Materialien 1977
Sex im Knast
Strafgefangene sind zu Freiheitsentzug verurteilt. Auch zur Isolierung von ihren Angehörigen, zur sexuellen Abstinenz, zur Verkrüppelung ihrer Psyche? DAS DA-Mitarbeiter Armin Witt war selbst Strafgefangener. Er berichtet über ein Problem, das trotz aller Reformen noch nicht gelöst ist.
Die engen Zellen, darin wir gezwängt,
Sind Höhlen, dumpf, verseucht;
Durch schmale Gitterfenster haucht
Giftig der Tod und feucht;
Ach Menschenbrust, nur Tiereslust
Seufzt noch in dir und keucht.
Oscar Wilde: Ballade von Reading Goal
Auch die Väter unseres Strafgesetzes haben sicher eine Art von Sexualleben gekannt. Liest man aber das StGB, möchte man annehmen, dass sie Sexualität nur als Verbrechen und Vergehen gekannt haben.
Wer das Strafgesetzbuch durchblättert, wird sehr überrascht sein von seiner tiefen Sexual-
feindlichkeit, aber mehr noch von den phantasiebegabten Schilderungen möglicher Gesetzeskonflikte in der Intimsphäre.
Gerade in unseren Gefängnissen hält sich der inquisitorische Moralismus der Gesetze – die vorwiegend aus dem vergangenen Jahrhundert stammen – bis heute. Ob vor oder hinter den Mauern, der soziale Frust wird in die Bereiche der Sexualität kanalisiert und als individuelles Problem betrachtet und behandelt. Die mit den Gesetzen herbeigeführte Negation der Sexualität findet ihren offensichtlichen Ausdruck im Isolationsprinzip der Gefängnisse: schon die Architektur dieser Bauwerke und die darin herrschenden Hausordnungen sind angelegt auf die totale Bedürfnisunterdrückung der Inhaftierten. Selbstverständlich findet das Sexualleben der Gefangenen weiter statt – es regrediert oder sucht sich in vielfältiger Form zu sublimieren.
Exzessive Onanie und „knastbedingte“ Homosexualität („Knastschwule“) sind der deutlichste Ausdruck der weiter existierenden Sexualität hinter Mauern. Dazu kommen Ersatzhandlungen, die für die stark repressive Atmosphäre im Knast typisch sind: Brutalität (Schlägereien unter den Gefangenen, Gewaltanwendung gegen die Bewacher oder gegen das Zelleninventar), ausgeprägter Narzismus und der Hang zum Tätowieren, knastinterner Tauschhandel, übermäßiges Essen und endlich eine geradezu hektische Intensität bei der meist stupiden Knastarbeit für Pfenniglöhne.
Anstaltsleiter, Strafvollzugsbeamte und das akademische Personal (Geistliche und Psychologen) mokieren sich über das Onanieren, falls sie es nicht, wie die meisten, gänzlich ignorieren. Sie weisen oft etwas pikiert auf die exzessive Onanie der Gefangenen hin. Sicherlich wird es verständ-
lich, dass ein Häftling, der 23 Stunden am Tag (bis auf die Freistunde) in einer engen Zelle sitzt, so oft wie möglich onaniert (soweit es Dampfkartoffel und Maggisuppen zulassen) und sich in sexuellen Phantasien und Handlungen ergeht.
Nach dem Trauma einer plötzlichen Festnahme und den darauffolgenden Wochen in der Untersuchungshaft weiß ich aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, wenn man noch fähig zum Onanieren ist. Aufgrund der Verurteilung zur absoluten Passivität in dieser Zelle mit ihren öden Wänden und dem kleinen Fenster, das erst in der Höhe von 2,60 m begann, und in der alles so erdrückend war, onanierte ich, wann immer es möglich war: wenn der Besuch des Rechtsanwalts bevorstand oder Besuch von Bekannten im 14-Tage-Rhythmus sich um einige Minuten verzögerte, und dann, wenn ein Buch, ein Brief von der Freundin gelesen war (es war gleich, ob er mich erregte oder deprimierte), wenn etwas, das mich sehr stark erregt hatte, in dieser Zelle eintraf, oder man mich wieder in diese Zelle gesperrt hatte. Dann verklebte ich mit Toilettenpapier den „Spion“ an der Zellentür, legte mich auf die Pritsche und onanierte.
