Materialien 1960
Ganz ohne Tucholsky
Eine Rede in den Münchner Kammerspielen zu Kurt Tucholskys 70. Geburtstag, Januar 1960, von Erich Kuby
Ich habe ihn nicht gekannt. Ich habe ihn aber gelesen, als er noch für den Tag und die Stunde schrieb, um zu wirken. Wirkte er? Das ist die Frage nach Sinn und Zweck zeitkritischen Schreibens überhaupt. Es ist aber nicht die Frage, an der Tucholsky zerschellen würde, wenn man sie vernei-
nen müsste. Denn er hat so gut geschrieben, dass vieles auch von dem, was für den Tag geschrie-
ben war, nicht in die Mülltonnen gewandert ist, auf denen das Wort „Aktuell“ steht – dieses töd-
liche Wort, wenn es sich um die Zukunft handelt.
Er war nicht der einzige, der zwischen den beiden ersten Kriegen Krieg mit der Feder gegen den Krieg führte. Es waren ihrer eine ganze Reihe, es wimmelte damals von ihnen, vergleicht man die Weimarer Zeit mit unserer Gegenwart. Männer, denen es ein Bedürfnis war, nachzudenken, be-
saßen zugleich die Fähigkeit, von der Schreibmaschine einen politisch verbindlichen und gegen-
über der Unvernunft bösartigen Gebrauch zu machen.
Sie hatten Zeitschriften und Zeitungen zur Verfügung. Und dann kam doch Hitler und kassierte alles. So betrachtet, blieb Tucholsky und den Seinen der Erfolg versagt. So betrachtet, hatte Hitler einen enormen Erfolg.
Aber es ist eine merkwürdige Sache mit diesen zuletzt immer verlorenen Streitern für die Vernunft: wenn sie nicht da sind, fehlt doch etwas. Wenn sie nicht da sind, wird der jeweils kurzfristige Er-
folg der erfolgreichen Täter noch dümmer, noch brutaler, noch fataler, als wenn er, garniert mit den Schriften eines Tucholsky, auf den Tisch der Geschichte aufgetragen werden kann. Und vor allem: wenn der Erfolg der machtlüsternen Unvernunft mit einer bei uns überaus kurzfristigen Gesetzmäßigkeit in der Pleite und der Katastrophe endet, erinnert man sich der vernünftigen War-
ner und hängt sie zum Fenster der Nation hinaus gleich Fahnen, dieweil in solchen Phasen die nationalen Fahnen, mit Adlern, Ringen, Werkzeugen oder Kreuzen geschmückt, vorübergehend in der Rumpelkammer abgestellt werden.
Da wir uns noch in der Phase des Erfolges der blinden Täter befinden, haben die Tucholskys der-
zeit eine rein ornamentale Funktion – wie zum Beispiel unsere Zusammenkunft beweist. Zumal auch der wackere Heuss die Rolle des Alibis bis vor kurzem trefflich spielte und davon noch ein schwacher Geruch nach Demokratie (die mit Vernunft durchtränkt sein muss, sonst bleibt sie eine formale Farce) über der Landschaft Bundesrepublik hängt – bis auch ihn der Westwind verwehen wird. So ist es durchaus möglich, dass nicht wenige von Ihnen des Glaubens voll hierher gekom-
men sind, bei der Feier des 70. Geburtstages des toten Tucholsky handle es sich um eine Dichter-
lesung mit verteilten Rollen – am Sonntagvormittag zwischen Kirchgang und Braten. Nun, es wird – Sie sehen und hören es – auch hier gelesen, es wird sogar gesungen, um die Substanz vorzufüh-
ren, um die es geht; aber wenn wir diese Darbietung vom Zaun eines Datums gebrochen haben – hier eine Einschaltung: Wer hat in unserer Millionen-Kunst-Bier-Königs- und Gaudi-Stadt gebro-
chen? Behörden, Theater, Politiker, unsere führenden Kultur-Köpfe? Ach nein, ein Journalist, Klaus Budzinski mit Namen, hat das getan, mit keinem anderen Auftrag und keiner anderen Legi-
timation als der einer persönlichen Wahlverwandtschaft zu Tucholsky. Er dachte: Sollen wir alles verschlafen? Nur deshalb sind wir hier. Und Sie, denen es offenbar nicht genug ist, Tucholsky zu Hause zu lesen, sind hierher gekommen, und nicht nur das, wenn ich recht unterrichtet bin, Sie haben sogar Eintritt bezahlt, denn wie Hitler vom Winterhilfswerk sagte: Ein Opfer, das kein Opfer ist, ist kein Opfer. Nachdem es Ihnen nicht zu genügen scheint, den Dichter nur zu lesen – wollen Sie vielleicht aus unserer Zusammenkunft einfach durch Ihre Anwesenheit mehr machen als eine Dichterlesung?
