine typisch deutsche Symbiose ein. Kommentator des Bayerischen Rundfunks und Mitarbeiter in verschiedenen Springer-Blättern und anderen reaktionären Publikationen. Einer der dümmsten und widerlichsten Strategen des kalten Krieges. Vaterländische Vorträge vor der Führungsakademie der Bundeswehr.“

Überraschung

Jahr: 1968
Bereich: Nazis