Aufgrund meiner sozialen Isolierung trat im Laufe der Zeit eine Verkümmerung der Reize ein, bald hatte ich übergenug von Illustrierten oder abgegriffenen und verschmierten Pornos. Auch die anderen Mitgefangenen ergaben sich infantilen Wunschträumereien, verloren allmählich den Bezug zur Realität. Erinnerungen an frühere Erlebnisse wurden glorifiziert, Erzählungen in der „Freistunde“ über längst vergangene sexuelle Erlebnisse wurden vor den anderen aufgebauscht und gern gehört, obwohl sie offensichtlich unglaubwürdig waren.
In unserer Not griffen wir lustlos zu unseren Sexbildern (von denen im Rahmen der Resoziali-
sierungsbemühungen ministeriell fünf Fotos in einer Zelle „genehmigt“ sind), tauschten Pornoliteratur, die von einigen phantasiebegabten Mitgefangenen (die so ihre Sexualproblematik zu lösen versuchten), selbst geschrieben wird. Zu unserer sexuellen Stimulanz dienten auch die dick unterstrichenen Passagen und mit saftigen Kommentaren versehenen Stellen aus den raren Beständen derartiger Literatur in der Knastbücherei.
Weil der Häftling so oft wie möglich onaniert, um wenigstens für einige kurze Zeit in seinen Gedanken und Gefühlen der auf Schritt und Tritt spürbaren Unterdrückung und der körper-
verletztenden Enge der Zelle zu entgehen, hat er unter dem Einfluss frühester Erfahrungen aus der Kindheit (in der man ihm erklärte, Selbstbefriedigung sei gesundheitsschädlich, unmännlich oder sogar pervers), beim Onanieren Schuldkomplexe und Angst vor dem Wächter, der ihn zu jeder Zeit erwischen kann.
Dennoch bleibt das Onanieren eine Notwendigkeit für den Gefangenen. Angesichts der ständig fühlbaren Unterdrückung und oft sogar direkten Bedrohung, die als Kastrationsdrohung aufgenommen werden muss (z.B. wenn ein Wächter droht, mir in die „Eier zu treten“ oder „den Sack abzureißen“ u.ä.). Wenn Wächter mit ihrem Machtsymbol, dem Schlüssel, gegebenenfalls auf renitente Gefangene einschlagen. Wenn Männer in Uniform sich eine Vaterfunktion zulegen, indem sie sich „Hausvater“ oder „Vater Phillip“ nennen lassen. In dieser ihm feindlichen Umgebung bleibt dem gefangenen Menschen seine sexuelle Potenz zur Bestätigung seiner Identität.
Knastleiter und Vollzugsbeamte sind meist ängstlich darauf bedacht, homosexuelle Handlungen und homosexuelle Beziehungen unter ihren Gefangenen zu unterdrücken, wenn sie sie schon nicht verbieten und bestrafen können wie noch vor einigen Jahren.
Homosexualität unter Gefangenen ist natürlich nie auszuschließen, und ein Großteil der Inhaftierten – besonders die, die zu längeren oder lebenslangen Strafen verurteilt sind – gehen früher oder später sexuelle Beziehungen zu Mitgefangenen ein. Die Justiz, die noch bis vor kurzer Zeit die Homosexualiät mit empfindlichen Haftstrafen ahndete, produziert gerade in ihren Vollzugsanstalten die Verhältnisse, die zur Homosexualität in ihrer brutal unbefriedigten, weil erzwungenen Form, herausfordern. Da die Homosexualität im Knast also ein besonderes Problem darstellt, wird es verständlich, dass man sie hier besonders stark diffamiert. Vollzugsbeamte, über deren ambivalentes Verhältnis zur Homosexualität täglich zu lesen ist, versuchen, aus den Intrigen, Eifersüchteleien, Abhängigkeiten bis hin zu Erpressungen unter den Gefangenen möglichst zu profitieren: für einen reibungslos funktionierenden Strafvollzug. Die zusätzliche Erniedrigung, die darin besteht, dass ein Gefangener mit seinem Partner nur unter den Augen des am „Spion“ stehenden Beamten verkehren kann, und die zur Schau getragene Verachtung der Mitgefangenen lassen kaum je ein befriedigendes Liebesverhältnis zu.
Im Zeichen der Liberalisierung des Strafvollzugs geht man mittlerweile in einigen Anstalten soweit, zum Wochenende nachmittags einen „Umschluß“ zu gewähren: Die Partner werden in eine gemeinsame Zelle geschlossen. Meist spielt man dann Skat oder Schach. Ich kenne Fälle, in denen zwei Gefangene in dieser Zeit versuchen, wie ein Paar zusammenzuleben.
