Materialien 2014

Wie Europa in den Ersten Weltkrieg „taumelte“

Pünktlich vor dem 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs sahen sich diverse Historiker berufen, die Hauptschuld Deutschlands zu relativieren oder ganz zu leugnen – ausgerechnet zu Zeiten, da alte Traditionslinien der deutschen Außenpolitik wieder ganz besonders sichtbar werden, wie derzeit bezüglich der Ukraine. Christopher Clarks These, die imperialistischen Mächte Europas seien geradezu schlafwandlerisch in den Krieg getaumelt, entbehrt historischer Tatsachen.

Längst vor der Reichsgründung 1871 in Versailles unter der Führung Preußens war die Marschrichtung bereits im März 1867 vorgegeben von Helmuth von Moltke, dem preußischen Generalstabschef: „[Ich muss] wünschen, dass der gegebene Anlass [=‘Luxemburg-Krise’] zu einem Kriege mit Frankreich benutzt werde. […] Je früher wir also handgemein werden, desto besser.” (Dollinger, Das Kaiserreich, S. 69). Bereits 1866 hatte er gedroht: „[Wir] dürfen, […] sobald wir einmal mobil machen, den Vorwurf der Aggression nicht scheuen. Jedes Zuwarten verschlimmert unsere Lage ganz entschieden.” (Moltke, Militärische Werke, I/b, S. 128). Otto von Bismarck-Schönhausen, der norddeutsche Kanzler, formulierte am 2. April 1870 die weltweiten Kolonial-Ambitionen des entstehenden Deutschen Imperialismus: „Die Interessen des deutschen Handels bedingen die dauernde Unterhaltung von Kriegsschiffen in den ostasiatischen Gewässern.” (Wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 200)

Der Konflikt mit den übrigen europäischen Mächten war vorprogrammiert und wurde regelrecht gesucht: „Bismarck hat die Thronkandidatur nur in der Absicht und Voraussicht aufgebracht, um daraus den Kriegsfall gegen Frankreich zu gewinnen”, konstatierte Anton von Hohenzollern-Sigmaringen, der Vater des Thronkandidaten Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen im Juni 1871 (Aubry, Das Zweite Kaiserreich, S. 660). Denn Bismarck meinte: „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, […] sondern durch Eisen und Blut.” Seine Order 1870: „[Ich fordere,] dass weniger Gefangene gemacht und mehr die Vernichtung des Feindes auf dem Schlachtfeld ins Auge gefasst wird.” (Bismarck, Politische Schriften, V/b, S. 636). Nach der im Blut der Pariser Kommunarden getauften Reichsgründung trat das bei der Aufteilung der Welt zu kurz und zu spät gekommene deutsche Kaiserreich in den Wettlauf um Kolonien und Absatzgebiete nicht nur diesseits des Atlantiks, sondern auch in Übersee ein – gegen das britische Empire wie gegen die USA. Es wollte Europa dominieren und Weltmacht werden.

„Cochinchina in unseren Händen und Saigon als Zentralplatz der Marine im Fernen Osten würden Deutschland mit einem Schlage eine bedeutende Machtstellung in Ostasien geben”, schwadronierte Friedrich I., badischer Großherzog, am 6. Feb. 1871 (Wehler, Bismarck und der Imperialismus, S. 204). Dazu musste „Frankreich […] so geschwächt werden, dass es auf lange Zeit verhindert wird, einen entscheidenden Einfluss auf das Geschick der Völker auszuüben”, wusste Friedrich von Hohenzollern-Sigmaringen, preußischer Thronfolger, am 12. Aug. 1870 (Dollinger, Das Kaiserreich, S. 80), der als Friedrich III. Preußischer König und 1888 Deutscher Kaiser wurde. Dem Expansionsdrang nach Osten stand Russland im Wege, wie Helmuth von Moltke, deutscher Generalstabschef, 1880 befand: „Unverkennbar sind die Vorteile, welche für Österreich wie für Deutschland erwachsen, wenn beide das Anschwellen der russischen Heeresmacht nicht abwarten, sondern sofort angriffsweise verfahren.” (Moltke, Die deutschen Aufmarschpläne, S. 97). So war es weder Zufall noch ein Unfall der Diplomatie, dass hellwach auf den großen Krieg zugesteuert wurde, sobald sich eine passende Gelegenheit dazu bieten würde.

