Materialien 2014

Drei Mann, eine Demo

Polizei stört Geh-Denk-Marsch nach Dachau

Während in vielen Städten Deutschlands zum Antikriegstag am 1. September Veranstaltungen, Kundgebungen, Ausstellungen und Demonstrationen durchgeführt wurden und in Polen ein großer Staatsakt, beschlossen drei Menschen eine kleine, stille Form des Gedenkens an die bislang größte Menschheitskatastrophe zu wählen, ganz für sich selbst und eventuell ein paar weitere, die sich hätten anschließen können: Eine Wanderung ab 5.45 Uhr von München nach Dachau zur KZ-
Gedenkstätte, und noch weiter bis zur Erschießungs-Stätte für 5.000 sowjetische Kriegsgefangene in Hebertshausen, und zurück. 75 Kilometer an einem Tag, schweigend, ohne Essen, unauffällig, geradezu privat. Das mag nicht jedermanns Sache sein, doch ihre war es: Gehen und Denken, Denken im Gehen, Geh-Denken. Auf den Rucksäcken hatten sie ein kleines Banner angeheftet: „5uhr45 / 1.9.1939 / gedenk / weg“.

Nicht viele mögen sie bemerkt haben am Straßenrand. Nur die bayerische Polizei, kurz vor dem Ende ihres anstrengenden Erinnerungsweges, bereits in München, vor dem Haus der Kunst, auf dem Gehweg. Sie gönnten sich gerade noch eine letzte Pause vor dem Eintreffen am Mahnmal
auf dem Platz der Opfer des Nationalsozialismus. Sie waren gut in der Zeit. Aber am falschen Ort, knapp neben dem benachbarten US-Generalkonsulat. Dessen Kameras sehen alles. Zwei Polizei-
fahrzeuge treffen nacheinander ein. Wer weiß, was die in den Rucksäcken haben! Wenn schon außen eine Botschaft dran klebt. Also stoppen.

Personalienkontrolle. Was machen Sie denn da? Einen Gedenkmarsch? Moment, das ist eine un-
angemeldete Versammlung unter freiem Himmel, eine „sich fortbewegende“, wie es im Versamm-
lungsgesetz heißt. Mit drei Personen, wenn nicht Fünfen. Die Lebensgefährtinnen zweier der Beteiligten waren auch noch da. Und bald auch eine Juristin, die herbeigerufen wurde und mit dem Fahrrad kam, um den unversehens gestoppten Demonstranten beizustehen. Eine Farce:
Drei Wanderer mit einem Schild auf dem Rucksack. So wurde aus dem privaten Gedenken eine politische Aktion. Demonstrierte doch die Polizei wieder einmal augenfällig, wie viel Zeit und Aufwand sie für Fußgänger übrig hat, die nicht nur einkaufen gehen oder sich in der Kneipe amü-
sieren an dem Tag, als vor 75 Jahren das Grauen über Europa kam, welches die Welt in Brand setzte.

Von München aus nahm alles seinen Anfang, mit der Gründung der DAP, aus der die NSPAP wurde. Die Reichspogromnacht, die vom Alten Rathaus aus organisiert und ausgerufen wurde, gab das Programm vor, welches in den späteren Beschlüssen der Wannsee-Konferenz in mörderischer Konsequenz exekutiert wurde als „Endlösung“: Die industriell betriebene Vernichtung der Juden in Europa im Gefolge der Wehrmachts-Einheiten, gefolgt von SS, Gestapo und SD. Ihr blutiges Handwerk hatten viele der späteren Schlächter in Dachau erlernt und erprobt an politischen Gefangenen. Es war das erste „KL“ im reichsweiten System der zahlreichen Konzentrationslager, die sich bald über ganz Europa ausbreiteten mit dem Vormarsch der deutschen Truppen.

Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Mit dem Beschuss der Westerplatte bei Danzig (polnisch: Gdansk) begann der Zweite Weltkrieg, der 55 Millionen Menschen das Leben kosten sollte. Die Worte des „Führers“ quäkten unvergesslich aus den Volksempfängern, und heute noch aus fast jeder zeitgeschichtlichen Dokumentation: „Seit 5 Uhr 45 wird nun auch von regulä-
ren Einheiten zurückgeschossen …“ Eine glatte Lüge einerseits, denn es wurde nicht „zurück“ geschossen, doch andererseits gespickt mit einem Körnchen Wahrheit. Denn tatsächlich wurde geschossen, nur eben nicht von regulären deutschen Truppen, sondern von einem (Himmelfahrts-)
Kommando, das man in polnische Uniformen gesteckt hatte, um die Todgeweihten den Sender Gleiwitz überfallen zu lassen. Sie wurden samt und sonders niedergemäht. Es sollte so aussehen, als müsse das Deutsche Reich polnische Übergriffe auf sein Territorium und die deutsche Bevölke-
rung abwehren. Jedes Schulkind weiß das heute, hüben wie drüben. Sollte es zumindest. Nur der bayerischen Polizei ist das offensichtlich die Feststellung einer Ordnungswidrigkeit wert. Das Fähnchen am Rucksack musste umgehend abmontiert werden auf Geheiß der Polizei. Die sollte man zum Geschichtsunterricht abkommandieren anstatt sie im Streifendienst mental verrotten
zu lassen.

Hier, in diesem ehemaligen „Haus der Deutschen Kunst“, wo die Gedenk-Marschierer von Amts wegen behindert wurden in Ruhe ihre letzten Kräfte zu sammeln, hingen die Schinken vom deutschen Herrenmenschen, und schräg gegenüber, in den Arkaden des Hofgartens, wurde die Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Einen passenderen Ort, um mangelnde politische Sensibili-
tät unter Beweis zu stellen, konnten die Münchner Ordnungshüter nicht finden an diesem Anti-
kriegstag 2014.

Am Mahnmal unter der ewigen Flamme, die hinter Gittern in die Nacht blakte, legten die Drei eine Tonscherbe nieder mit der Uhrzeit in Kreide darauf, wann sie hier ankamen, erschöpft und müde, aber nicht allein: Es hatte sich noch eine Handvoll solidarischer Unterstützer von der Versamm-
lung aus dem Gewerkschaftshaus eingefunden, die sie freundlich begrüßten. Sonst wüssten wir vielleicht gar nicht von dieser stillen Aktion und den Wellen, die die Staatsmacht so reflexhaft aufwallen ließ. Mal sehen, wie lange die Scherbe unter dem Mahnmal noch liegen bleiben darf.
In München sind nicht mal „Stolpersteine“ erlaubt.

Wolfgang Blaschka


zugeschickt am 4. September 2014

Überraschung

Jahr: 2014
Bereich: Gedenken