Materialien 1971

Herr Maier und die Arbeiterkinder

Zum Kampf gegen das Bildungsprivileg

„Es steht fest, dass Volksschüler aus Arbeiterkreisen schlechter sind als solche aus intellektuellen Kreisen. Dies ist wohl auf die Vererbung von Intelligenz zurückzuführen. Dumme Eltern können eben nur dumme Kinder zeugen. Das ist eine natürliche Auslese!“ (Diplom-Politologe Kämp, Hochschuldezernent der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, im Mai 1969 vor Ingenieur-Studenten in Köln)

Bayerns Kultusminister fand es ehedem als Professor an der Universität in Auseinandersetzungen mit Studenten schick, seine linken Kritiker mit dem Argument schlagen zu wollen, dass er selbst Arbeiterkind sei, wenn es darum ging, etwas gegen die These vom bürgerlichen Bildungsprivileg sagen zu müssen.

Neuerdings, wo man freilich schon auf den Domberg zu Freising pilgern muss, um Professor Maier in der Öffentlichkeit (= Korbinianstag der Katholischen Jugend) über seine „Bildungspolitik in Gegenwart und Zukunft“ referieren zu hören, meint er, dass gerade Arbeiterkinder den zu ver-
schärfenden Leistungsdruck durchstehen würden. Sie wären denn auch die Fleißigsten beim Studium. Nun wird auch noch so großer Fleiß nicht helfen, die soziale Schichtung an der Universi-
tät merklich verändern zu können. Die Herabsetzung des Freibetrags bei der neuen Studienbeihilfe nach dem BAFÖG und die mit dem HRSG zu erwartenden Verschärfungen im Grundstudium bedeuten einen finanziellen und klassenbedingten Numerusclausus für Gymnasiasten und 2.-Bil-
dungsweg-Absolventen aus der Arbeiterbevölkerung. Der Prozentsatz der Arbeiter, die über die immerhin vorhandenen Bildungsmöglichkeiten ihrer Kinder informiert sind, ist nach wie vor gering. Die Prozentzahl der Eltern, deren Kinder auf der Volksschule verblieben sind, betrug bei den Arbeitern 1965 77 Prozent. Im katholischen Bayern wirkt sich der Bildungsrückstand der Arbeiter nach Dahrendorf noch nachteiliger aus.

Maier meinte in seinem oben erwähnten Vortrag, dass jetzt inzwischen die Bildungschancen demokratisch genug seien, so dass die erbrachte Leistung tatsächlich ein neutraler Maßstab zur Selektionierung der Studenten sei. Dabei verkennt er – obwohl er, progressiv und dynamisch, immer vom Reproduktionsbereich spricht, wenn er Bayerns verfahrenes Schulsystem meint, – die soziokulturellen Auswirkungen der Sprachbarrieren, das Bedürfnis nach beruflicher Sicherheit, das viele Arbeitereltern daran hindert, ihre Kinder auf das lange, relativ unsichere Universitätsstudium zu schicken; er verkennt die bürgerliche Definition dessen, was überhaupt Intelligenz ausmacht, die das Arbeiterkind von Anfang zur Adaption zwingt. Zu Maiers Argument, dass er selbst ein Arbeiterkind ist, kann man nur sagen, dass diese Adaption bis zum Klassenverrat gehen kann.

Leistung ist nicht neutral zu bestimmen. Schon der kleinste Einblick in die Curriculumsforschung lehrt einen, dass die Festlegung und die Kontrolle der Fernziele ein politischer Akt ist, da diese Festlegung die Durchsetzung der einen oder anderen Interessenslage gesellschaftlicher Schichten beinhaltet. Maier freilich fetischisiert den Leistungsbegriff in scheinbar unangreifbare Sphären hinauf.

Eine tatsächliche Chancengleichheit im Bildungssektor allein durch schulische und pädagogische Maßnahmen ist nicht zu erreichen. Bildung und Ausbildung haben in unserer Gesellschaft eine ganz bestimmte Funktion, die vor fast hundert Jahren Liebknecht in seiner Rede „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ klar umschrieben hat:

„Es hat noch nie eine herrschende Kaste, einen herrschenden Stand, eine herrschende Klasse gegeben, die ihr Wissen und ihre Macht zur Aufklärung, Bildung, Erziehung der Beherrschten benutzt und, nicht im Gegenteil systematisch ihnen echte Bildung, welche frei macht, abgeschnit-
ten hätte … Da ein ,intelligenter’ Bedienter und Sklave brauchbarer ist als ein unintelligenter – schon die Römer legten auf Sklaven, die etwas gelernt hatten, einen besonderen Wert und zahlten entsprechende Preise für sie –, sorgt der moderne Staat für eine gewisse Intelligenz, nämlich für Bedienten-Intelligenz, die das menschliche Werkzeug verfeinert und vervollkommnet, so dass sich besser mit ihm arbeiten lässt. So wird die Schule zur Dressuranstalt statt zur Bildungsanstalt.“

Ähnliche Ansprüche stellt heute der BDI, und diese Vorstellungen schlagen sich nieder in den Plänen unserer technokratischen Bildungsplaner. Die Universität wird mehr Arbeiterkinder aufnehmen, doch nur um sie als sechssemestrige Fachidioten den erhöhten Bedürfnissen der Industrie und der Verwaltung zu präsentieren. Das immer labilere System des Spätkapitalismus benötigt in der Industrie qualifiziertere Arbeitskräfte, um Strukturkrisen besser überstehen zu können. Auf der anderen Seite benötigt es im Bildungssektor Lehrer, die als hochspezialisierte Fachkräfte ohne Überblickswissen mithelfen, gesellschaftliche Widersprüche zu verschleiern.


GASt-Extra. Informationen des Gewerkschaftlichen Arbeitskreises der Studenten zum Konventswahlkampf, Wintersemester 71/72, Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

Überraschung

Jahr: 1971
Bereich: StudentInnen