Das klingt nach Lob. Und soll es auch sein. Ich nehme von diesem Lob ausdrücklich den oder die zwei Herren von Verfassungsschutz aus, die sich hier eingefunden haben um festzustellen, ob hier nicht etwa im Namen Tucholskys kommunistische Propaganda getrieben wird – für den Frieden zum Beispiel, das wäre doch schrecklich. Die Kollegen dieser Herren haben den vermutlichen Mas-
senmörder Dr. Heyde ein Jahrzehnt lang nicht identifiziert. Das war ja auch ein Nazi …
So – und nun zurück. Wenn wir Tucholskys Geburtstag am Zipfel ergreifen, so nicht nur, um an den raren Mann zu erinnern, sondern um à propos eines so überaus geeigneten Anlasses das Ge-
genwärtige am Vergangenen zu messen, die Bundesrepublik von 1960 an Tucholskys Weimarer Republik. Wie war das? Wir deutsche haben uns ein halbes Jahrhundert immer wieder die falschen Herren angelacht und über uns gesetzt und mit uns Schindluder treiben lassen, aber es waren doch immer ein paar da, ein paar Deutsche, die gesagt haben: Vorsicht, das sind die Falschen! Sind sol-
che heute auch da mit einer Wirkung, die sich irgendwie mit der Tucholskys in seiner Zeit messen ließe?
Also da ist das Wort wieder: wirken, Wirkung. Wie war es damit in den zwanziger Jahren bestellt? Die Macht und ihre bürgerlichen Diener – eingeschlossen die braven Sozialdemokraten, die man übertriebenerweise Sozis nannte – sie haben ihn wohl bemerkt, den Tucholsky, und es grauste ihnen vor ihm. Und nur weil ihnen grauste, war er politisch da. Er schrieb nicht ins Leere. Ja, es grauste ihnen. Er verriet alles, was ihnen heilig war, die Geschäfte und das Vaterland Hindenburgs, und die Soldaten, und er hatte dabei eine absolut widerliche Art: er machte von seinem Kopf Ge-
brauch. Dass es ein jüdischer Kopf war, kam noch hinzu. Außerdem hatte er einen Namen, der auf Ypsilon endete. Tucholsk-y, der Kerl kam sicher irgendwo aus Polen. Komisch, der Mann, dank dessen Initiative wir hier sind, heißt Budzinski (sein -i ist wohl auch kein mildernder Umstand), und mein Name endet auch auf Ypsilon – lauter Gesindel. Die Namen anständiger Deutscher enden auf -e-r … Hitler zum Beispiel. Oder – - na, lassen wir das.
Am allerunverzeihlichsten erschien aber den Bürgern (ach, erschien nicht auch Ihnen das eben un-
verzeihlich?), dass er, der vorgab, es ernst zu meinen, sich streckenweise oder sogar hauptsächlich unernst ausdrückte. Er konnte so gut deutsch, dieser Kerl auf Ypsilon irgendwo aus Polen (der in Wirklichkeit ein Urberliner war), wie man das nicht von allen Deutschen, die mit -e-r enden, sagen kann – so gut nämlich, dass es ihm Spaß machte, mit der Sprache zu spielen. Während es in unserem Lande verbindliche Anschauung ist, dass, wer schon nichts Neues zu sagen hat, es wenigstens in schlechtem Deutsch sagen soll, damit man es versteht.
