Materialien 2014

Gaza 2014

Rede auf der Münchner Kundgebung
Orleansplatz, 26. Juli 2014, 14 Uhr

Was für ein Ritual.

Fast in zweijährigem Rhythmus bombardiert Israel den Gaza-Streifen, das größte Freiluftgefängnis der Welt mit seinen fast zwei Millionen gefangen gehaltenen Palästinensern, Israel führt militärische Landoperationen durch und zerstört einen Großteil der Infrastruktur der Region. Hamas-Raketen fliegen Richtung Israel. Es gibt Tote und Verletzte auf beiden Seiten in einem Verhältnis von 1:20.

Was für ein Ritual.

Die Welt ist entsetzt. Westliche Regierungen – und die Medien – beeilen sich gebetsmühlenartig zu bekunden,
dass Israel das Recht auf Selbstverteidigung hat,
dass beiden Seiten mit den Kampfhandlungen aufhören sollten
und dass der sog. „Nahostfriedensprozess“ fortgesetzt werden muss.

Und es gehört zum Ritual.

Wir empören uns, die Intellektuellen unter uns tauschen Artikel und Interviews über die Hintergründe und über die Doppelmoral in der Welt aus. Andere verbreiten Fotos von zerstückelten und verbrannten Kinderleichen, von zerstörten Häusern und von fliehenden Familien. Manche sitzen vor dem Fernseher und weinen vor Wut. Dabei möchte ich nicht verhehlen, dass sich viele von uns freuen, wenn der Widerstand in Gaza, dem arroganten und überheblichen Militär Israels die eine oder andere Schlappe zufügt.

Was für ein Ritual.

Wir organisieren Demonstrationen und Kundgebungen und sind oft empört, dass nicht soviel „echte“ Deutsche mitmarschieren. Manche von uns skandieren Parolen, die für Zündstoff in den Medien sorgen. Manche der Muslime unter uns finden in der Takbir, d.h. „Allahu Akbar“, Gott ist groß, einen Trost für unsere scheinbare Ohnmacht. Darf man nicht wenigstens auf eine himmlische Gerechtigkeit hoffen, wenn Netanjahu, Obama, Sisi und Merkel uns keine irdische erlauben?

Die Säkularen zeigen sich dabei etwas irritiert, aber was soll es, man muss was für Gaza tun.

Manche treten in exotischen salafistischen Gewändern auf, als ob wir Talibanis in Afghanistan wären und drängen an die Spitze, um das Bild des Zuges zu prägen. Das alles müssen wir aber, solange es friedlich zugeht, einfach aushalten.

Dieses Mal gibt es aber eine kleine Steigerung. Durch eine vom „Zentralrat der Juden in Deutschland“ und dem Botschafter Israels ins Rollen gebrachte Antisemitismus-Debatte möchte man in Deutschland die Protestwelle in Schach halten und Teile der Teilnehmer am liebsten gerichtlich verfolgen.

Ich bin auch überzeugt davon, dass der eine oder andere Journalist der jetzt zuhört, primär da ist, um die einen oder anderen „antisemitischen“ Äußerungen zu entdecken.

Die Politik zögerte und wartete ab. Schließlich möchte man, Gaza hin Gaza her, in den verdienten Sommerurlaub fahren. Als der Druck aber stärker wurde, musste unser „Freiheitspräsident“ Gauck ein „klärendes“ Wort sprechen.

Und da die Fußball-WM vorbei ist, widmen unsere freien Medien dem Geschehen, d.h. dem Gazakrieg und dem Konflikt in der Ukraine ihre Aufmerksamkeit im Verhältnis 1:1,wobei die Schuldigen schnell ausgemacht wurden. Hier die Hamas und ihre Raketen und da Russlands Putin und seine Separatisten.

Was für ein Ritual.

