Materialien 2011

In die Tiefe

Ludwig Hankofer steckt voller Widersprüche und lebt diese auch konsequent

Wasser fällt vom Himmel. Platscht auf die Erde und versinkt in der Isar. Da laufen zwei im Regen am Fluss entlang. Ein Junge, acht Jahre, mit seinem Vater. Du musst leise sein, schärft er dem einzigen Sohn ein. Leise, sonst wird der Vater verhaftet.

Es ist 1963 und Konrad Adenauers letztes Jahr als Bundeskanzler, die Mauer trennt die DDR von der Bundesrepublik, die Welt gefriert im Kalten Krieg und die Kommunistische Partei Deutsch-
lands (KPD) ist seit 1956 verboten. Ihre Mitglieder sind in die Illegalität gedrängt, verhaftet, verurteilt. Ludwigs Vater war zweiter Landessekretär der KPD in Bayern.

Gerade sind die Hankofers, Vater, Mutter und Ludwig, wie so oft, in der DDR. Dort lesen sie in der Zeitung, dass in München eine kommunistische Gruppe ausgehoben wurde; unter den Verhafteten befinde sich der Vater. Was nicht stimmen kann, weil der in der DDR ist. Sie kehren heimlich zu-
rück nach Bayern. Die Mutter stiehlt sich in die Wohnung, um frische Wäsche zu besorgen. Und Ludwig läuft mit dem Vater am Fluss entlang. Du musst leise sein. Ludwig erinnert sich an strö-
menden Regen, an die Angst um den Vater. Und an das Gefühl von Abenteuer.

Da schnuppert der Achtjährige an dieser Mischung von Furcht und Nervenkitzel, die ihn sein ganzes Leben nicht loslässt. Ludwig ist einer, der unentwegt den Rucksack packt: nur weg, reisen, fremde Länder, Abenteuer erleben. »Aber keine All-inclusive-Reisen. Mit Buchen und Hotel und so.« Er sagt es extra, damit ihn keiner mit einem Hawaiihemd und weiße Socken tragenden Urlauber verwechselt. Nein, er ist der, den die Einheimischen auf einer philippinischen Insel scherzhaft »Tourist Number one« nennen. Nur in München hat er sich öfter aufgehalten als auf dieser Insel.

Das kommt vom Vater

Die ist mit einer Stecknadel markiert. In dem schmalen Wohn-, Fernseh- und Sofazimmer seiner Wohnung in München hängt eine Weltkarte an der Wand. In jedem Land, das er besucht hat, steckt eine rote Nadel. Es sind 39. Vor allem Länder mit Meer..Tauchen ist seine Leidenschaft. Tief. Nicht nur bis zur Grenze von 30 Metern. Wo der Tiefenrausch lauert, der Mund Metall schmeckt, das Gehör trügt, der Verstand flattert, das Gemüt abhebt oder in Angst versinkt. Tiefer. 40 Meter, »da spüre ich absolute Ruhe«. Noch tiefer. Wo nur noch Finsternis herrscht und das Bangen ins Herz und in den Kopf kriecht. Sein Rekord waren 73 Meter. Angst. Adrenalin. Kick. »Pures Machoverhalten«, sagt er am Schluss jeder Tauchgeschichte. Was klingt wie ein Refrain. Ein Vers, der immer wiederkehrt und dem Lied erst die Fassung gibt. Doch ein Freund sagt: »Ludwig ist mutig.« Nicht leichtsinnig. Aber einer, der den Kick sucht. Und die Angst besiegt.
Über den andere sagen: Er ist ein schneller Denker. Ein kluger Verhandler. Ein politischer Kopf. »Wenn ich mir einen ehrenamtlichen Gewerkschafter backen könnte, wäre Ludwig die Vorlage.« Sie sagen auch: Das kommt vom Vater.

