Flusslandschaft 2012

Kapitalismus

„Es ist gut, dass die Bürger der Nation nicht unser Banken- und Geldsystem verstehen, denn wenn sie es würden, glaube ich, gäbe es eine Revolution vor morgen früh.“ Henry Ford

Am Samstag, 15. Januar, treffen sich lediglich dreihundert „Occupys“ auf dem Marienplatz, obwohl lange für das Treffen geworben wurde. Manche Reaktion ist ernüchternd.1 Denn da sind sich plötz-
lich viele einig, Occupy, Attac und der CSU-Kreisverband: Die Schweine sind die Gangster in den Chefetagen der Banken, die verdammten spekulierenden Heuschrecken, die gewissenlosen Kapi-
taleigner, die mit ihren Schätzen auf die Caiman-Inseln flüchten. Und das ganze bekommst Du dann in den Griff, sagen sie, wenn internationale Regeln herrschen, wenn dem deregulierten Fi-
nanz- und Raubtierkapitalismus endlich Grenzen gesetzt werden. Aber stimmt das auch? Ist es nicht so, dass der Kapitalismus keine Fehler macht, sondern der Fehler ist?

Am Samstag, 29. September, findet ab 11.30 Uhr auf dem Stachus der Aktionstag „Umfairteilen“ Reichtum besteuern! statt. Obwohl in vielen Städten mobilisiert wird, sind es doch nur insgesamt etwa 40.000 Menschen, die auf die Straße gehen; in München sind es etwas mehr als Tausend. Eine Performance fordert die Demonstranten und Passanten auf, eine Milliarde Euro in einen Bür-
gerhaushalt umzuverteilen. Am Ende sind Bildung, Rente und Gesundheit prall gefüllt, während Betreuungsgeld, Rüstung, Bankenrettung und Ehrensold leer ausgehen. So recht eigentlich demon-
strieren sie für einen fairen Kapitalismus. Müßte es nicht heißen: »Kapitalismus fairsenken«, denn die Reichen werden in Deutschland reicher, die Armen und die öffentliche Hand werden ärmer. So steht dem Rückgang des Nettovermögens des deutschen Staats von Anfang 1992 bis Anfang 2012 um 800 Milliarden Euro im gleichen Zeitraum die Zunahme des Nettovermögens privater Haus-
halte von 4,6 Billionen auf zehn Billionen gegenüber.2

Lilith, eine Schülerin an einem Münchner Gymnasium, trägt im Oktober im Deutschunterricht ein Gedicht vor. Der Lehrkörper ist beeindruckt:

Feine Schweine

Es trafen sich zwei Schweine
in einem „fernen“ Land
zu einem längeren Fachgespräch
in einem Restaurant.

Zunächst bedienten sich die beiden
kräftig am Büfett
und plauderten ganz locker
über Kuren und Diät.

Und schließlich war man angelangt
beim Hauptthema, dem Geld.
Es ging um neue Absatzmärkte
in der weiten Welt.

Wohin mit unserm Schweinekram?
Wohin mit unserm Mist?
Wer intrigiert? Wer wird geschmiert?
Wer produziert? Wer frisst?

Wo lässt man hungern? Wo entfacht man
einen kleinen Krieg?
Wer wird beseitigt? Wer führt unsre
Politik zum Sieg?

Das Ergebnis ließ sich sehen:
lauter Schweinereien.
Es war nichts andres zu erwarten.
Ein Schwein ist halt ein Schwein.

Und wir schauen zu und fressen mit
aus der übervollen Schüssel,
gedankenlos, bedenkenlos,
es wächst uns schon der Rüssel.

Am Samstag, 13. Oktober, findet von 12 bis 18 Uhr eine Asamblea auf der Münchner Freiheit statt. Es müssten doch Tausende sein, die sich hier versammeln. So wenig gefährlich erscheint die Ver-
sammlung, dass sich noch nicht einmal ein Polizist blicken lässt. Gegen Mittag sind es etwa fünfzig bis hundert Menschen, die einem brillanten Vortrag von Ludovici vom Teamtheater zuhören, der erläutert, wie Schulden und Krisen die besten Voraussetzungen zur Geldvermehrung bieten.3

Einige Linksradikale lehnen es ab, sich bei Aktionen von Occupy bzw. Blockupy zu beteiligen. Sie meinen, wer sich mit Bankern und mit Finanztransaktionen kritisch beschäftige, bleibe in einer verkürzten Kapitalismuskritik stecken. Auswüchse des Bankensystems anzuprangern münde nur in Vorschläge zur Verbesserung kapitalistischer Verhältnisse. Nicht zuletzt richte sich die verbrei-
tete Wut gegen die „Gangster“ in den oberen Etagen der Finanzinstitute; dabei werde übersehen, dass die ökonomischen Eliten miteinander konkurrieren MÜSSEN, sozusagen bei Strafe des Untergangs als Kapitalisten. Eine politökonomische Kritik schließe eine moralisierende Kritik aus. Es sind nur einige wenige, die in Veröffentlichungen darauf hinweisen. Unsere radikale Linke ist und bleibt marginalisiert. Die radikale Linke in den USA dagegen wirkt an zentraler Stelle bei Occupy mit. Hier steht auf Transparenten „It’s not the Bank, Stupid. It’s Capitalism!“

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1 Siehe www.schlamassel.blogsport.de/2012/01/15/aufmarsch-der-schnauzbaertigen-watschngsichter/

2 Siehe www.muenchen-sozial.de, www.umfairteilen.de, www.sozialpolitischer-diskurs-muenchen.de, „Gewerkschaften/Arbeitswelt“, „29. september“„Finanzkrise“, Fotos von der Kundgebung „umfairteilen“ von Franz Gans sowie die Fotos von Werner Rauch unter http://www.galerie-arbeiterfotografie.de/galerie/reportage/index.html.

3 Siehe Bilder der Kundgebung „occupy“. Siehe dazu auch die Zeichnung von Steve Geshwister unter www.linophil.de/triple-a/

4 Grafik: Bernd Bücking. In: Fred Schmid, Garnreiter, Listl, Schuhler, Bilanz 2012 – Ausblick 2013. Bilanz der schwarz-gel-
ben Bundesregierung. Fakten und Argumente zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland und Euro-Zone, isw-wirtschaftsinfo 47, Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung München e.V., April 2013, 17.

Überraschung

Jahr: 2012
Bereich: Kapitalismus