Die Bürger, mit anderen Worten, fühlten sich durch die Schamhaftigkeit Tucholskys beleidigt. Wer Seele hat, soll sie, zum Teufel, doch zeigen! Und wer keine hat, soll überhaupt still sein. Bloß Kopf – pfui Teufel! Schiller, reduziert auf Maria Schell – das etwa wäre das deutsche Ideal. Tucholsky hatte Seele und schämte sich ihrer, er liebte sein Land und schämte sich seiner Liebe schon, bevor er sich seines Landes schämen musste – und das alles durch Schnoddrigkeit und Witz ausgedrückt – das war zu viel für deutsche Bürger. Sie fühlten sich verhöhnt. Wirklich, es grauste ihnen am allermeisten deshalb vor ihm, weil er ihre Götter nicht verfluchte, sondern lächerlich fand. Sogar die Nazis fand er lächerlich – und das haben ihm sogar seine treuesten Anhänger angekreidet. Er hätte sie, die Nazis, nicht begriffen, meinten sie. Er brachte sich dann aber um. Ich glaube, er hat sie doch begriffen. Man kann sich aus Daffke umbringen – natürlich. Aber als sich Tucholsky um-
brachte, war aller Spaß schon vorher bei ihm zu Ende. Er ging in einen ewigen Streik. Es ist einer jener politischen Selbstmorde wie bei Friedell, wie bei Stefan Zweig, die gleichen historischen Ran-
ges sind wie urdeutsche Morde an Rosa Luxemburg, Rathenau, den Scholls und so weiter, und so weiter – sie sind auf unsere Geschichte gewälzt als nicht abzutragende Hypothek, als unkündbare Grundschuld. Denn das ganze Volk hat sie verschuldet. Er war so sehr ein Deutscher, angeschmie-
det an sein Volk, dass er sich umbrachte, dieser Jude.
Die Weimarer Republik war also eine politische Landschaft, in der es einen Winkel gab, den die Bürger umgingen; und wie selig waren sie, als Hitler dann diesen Winkel ausmistete. Das Volk der zwanziger Jahre zerfiel nicht nur in die dummen Täter und ihre Opfer, in jene Kälber, die ihre Metzger selber wählten, sondern es gab da auch eine kleine Minderheit, der die ganze Richtung nicht passte. Sie wusste es zu sagen, sie konnte es sagen, sie konnte es hörbar sagen. Die Bürger hatten noch so viel Geist aus besseren Zeiten gerettet, dass sie Geist wahrnehmen konnten, wenig-
stens in der Form des Grausens. Sie taten Tucholsky die Ehre an, sich über ihn zu entrüsten, und wenn dadurch auch Hitler nicht verhindert wurde, und nicht Hindenburg, so war doch noch ein bisschen Leben in der deutschen Bude. Und es ist etwas anderes, ob ich einen Hindenburg zum Reichspräsidenten wähle, nachdem jemand öffentlich gesagt hat: Wähle ihn nicht, das ist ein ganz mieser Vogel. Die Sünde der Unvernunft ist im ersten Falle größer, das persönliche Engagement an den Blödsinn lebhafter, die Entblößung der Dummheit sinnfälliger – kurz, jene Menschlichkeit, die im Irrtum liegt, ist noch vorhanden.
Die Bürger von heute würden sich über einen Tucholsky von heute nicht mehr ärgern, geschweige denn, dass es sie vor ihm grauste.
Vernunft und Denken sind nach so einem strahlenden Beweis, wie wir ihn erlebt haben, dafür, dass es auch ohne Vernunft und Denken geht, derart in Misskredit gekommen, dass man im Namen der Vernunft niemandem mehr auch nur eine schlaflose Stunde bereiten kann. Die Geste des Zornes, gar noch die spielerisch verklausulierte, wird als Amüsement angesehen. Tucholsky würde sich heute nicht mehr umbringen. Das lohnte nicht mehr für ein Volk, in dem diejenigen, deren Exis-
tenz den Stoff für die Programme der Kabaretts liefern, Abonnementplätze in den ersten Reihen der Kabaretts haben, um sich über sich selbst zu amüsieren. Das können Sie wörtlich nehmen, Sie können aber auch daran denken, dass sich der amtierende Bundeskanzler lächelnd mit einem Buch über die Dummheit hat photographieren lassen. Es gibt eine Grenze der Dummheit und der mora-
lischen Empfindungslosigkeit, jenseits der es keinen Zweck mehr hat, sich öffentlich über die Herr-
schaft der Unmoral und Unvernunft aufzuregen. Es wäre auch Illusion anzunehmen, die Tuchol-
skys von heute – denken wir nicht an den Rang, sondern an die Richtung – könnten uns noch ein-
mal nach Katastrophen als Alibi gelten, wie Tucholsky es doch ohne Zweifel für eine zurückliegen-