Also zurück zum Vater. Wenn Ludwig von früher erzählt, ist die Hauptrolle mit dem Vater als Helden besetzt. Ludwig geht noch zur Schule. Doch das bayerische Gymnasium will den Sprößling dieses Kommunisten loswerden. Das war etwa die Zeit, als CSU-Chef Franz-Josef Strauß den alten Hankofer wegen politisch übler Nachrede anzeigte. Der war inzwischen Vorsitzender der Deut-
schen Kommunistischen Partei in München und hatte Flugblätter verteilt, in denen er den »Führern der CDU/CSU« vorwarf, Abgeordnete zu kaufen und im Komplott mit der NPD zu stehen. Es folgt ein spektakulärer Prozess mit viel politischer Prominenz im Gericht. Sechs Jahre später wird das Verfahren gegen den Buchbinder Hankofer still und leise eingestellt.

Doch jetzt informiert eine Referendarin die Hankofers heimlich über den Beschluss der Lehrer-
konferenz: Ludwig soll das Klassenziel nur erreichen, wenn er danach freiwillig die Schule verlässt. Ludwig ist in der Zehnten und steht auf einmal ohne Schulplatz da. Der Vater macht sich auf zum Kultusminister. Setzt sich ins Vorzimmer, wartet, sitzt und wartet, Stunde um Stunde. Der geht nicht. Bis ihn der Minister empfängt und schließlich anordnet, dass Ludwig in die Fachoberschule aufgenommen wird.

»Mein Vater«, Ludwig überlegt kurz. »der ist ein Kämpfer und Held.« Und schiebt einen Satz hinterher, bei dem sich andere Männer vor Verlegenheit winden würden: »Ich empfinde für ihn tiefe Verbundenheit und Liebe.«

Doch ein Hankofer-Leben ist auch ein Außenseiterleben. Im Dorf sind die Eltern die Ärmsten und dann noch Kommunisten. »Was wäre aus mir geworden, wenn ich in einer normalen Familie auf-
gewachsen wäre?« Eine Frage, die keine Antwort will. Normalsein gab es in Ludwigs Leben lange Zeit nicht. Die Mutter scheitert, als sie ihn als Sachbearbeiter in der Bank unterbringen will.
Der junge Hankofer war ein Ruheloser auf Reisen. »Ich hatte nie Ambitionen, etwas aus mir zu machen.« Mal bricht er fast in die USA auf, um Cowboy und Hufschmied zu lernen, mal könnten die Requisiten aus Dackel, Gewehr und Filzhut bestehen. Doch als ihm die Eltern nach bestande-
nem Forstwirtschaftsstudium ein Jagdgewehr schenken, tauscht er es sofort gegen einen VW Käfer ein und jobbt wieder, um Geld zu verdienen. Hauptsache weg.

Geht seinen eigenen Weg

Gefallen hat das dem Vater nicht. Der Junge, ein Herumreisender. Aber er mischt sich wenig ein. Hauptsache, die politische Linie stimmt. Und die hieß: Beug dich nicht! Wehr dich! Mach den Mund auf, wenn dir Unrecht geschieht! So viele Ausrufezeichen können auch eine Last sein.

Nicht für ihn. Ludwig hat längst die politische Linie des Vaters verlassen und streitet sich mit ihm über »sichere, weil sozialistische« Atomkraftwerke und »gefährliche, weil kapitalistische« und um den real existierenden Sozialismus, der seine Bewohner schon am DDR-Grenzturm in Bockelnha-
gen in die Schranken wies. Ludwig geht seinen eigenen Weg. Es ist Ludwig, den ver.di zum Be-
triebsrätetreffen des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück schickt. Und der sich nach dessen Rede als Erster meldet und moniert, dass von den acht Punkten, die Steinbrück als Kanzler unbe-
dingt ändern will, sechs von Rot-Grün verbrochen worden waren. Im Flieger war er noch hin- und hergerissen: »Soll ich was sagen?« »Oder nicht« hätte bedeutet, »dass ich mir das selbst nicht verzeihen würde.«

Bei Ludwig Hankofer geht beides. Er sagt: »Es war mir alles wurscht.« Keine Verbindlichkeiten, keine Verantwortung, keine Karriere, keine Kinder. Einerseits. Der Nicht-Sesshafte. Der Geld nicht spart, sondern fürs Motorrad, Tauchen und Reisen ausgibt.

