Materialien 1975

Die Hauptversammlung

Du bekommst von „deiner“ Bank – wenn du eine Aktie hast – ein Buch zugeschickt, es ist so dick wie ein Taschenbuch, zweimal so breit, halb so hoch. Im Schaufenster einer Buchhandlung wäre es ein schickes Format. Das Buch hat eine laufende Nummer wie eine handsignierte Liebhaberausga-
be einer Lyriksammlung. Das Buch ist ein Eintrittsausweis mit Stimmkarten.

In der Halle vor dem Kongreßsaal des Deutschen Museums werde ich nach Waffen und Spreng-
stoff untersucht, da merke ich, dass ich zu einer legalen Veranstaltung gekommen bin, nicht zu einem ungesetzlichen Geheimtreffen. Im Saal gibt es „Wortmeldetische“, dort gibt man die ausge-
füllte und unterschriebene „Wortmeldekarte“ ab, wenn man etwas sagen möchte. Nach dem Gesetz hat man ein Recht zu sprechen. Ich vertrete einen Siemens-Kollegen, ich habe drei Stimmen von über zwanzig Millionen Stimmen.

Die Leute, die mich umgeben, sind gekleidet wie an einem Feiertag. Mein Siemens-Arbeiter arbei-
tet. Auf der Bühne sitzen an einem langen Tisch zwanzig der hundert mächtigsten Männer der Bundesrepublik. Ich versuche zu verstehen, was das ist. Man muss wissen, dass sie unser Leben verpfuschen, sehen kann man es nicht.

Die Veranstaltung hat Ähnlichkeiten mit einem Gottesdienst. Die Langeweile legt sich auf mein
politisches Bewusstsein. Wir langweilen uns, weil nicht von unseren Interessen die Rede ist. Schaut euch ein gelangweiltes Gesicht an: wie ähnlich sieht es dem Schwachsinn! Wir werden intelligenter dadurch, dass wir uns selbst regieren. Mit der Langeweile betäuben dich die Besitzer, damit sie dich leichter ausnehmen können. Sie machen das nicht mit Absicht, es genügt, dass sie von ihren Einnahmen reden und von ihren Ausgaben.

Ich war darauf gefasst, dass die Eigentümer den abwesenden Herstellern für den schönen Mehr-
wert ein salbungvolles Wort des Dankes in die Fabriken hinüberschicken würden, wenn auch nur, um das Arbeitstempo zu steigern. Vielleicht hatte ich so etwas wie den Hauch eines schlechten Gewissens bei den großen Aktionären für möglich gehalten.

Während der fünf Stunden erwähnte einer von ihnen ein Mal die Arbeiter und Angestellten, ob-
wohl die Aktionäre zusammen gekommen waren, um von nichts anderem zu reden als von deren Produkten. Er erwähnte sie als „Mitarbeiter“, obwohl er gar nicht gearbeitet hatte. Die Hersteller waren als Gespenst vorhanden, über das wurde häufig gesprochen, es hieß „Personalaufwand“.

Die ersten Sätze eines Diskussionsredners bereiteten mich darauf vor, dass die Autoritäten auf der Bühne angegriffen werden sollten. Ich ging spontan davon aus, das heißt gewohnheitsmäßig, dass jemand, der den Vorstand angreift, ein Bündnispartner wäre. Der Diskussionsredner warf den Mitgliedern des Vorstands vor, dass sie aus den Herstellern nicht mehr herausgeholt hätten.

Du gehst davon aus, jetzt kriegt der Vorstand des Konzerns eine rein, und dann kriegst du eine rein. Ich habe gar nicht mehr damit gerechnet, dass sich ein Besitzer von Produktionsanlagen zur Ausbeutung bekennt. Ich bin es gewohnt, dass sie die Ausbeutung leugnen. Wie erfrischend das ist, wenn jemand, der von der Arbeit anderer lebt, mich anschreit, dass er besser leben möchte. Wie das Wut macht. Das hätten die Arbeiter der Siemens-Betriebe hören sollen, im selben Ton, im selben Saal. Das hätte das Leben von vielen Menschen wahrscheinlich verändert. Ich sah und hörte die Arbeiter in den Saal marschieren.

Eines der Vorurteile der Reichen – das viele von uns übernehmen – ist die These, die Masse sei
zu dumm, sich selbst zu regieren. Die These sagt, die Wenigen verstehen besser, was die Vielen brauchen. Warum viele schlechter begreifen sollen als Wenige, hat uns noch niemand erklären können. Seit Jahrhunderten beweisen die Vielen, dass die „Eliten“ für die Menschheitsdumm-
heiten verantwortlich sind. Als Bauern wollten wir den Feudalismus abschaffen, in ganz Deutsch-
land einheitliche Maße und Münzen einführen, als es noch keine kapitalistische Elite gab. Nach dem Ersten Weltkrieg wollten wir, die vielen, die Großaktionäre daran hindern, einen zweiten Weltkrieg zu machen. Leute wie Siemens haben unsere Arbeitsergebnisse dazu missbraucht, Hitler an die Macht zu bringen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren wir es, die in Volksabstimmungen verlangten, dass das kleinkarierte private Gefummel mit den Produkten der Allgemeinheit aufhört. Die Kanonen der westalliierten Generale haben uns daran gehindert, wie vorher die Reichswehr und die Führung der SPD, das Gescheite durchzusetzen. Die Familie Siemens und die anderen großen Aktionäre verdanken ihr Einkommen der alliierten Militärdiktatur.

Der Witz an der Geschichte war: Die Hauptakteure waren nicht im im Saal: Arbeiter und Ange-
stellte. Die zwanzig mächtigen Männer auf der Bühne und ihre Bekannten in den anderen Firmen und im Bundestag haben die Macht, uns über die Geldentwertung auszuplündern und „Mitarbei-
ter“ zu entlassen, aber – so lange die Befriedigung unserer Bedürfnisse von privaten Konzernen abhängt – sie haben nicht die Macht, Arbeitslosigkeit zu vermeiden und Inflation. Diese Macht haben wir, die Vielen, wenn wir an der Macht sind.

In seinem Rechenschaftsbericht erwähnte der Vorstandsvorsitzende Plettner, dass die Firmenlei-
tung im letzten Geschäftsjahr 1,2 Milliarden Mark durch Preiserhöhungen eingenommen habe. Davon leben eine Million Familien einen Monat lang. Die Leitung hatte keine Wahl, weil sie eini-
gen Privatpersonen verantwortlich ist. Modernes Management hieße, dass die Leitung sich vor uns verantwortet. Die Hauptversammlung der Arbeiter und Angestellten (Mitbestimmung) ist eine technische Notwendigkeit, um die Preise stabiler und die Arbeitsplätze sicherer zu machen.

Von den Aktionären stimmten wieder 99 Prozent für die Geschäftsführung des Vorstandes. Abstimmungsergebnisse in dieser Höhe kennen wir auch in sozialistischen Ländern. Warum sollten Aktionäre für eine niedrigere Dividende stimmen? Warum sollte die arbeitende Bevölkerung für eine Gesellschaftsordnung stimmen, die sie zwingst, einige parasitäre Großaktionäre auszuhalten?

Am Ausgang des Deutschen Museums sah ich einen großen Karton als Abfallbehälter. Er war fast voll von schlanken glänzenden Taschenbüchern.

E. A. Rauter


Betriebsecho. Zeitung der DKP-Betriebsgruppe für die Siemens-Belegschaft vom April 1975, 1 f.