Zwischen einem Gazakrieg und dem anderen (1,5 – Jahre!) bleibt alles beim Alten. Gaza bleibt blockiert und die Welt geht zur Tagesordnung über. Die arabischen Ölstaaten werden und bauen gnädig Gaza teilweise wieder auf, und die EU stellt den NGOs in Gaza ein paar Millionen Euros zur Verfügung.

Soll das so weiter gehen?

Genügt das, was wir hier tun?

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Situation sich erst dann verändern wird, wenn das Kräfteverhältnis im Nahen Osten und im Weltmaßstab sich ebenfalls ändert.

Wir dürfen in Deutschland frei demonstrieren und unsere Meinung frei sagen. In Kairo, Amman, Algier, Riad und in Kuweit dürfen die Menschen, die noch empörter, verzweifelter und wütender sind als wir, nicht demonstrieren.

Die Hilfsgüter, die von Menschen in Ägypten für Gaza mühsam gesammelt wurden, dürfen die Menschen nicht erreichen.

Noch nie in der modernen arabischen Geschichte war die Kluft zwischen Herrscher und Beherrschtem so groß wie heute und zwar egal ob die Herrscher Könige, Präsidenten oder putschende Offiziere sind.

Heute scheuen sich die ägyptischen Putschisten nicht davor, an der Abschnürung Gazas aktiv teilzunehmen. Der Putschgeneral Sisi sagte am 23.Juli (vor genau 3 Tagen!) in einer Rede an der Nation: „Ägypten hat u.a. mehr als 100.000 Menschen für Palästina geopfert“. Damit will er, angesichts der Entwicklung in Gaza und seiner unrühmlichen Rolle dabei, den Menschen in Ägypten sagen, es sei genug. Er möchte einen Keil zwischen die beiden Völker schieben. Diese von Sisi aufgebaute Legende ist aber historisch falsch. Ja, Ägypten hat 100.000 Menschen in den vielen Kriegen mit Israel verloren. Aber nicht nur aus Solidarität mit den Palästinensern, sondern auch hauptsächlich aus Gründen der nationalen Sicherheit Ägyptens

Die sog. Ägyptische Friedensinitiative ist eine Farce und eine Schande noch dazu. Sisi wollte mit Netanjahu über das Schicksal des Gaza-Streifens ohne die Beteiligung der Palästinenser entscheiden. Das ist Gott sei Dank voll in die Hose gegangen.

Die arabische Welt, ja der gesamte Nahe Osten ist in Bewegung geraten, und ein Stillstand ist noch lange nicht in Sicht. Und keiner kann die Ergebnisse vorauszusagen. Im Irak, in Syrien, in Libyen, im Jemen herrscht Gewalt. In Ägypten ist die Konterrevolution am Zuge. Alles im Nahen Osten ist in Fluss geraten.

Eins ist aber sicher, der Neue Nahe Osten wird mit dem Alten nicht mehr vergleichbar sein.

Überall wächst eine neue Generation, die nicht gewillt ist, so zu leben wie bisher.

Eine Dritte Intifada in der Westbank in Palästina steht möglicherweise vor der Tür und … und … und

Der Konflikt um Palästina ist nur ein Teil des Ganzen und die Palästina-Solidaritätsbewegung und die deutsche Friedensbewegung sind gut beraten, wenn sie den Umbrüchen in der Region höchste Aufmerksamkeit widmen.

Auch die Welt ändert sich schneller als wir denken. Der Einfluss der USA in der Welt im allgemeinen und im Nahen Osten im besonderen ist merklich zurückgegangen. Diese Entwicklung ist von großer politischer Tragweite für die Region.

Neue Mächte treten auf die Weltbühne wie Indien, Brasilien und Südafrika, von China und Russland ganz zu schweigen. Diese neuen Mächte – eben den neuen Regionalmächten in der Region Iran und Türkei – haben heute schon kein Verständnis dafür, dass die USA und Europa Ihre eigene unrühmliche Geschichte in Palästina reparieren wollen.

Und wir.

Nochmal zu uns.

Wir sollen und müssen Politik machen.