Wenn jemand einige Jahre im Knast gesessen hat, sind ihm meist alle Hemmungen gegenüber Dritten vergangen. Selbst die Vollzugsbeamten wissen mittlerweile, dass bei einigen Gefangenen das Skat- oder Schachspielen nur ein Vorwand ist, um zusammen in der Zelle zu sein.
Während meiner Zeit in der München-Stadelheimer Untersuchungshaftanstalt geschah ein Mord innerhalb dieser Mauern, der nicht Schlagzeilen in der Boulevardpresse machte: ein fünfzehn-
jähriger Untersuchungsgefangener erschlug in einer Einzelzelle, die aufgrund der chronischen Überbelegung in Stadelheim mit zwei Untersuchungsgefangenen besetzt war, seinen Mitgefan-
genen. Später stellte sich heraus, dass man ihn wegen „vermuteter Selbstmordabsichten“ zu einem wesentlich älteren Mitgefangenen in die 7,6 qm kleine Zelle gesperrt hatte und dieser mit dem Jungen sexuell verkehren wollte.
Gerade in Gemeinschaftszellen sind Schlägereien an der Tagesordnung. Gemeinschaftszellen, die nur doppelt so groß wie Einzelzellen, in die man jedoch vier (meist) erwachsene Menschen pfercht, sind die unmenschlichste Art der Unterbringung von gefangenen Menschen verschiedener Temperamente. In Gemeinschaftszellen, in die man Rückfalltäter oder zu lebenslanger Strafe Verurteilte pfercht, entstehen im Laufe der Zeit fast immer homosexuelle Verhältnisse. Jedoch löst sich die Problematik der Sexualität im Knast nicht dadurch, dass man die Gefangenen in Einzelzellen sperrt, wie es liberale Knastkritiker immer wieder fordern. Hier wird der gefangene Mensch in seiner Sexualität erst recht auf sich reduziert.
Bei den Gefangenen herrscht im allgemeinen ein ausgeprägter Narzißmus, der sich aus der völligen Unmöglichkeit zur sexuellen Kommunkation erklärt. Die Unmöglichkeit der kommunikativen Erotik wird ersetzt durch eine erotische Beschäftigung mit der eigenen Person. Gefangene stehen lange Zeit vor dem verbogenen Blechspiegel, betrachten ihr Gesicht, kämmen immer wieder ihr Haar (das sich die Gefangenen nun lang wachsen lassen können), cremen das Gesicht, pflegen ihre Akne und nutzen jede Möglichkeit, um in der „Freistunde“ ihre Körper und ihre Gesichter bräunen zu lassen. Man präsentiert sich den Mitgefangenen mit freiem oder aufgeblähtem Oberkörper, spielt unter der Gemeinschaftsdusche an seinem Glied, bis es von den anderen als überdurch-
schnittlich groß wahrgenommen wird.
Zu diesem Imponiergehabe gehören auch die Tätowierungen. Tätowierungen sind oft zu sehen bei Männern, die einige Zeit in einer exclusiven Männergesellschaft verbrachten, wie z.B. beim Militär oder bei der christlichen Seefahrt. Und gerade im Knast und bei seinen Gefangenen ist es ein deutliches Zeichen für die Form masochistischer Autoerotik, indem der eigene (männliche) Körper zum ästhetischen Maßstab des eigenen, auf Autoerotik reduzierten Lebens wird.
In den Gefäingnissen essen die Gefangenen mehr als gewöhnlich. Die Ursachen von Gefräßigkeit (z.B. in einer „Wohlstandsgesellschaft“) sind aus der psychoanalytischen Neurosenlehre bekannt. Und erst recht im Knast wird das Essen aufgrund der kaum vorhandenen Befriedigungs-
möglichkeit zum zentralen Lust- oder Unlustbringer, bleibt das Essen bei den Gefangenen die einzige legale Art, sich gegen existentielle Frustration zu wehren. Mit dem Essen kann sich der Gefangene etwas aneignen und selbst verarbeiten, was die Situation eines Gefangenen sonst nicht erlaubt. Und dennoch wird das Essen als Befriedigungsmöglichkeit im Knast ein Kuriosum. Ein Gefangener, der sich durch das Essen stärkt gegen die Frustration und vermeintliche „Kastrations-
drohung“, zeigt andererseits durch die Aufnahme des Knastessens, dass er den Geber akzeptiert. Die Anstaltsleitung hat kaum etwas dagegen, wenn die Gefangenen viel essen, denn viel essen gilt als Zeichen von Zufriedenheit, satte Gefangene sind ruhige Gefangene. Ambivalente Gefühle kommen dem Gefangenen, wenn er daran denkt, dass er den Geber des Essens auch als Geber von Sicherheit, Zufriedenheit und Befriedigungsmöglichkeit akzeptiert hat.