Er ist, andererseits, von so geradliniger Konsequenz, dass es anderen manchmal wie eine Überdosis vorkommt. Wie er damals wütend aus der Tarifkommission rausging. Weil einer reingewählt wird, der im Betrieb »eine schmutzige Besetzungsregelung« – also unter Tarif – vereinbart hat. Wut ist selten. Die Tonlage mal distanziert, immer sachlich, mal scharf. »Ich möchte ihn nicht als Gegner haben«, sagt eine, die ihn gut kennt.

Dann eben anders

Das wird sich 2011 auch Reinhard Lorch gedacht haben, damals Geschäftsführer des Süddeutschen Verlags Zeitungsdruck, am 47. Streiktag beim »Schwarzwälder Boten«. Die Belegschaft protestiert, dass Redaktion und andere Beschäftigte in zwei tariflose Gesellschaften ausgegliedert werden sollen. Sie streiken, gehen an die Öffentlichkeit, machen Aktionen, doch der Konzernchef der Südwestdeutschen Medienholding, zu der auch die Druckerei der »Süddeutschen« gehört, lässt sich zu keinem Gespräch herab. Hankofer signalisiert der Konzernzentrale: Gibt es innerhalb einer Woche kein Gesprächsangebot, solidarisieren sich die Drucker und Helfer. Keine Reaktion.

Dann eben anders. Die Nachtschicht macht zwei Stunden Warnstreik. Die Kollegen wissen Bescheid – wie über vieles andere auch. Es ist eine Belegschaft, die sich in ihren Protesten nicht beschränkt auf eigene Angelegenheiten. Ludwig erklärt gerade, wie verzweifelt die Kolleg/innen beim »Schwarzwälder Boten« sind, da stürmt eine Führungskraft in den Drucksaal und wedelt mit dem Handy. Der Chef sei dran. Lorch tobt: »Wissen Sie, wo ich bin?« Mitten in Verhandlungen mit dem Springer-Verlag um den Druckauftrag der Bild-Zeitung. Mittendrin im Versichern und Ver-
sprechen, dass das Druckzentrum der »Süddeutschen« ein verlässliches und gewissenhaftes ist. Das gerade streikt. Es geht um einen Millionenauftrag, um Arbeitsplätze, um Existenzen. Wäre Ludwig jetzt in 70 Meter Tiefe, würde um ihn herum Finsternis herrschen und das Bangen in Herz und Kopf kriechen. »Wir lassen uns nicht dauernd erpressen«, ruft ein Drucker. Beifall. Der Streik dauert die ganze Nacht.

Das Betriebsratsbüro liegt am Ende eines langen Flurs. Von der Balustrade schaut man auf die Weiterverarbeitung – still ist es heute. Es ist die Angst, dass es für immer still sein wird. Rundhe-
rum nur schlechte Nachrichten: die Insolvenz der Abendzeitung, die erzwungene Lohnreduzierung und Arbeitszeitverlängerung beim Druckhaus Dessauer Straße. Nun das Gutachten von Schickler. Schickler verheißt nichts Gutes. Die Unternehmensberater gelten bei Betriebsräten als Steigbügel-
halter der Rationalisierer in Verlagen. Zwei der Optionen: Die tariflose Druckerei der FAZ in Maisach bei München wird dichtgemacht oder die Druckerei der »Süddeutschen«. Dann die Nachricht: Maisach wird geschlossen. Erleichterung. Doch klar ist: Der Druck geht weiter.

Ludwig Hankofer wollte das erst nicht, ein Porträt über ihn, keine dieser »Helden-Geschichten«. Dann entschließt er sich doch: »Das macht meinen Vater stolz.« Die Heldenrolle in der Familie Hankofer ist nun mal besetzt

Michaela Böhm


Druck + Papier 4 vom September 2014, 12 f.