Wir sollen und müssen uns einmischen.

Deutsche Staatsbürger mit „Migrationshintergrund“ sind vollwertige Bürgerinnen und Bürger.

Sie sollen Ihre Macht als Bürger und als Wähler entdecken und ausüben.

Der Politikbetrieb soll und wird diese Menschen ernst nehmen müssen.

Die Medien können nicht eine Linie fahren, die den Interessen dieser Menschen zuwiderläuft.

Ich sehe von hier die zahlreiche junge Menschen unter Euch. Eure Eltern haben oft sich vor dem Gang zur Ausländerbehörde gefürchtet.

Heute seid Ihr viel selbstbewusster. Mischt Euch in die Innen und Außenpolitik, in die Energiepolitik, in die Wirtschafts- und Sozialpolitik und in allen Gesellschaftsfragen ein und bestimmt mit. Reißt die Ghettomauern nieder – auch die im Kopf.

Und wenn Deutschland Waffen und Rüstungsgüter in die Länder Eurer Eltern liefert, um die für dieses System kompatiblen Herrschaftsstrukturen aufrecht zu erhalten, sagt entschieden nein. Wehrt Euch.

Wenn die deutsche Bundesregierung Israel mit Geld und Waffen versorgt, sagt nein.

Wenn Produkte aus den besetzten Gebieten hier vermarktet werden, was völkerrechtswidrig ist, dann boykottiert sie. Stellt Euch vor die Läden und klärt die Kunden darüber auf.

Sagt, wir dulden nicht, dass die Kultur in unseren Herkunftsländern zerstört und unsere Verwandten im Krieg getötet werden.

Stellt unsere Politiker und Parlamentarier zur Rede.

Besucht die Zeitungsredaktionen und die Funkhäuser und empört Euch über deren Zynismus und Einseitigkeit in der Berichterstattung.

Sagt Ihnen: Ihr verletzt uns und ihr tretet unsere Würde mit Füssen.

Einer von Euch, der Deutsch-Iraner Navid Kermani, hat anlässlich des 50-Jahrestags des Grundgesetzes die, für mich persönlich, beste und wunderbarste Rede gehalten, die je vor dem deutschen Bundestag gehört worden ist. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

Mit diesem Satz beginnt der Text der deutschen Verfassung und auch seine Rede.

Füllt diesen Satz durch euer Engagement mit Leben. Denn ihr seid in Deutschland angekommen.

Die westlichen Mächte haben genügend Probleme und Konflikte in der Welt geschürt und durch Waffen und Kapital aufrechterhalten. Die Spur führt von Kaschmir über Palästina bis tief nach Afrika hinein. Die Gurus der „veröffentlichen“ Meinung, die Kommentatoren hören aber nicht auf, uns täglich mit dem Satz zu belehren: Wir dulden nicht dass diese Konflikte hier bei uns ausgetragen werden. Wie zynisch, ja wie unanständig.

Wir müssen unsere Stimme immer laut erheben, wenn es um Recht kontra Unrecht geht. Wenn es um der Menschlichkeit geht und zwar überall auf der Welt.

Ich möchte mit einem Spruch von Emil Habibi, dem großen palästinensischen Schriftsteller und Freiheitskämpfer, zum Schluss kommen:

„Wir sind das einzige Volk auf Erden, von dem seine Besatzer Sicherheit verlangen
Und Israel ist das einzige Land, dass Sicherheit vom seinen Opfern erwartet“.

Schluss mit der israelischen Besatzung in Palästina!

Schluss mit der Blockade des Gaza-Streifens!

Für einen Nahen Osten, wo keine Mutter, egal ob sie Palästinenserin oder Israelin oder Kurdin oder Syrerin oder Ägypterin ist, jemals um ihr getötetes Kind zu weinen braucht.

Danke für die Aufmerksamkeit.

Magdi Gohary


per email vom Autor am 27. Juli zugesendet

Überraschung

Jahr: 2014
Bereich: Internationales