„Da wir völlig fertig sind, so ist es konsequent, wenn wir uns nunmehr schnell zum Kriege [gegen Russland] entschließen”, drängte Alfred von Waldersee, der deutsche Generalquartiermeister am 16. November 1887 (Waldersee, Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten, I, S. 334), und: „Ich meine, dass wir die Pflicht haben, jede Chance, die sich zu unseren Gunsten bietet, zu benutzen und selbst den Krieg mit Frankreich herbeizuführen.” (Waldersee, ebendort S. 301). Es sollte noch etwas dauern, bis es soweit war. Österreich-Ungarn schreckte vor einem Winterfeldzug gen Osten noch zurück.

Inzwischen wurde der Flotten-Ausbau forciert, die Bagdadbahn angegangen, der Herero-Aufstand niedergeschlagen. Wo immer gegen deutsche Kolonialherrschaft aufgestanden wurde, war Härte angesagt: „Brutale Strafexpeditionen waren das Hauptmittel deutscher Offiziere, um rebellierende […] Häuptlinge zur Anerkennung der deutschen Herrschaft bzw. der Autorität des Königs [Yuhi IV.] zu zwingen: Systematische Zerstörung oder Niederbrennung ganzer Dörfer und ihrer Landwirtschaft, Viehenteignungen, Hinrichtungen”, schrieb Christophe Kougniazondé, ein beninischer Jurist im September 1997 (Rwanda Occasional Paper 13/1997). Der „Platz an der Sonne”, den der Außenstaatssekretär Bülow am 6. Dezember 1897 für Deutschland forderte, war nur mit roher Gewalt zu erzwingen. Das „Flottengesetz” zum Ausbau der deutschen Kaiserlichen Marine, das am 24. März 1898 beschlossen wurde, sollte dem Reich die ersehnte „Seegeltung” verschaffen. „Die Seeinteressen Deutschlands sind seit Errichtung des Reiches in ganz ungeahnter Weise gestiegen. Ihre Erhaltung ist zu einer Lebensfrage Deutschlands geworden”, argumentierte Alfred von Tirpitz, der deutsche Marinestaatssekretär 1898 (Chvostov, Geschichte der Diplomatie, II, S. 165), welcher bis ins Kriegsjahr 1916 im Amt blieb.

Kaiser Wilhelm II. stellte am 18. Januar 1896 klar: „Aus dem Deutschen Reich ist ein Weltreich geworden.” (Dollinger, Das Kaiserreich, S. 226). „Wann immer Krieg in einem Teil der Welt ausbricht, setzen wir in Deutschland uns hin und machen einen Plan”, bekannte er gegenüber dem britischen Abgeordneten David Lloyd-George („Liberale Partei”/Liberal Party) 1907 (Tuchman, The Zimmermann Telegram, S. 33). „Es [ist] völlig gleichgültig, wer angefangen hat. Dauernd Recht hat allein der Sieger”, gestand sein Generalstabschef Alfred von Waldersee 1888 (Waldersee, Ges. Schriften und Denkwürdigkeiten, II, S. 42).

Auch die berüchtigte „Hunnenrede” des Kaisers vom 27. Juli 1900 klingt nicht gerade verschlafen: „Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen. So möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.” (Johann, Reden des Kaisers, S. 91). „Wenn wir ganz ehrlich sein wollen, so ist es Geldgier, die uns bewogen hat, den großen chinesischen Kuchen anzuschneiden. Wir wollten Geld verdienen, Eisenbahnen bauen, Bergwerke in Betrieb setzen, europäische Kultur bringen, das heißt mit einem Wort ausgedrückt, Geld verdienen”, erklärte Helmuth von Moltke, dt. Generaloberst, 1900. (Moltke, Erinnerungen, Briefe, Dokumente, S. 243). Diese Kapitalinteressen schließlich waren es, die Deutschland zu Krieg drängen ließen, wie vom Generalstabschef Alfred von Schlieffen bereits 1905 vehement gefordert: „Die einzige Lösung sehe ich in einem sofortigen Krieg mit Frankreich.” (Rochs, Schlieffen, S. 50). Seine „Lösung” führte in den Stellungskrieg mit verheerenden Gasangriffen, – 25 Jahre später in die Shoah.

Wolfgang Blaschka


als Manuskript am 1. Juni 2014 zur Verfügung gestellt

Überraschung

Jahr: 2014
Bereich: Gedenken