de Epoche tut. Mindestens die passive und negative Anteilnahme des Ärgers, des Grausens muss von der für die Katastrophen direkt und indirekt verantwortlichen Mehrheit aufgebracht worden sein, damit ein Tucholsky ins deutsche Geschichtsfenster gelegt werden darf, wenn die panische Unvernunft wieder einmal ihre Früchte getragen hat. Wenn aber Herr Strauß Königsberg befreit hat, wird das deutsche Volk keinerlei Legitimation haben zu sagen: Alle waren ja nicht so blöd, wir hatten doch Tucholsky … oder den oder jenen zeitgenössischen Nachfolger. Sie werden verstehen, dass ich hier keine Namen nenne – damit würde ich ja werten, und wo nähme ich dafür den Maß-
stab her. Aber natürlich hat er seine nachgeborenen Vettern. Warum schreiben sie, warum reden sie, warum machen sie Filme, warum treiben sie überhaupt noch Kritik der reinen Unvernunft? Der große und fast großartige Antrieb, den ein Tucholsky von außen empfing: das Unbehagen bei seinen natürlichsten Feinden, er fehlte doch. Nun, er hatte noch einen anderen Antrieb, der unab-
hängig ist von Wirkung: einen inneren. „Ick muss mir äußern“, schrieb Tucholsky, „denn wenn ick mir nich äußere, erinnere ick mir.“ Man kann nicht anders. Schön und gut. Aber so schön und gut auch wieder nicht. Denn was da heute so herum kreucht und fleucht in der Bundesrepublik an Zeitkritikern und Vernunftbolzen, die haben ja doch eine Wirkung, an die sie vielleicht nicht den-
ken: sie sind die Furtwänglers aus dem Dritten Reich. Wie war das doch? So schlimm kann es nicht sein, sagten die Mitläufer Kaiser Wilhelms, der Simplicissimus erscheint ja. (der damalige, versteht sich.) So schlimm kann es nicht sein, sagten die Mitläufer Hindenburgs, weil Tucholsky und sei-
nesgleichen schrieben. So schlimm kann es nicht sein, sagten die Mitläufer Hitlers, weil Furtwäng-
ler in Berlin Beethoven dirigierte. So schlimm kann es nicht sein, sagen die Mitläufer der Strauß und Schröder, und diese selbst: In dem Staat, den wir uns in die Tasche gesteckt haben, gibt es noch ein Theater voll Leute, die Tucholsky feiern.
Wir, die wir Sie gebeten haben, hierher zu kommen, dürfen wohl auch darum bitten, dass das, was wir hier treiben, als unser reiner Privatspaß – und natürlich, hoffe ich, auch als Ihr Privatspaß – aufgefasst wird. Ich möchte mich nicht dazu hergeben, die Fassade eines Einparteienstaates am Vorabend einer Parteidiktatur mit den konservativen Blümchen der Freiheit, die Tucholsky über die Weimarer Republik gestreut hat, zu schmücken oder zu tarnen.
Jener Staat der Notstandsgesetze, der Staatsrundfunkgesetze, der Ehrenschutzgesetze, des Aktien-
umwandlungsgesetzes, der Erbschaftssteuergesetze und anderer Steuergesetze, die dazu dienen, alle Macht in wenigen Händen zu konzentrieren, dieser Staat des Atombombenehrgeizes, des schamlosesten Missbrauches der demokratischen Spielregeln durch einen Führer, dieser Staat, in dem die Schlagworte „Heimatrecht“ und „Verzichtspolitiker“ zu außenpolitischen und innenpoliti-
schen Programmen werden – dieser Staat darf sich eine Tucholsky-Feier nicht zugute rechnen. Eine moralische oder intellektuelle Regibilität ist in unserem Lande bei der Mehrheit nicht mehr vorhanden, sie wurde ihr ausgetrieben. Es ist an dem, dass Tucholsky zu seiner Zeit durch den Hass seiner Feinde geehrt wurde, während er heute durch die Liebe seiner Freunde eigentlich nur missbraucht werden kann, wenn sie ihn öffentlich feiern. Dachte da jemand: Immerhin, wir dürfen ihn feiern. Oh ja, meine Damen und Herrn, Furtwängler dirigierte auch in Berlin.
Alles darf sein, was der Macht im Staate nicht abträglich ist.
Wir leben in einer Zeit ganz ohne Tucholsky, weil die Macht so geistlos geworden ist, dass sie vom Geist nicht mehr erreicht werden kann.
Bis zur nächsten Katastrophe. Freilich, je mehr wir sie zubereiten und vorbereiten, auch wir, die wir unseren Privatspaß bei Tucholsky finden, umso wahrscheinlicher ist es, dass neue Tucholskys wieder ärgerlicher werden. – Ein schöner Trost!
Information. Anarchistische Betrachtungen zur Politik, Geschichte, Wirtschaft und Literatur der Gegenwart, Hamburg Poppenbüttel, 1/1960, 15 ff.