Materialien 1997

Schwarzes Schaf sucht weiße Krähe

„Der Arbeitseinsatz von Herrn Schmidt war qualifiziert, selbständig und immer auf das Wohl der Bewohner bedacht.“ So steht es in seinem letzten Arbeitszeugnis. Franz Schmidt ist 48 Jahre alt, überzeugter Christ und Altenpfleger von Beruf. Er hat noch keinen einzigen Tag seiner 25jährigen Tätigkeit in verschiedenen Altenpflegeheimen und Krankenhäusern bereut. Ausgenommen jene zwei Wochen dieses Frühlings, die sein Leben verändert haben.

Jetzt steht er vor Gericht. Er hat einen Fehler begangen, den er nicht bereut. Er hat vor laufenden Fernsehkameras über seine Arbeit im privaten Münchner Altenheim „Residenzia“ berichtet. Und er hat seine Anklagen wiederholt, zuletzt vor Gericht. Das Pflegeheim hatte ihn und das ZDF auf Unterlassung aller Vorwürfe verklagt. Wenn das „Residenzia“ den Prozess gewinnt, drohen Schmidt bei Wiederholung seiner Vorwürfe 500.000 Mark Strafe.

Vorerst ist er aber alles andere als mundtot: „Es ist eine Horrorgeschichte. Im ,Residenzia’ sind eine tägliche Ganzwaschung und Toilettengänge nicht möglich. Bewohnern, die auf die Toilette müssen, sagt man: ,Sie haben doch eine Windel an.’ Das Essen werde alten Menschen folgender-
maßen verabreicht: „Nase zuhalten, um einen Schluckreflex hervorzurufen.“ Die Pfleger arbeiteten unter ständigem Zeitdruck: 20 Minuten pro Patient täglich.

Die Pflegeversicherung verpflichtet dagegen zu einer Pflegeleistung zwischen 45 Minuten und
fünf Stunden, je nach Pflegebedürftigkeit. Für Menschlichkeit bleibe im „Residenzia“ keine Zeit. Niemand ginge mit den Bewohnern in den Garten. „Wenn eine alte Frau weint, laufen 90 Prozent der Pfleger zum Medikamentenschrank. Wenn man mal jemanden in den Arm nehmen würde, könnte das viele Psychopharmaka ersparen“, sagt Franz Schmidt.

Entspannt sitzt er da im gestreiften T-Shirt und sagt, daß ihm der Prozess nichts ausmache:
„Wenn wir gewinnen sollten, wird es wohl das Ende des ,Residenzia’ bedeuten.“ Aber darum
geht es ihm nicht: „Ich muss für die alten Leute etwas tun, damit sie ein menschenwürdiges Leben haben. Das ist meine Aufgabe. Und eines ist klar: Ich werde nicht mehr damit aufhören für die nächsten Jahre.“ Deshalb findet er auch keine neue Arbeitsstelle: „Mir ist schon passiert, dass Heimleiter am Telefon aufgelegt haben, als sie meinen Namen hörten. Das ist die Heim-Mafia,
bei der alle Träger mitmachen.“

Trotzdem will Franz Schmidt ein Heim finden, das ihn zum Pflegedienstleiter ausbildet. Denn er hält eine bessere Pflege auch mit wenig Geld für realistisch. „Ich habe noch die Hoffnung, dass mich ein Heimleiter einstellt. Das wäre dann eine weiße Krähe. Und es gibt weiße Krähen“, sagt Franz Schmidt und lächelt siegessicher.

Michael Brüggemann


Biss. Bürger in sozialen Schwierigkeiten 10/1997, 11.