Das Problem der Sexualität im Männerknast beschränkt sich nicht auf die Haftanstalten. Die Massenmedien bringen seit einiger Zeit „Liebeszellen“ als Aufmacher („Anreißer“) ins Gespräch. Arglose Leser dürfen sich an der Absurdität und Infamie derartiger Vorschläge erfreuen, alles bleibt sehr wage, gilt nominell als „Notlösung“; es werden jedoch schon die Formalitäten besprochen: Verheiratete dürfen einmal im Monat, für Junggesellen müsste da noch eine Lösung gefunden werden, Pavillons wolle man errichten nach imaginärem schwedischem Vorbild.
Vor etwa einem Jahr berichteten die Zeitungen über den Anstaltsgeistlichen, Pfarrer Richter aus Bernau, dem das bayerische Justizministerium kündigte, weil er angeblich Briefe einiger Gefangener unzensiert aus dem Gefängnis nahm. Inoffiziell weiß man auch von seiner liberalen Art, einigen (!) Gefangenen und ihren Ehefrauen in seinem Zimmer und in seinem Beisein Intimverkehr gestattet zu haben. Aber solche „Freistunden“ sind natürlich Ausnahmen. In der Regel ist dem Gefangenen nur einmal im Monat ein Besuch von etwa 15 bis 20 Minuten gestattet. Wenn der „Regierungsentwurf für ein Strafvollzugsgesetz“ fordert, „das Leben im Vollzug … den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich anzugleichen“, taucht die Frage auf, wie man diese offenkundige Heuchelei in einen Konsens mit der Wirklichkeit bringen will. Die 15-Minuten-Besuche im Monat machen eine Ehe mehr kaputt als sie „kitten“ zu können, ganz abgesehen von der enormen psychischen Belastung auf beiden Seiten der Besucherbarrieren.
Ins Gespräch gebracht wird auch der „Urlaub auf Ehrenwort“ oder der „Eheurlaub“. Diese „Vergünstigungen“ werden jedoch erst kurz vor der Beendigung der Strafzeit gewährt. Was ist aber nach einer monatelangen Entfremdung allein durch die Untersuchungshaft mit einem Besuch von zwei oder drei Tagen zu erreichen, wenn die Kinder z.B. den Vater schon als „Onkel“ anreden?
Der „Urlaub auf Ehrenwort“, den man offiziell als „Urlaub zur Arbeitssuche“ deklariert, lässt ebenso wenig befriedigende Verhältnisse zu. Ich kam vor einigen Jahren aus dem Knast und verstand die Welt draußen nicht mehr, sprach schon eine andere Sprache, dachte anders. Ein Akklimatisationsprozess, der mindestens einige Wochen andauert, soll beim „Urlaub aus dem Knast“ in wenigen Stunden vor sich gehen.
Der Sinn des Strafens liegt allen gegenteiligen Theorien zum Trotz immer noch in der Unter-
drückung. Diese Unterdrückung stellt sich zu einem wesentlichen Teil als Unterdrückung der Sexualität dar. Vom „Schutz der Bevölkerung“ kann kaum die Rede sein, da bei fast allen Gefangenen schließlich mit einer Entlassung gerechnet werden muss. Die Unterdrückung der Sexualität aber zwingt erwachsene Menschen zu infantilem Sexualverhalten, das keinesfalls als Autoerotismus in einer kindlichen Entwicklungsstufe abzutun ist. Es verstärkt Verhaltensweisen bei Menschen, denen Kriminalität ohnehin nur eine Reaktion auf eine Konfliktsituation war. Wunsch und Verdrängung, Potenzbedürfnis und latente Kastrationsdrohungen und nur destruierte Möglichkeiten zu Ersatzbefriedigung in einer sozial feindlichen Umwelt zwingen Menschen dazu, in aggressiver Weise zu kommunizieren. Aggressive Kommunikation wird jedoch innerhalb dieser Gesellschaft gerade bei sog. Unterprivilegierten kriminalisiert. Die schon vorher zerstörte Psyche der meisten Straftäter wird durch den Strafvollzug nicht geheilt, sondern weiter verpfuscht.
Armin Witt
das da 5 vom Mai 1977, 14 ff.