Materialien 2014

Jetzt reicht es!

Es war mehr als erstaunlich, dass die kommunalen Organisatoren der Stolperstein-Anhörung am 5. Dezember 2014 im Münchner Alten Rathaus kompensatorisch eine Abgesandte der Israeliti-
schen Kultusgemeinde aufs Podium baten, nachdem deren Präsidentin trotz ihrer seit langem bekannten Absage darauf bestand hatte, dass der Oberbürgermeister einen Brief vorlese, in dem sie ihre Ablehnung der kleinen Messingplatten zu Ehren der Opfer des NS-Regimes erneut be-
gründete.

Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass jene Abgesandte die eindrucksvollen Gegenargu-
mente Salomon Korns, des langjährigen Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden in Deutsch-
land, souverän unterschlug und das beeindruckende Votum zugunsten der Stolpersteine von Salomon Korn, dem langjährigen Vizepräsidenten des Zentralrats, großzügig beiseite wischte.

Stattdessen ging sie dazu über, meine Frau als Sympathisantin der Palästinenser zu diffamieren – womit sie, was denn sonst, Terroristen meinte und sich die Reflexion darüber ersparte, ob das Überleben des Staates Israel von der politischen Ebenbürtigkeit der palästinensischen Nachbarn abhängen könnte.

Eine Recherche über die Umstände meiner Entlassung im Mai 1977 – in den Tagen des „Likud“-
Wahlsieges unter Führung von Menachem Begin – als Leiter des Bonner Büros der Deutsch-Israelischen Gesellschaft scheint ihr fremd zu sein. Denn mit Begins Ausruf „Überall ist [die bei Nablus gelegene Siedlung] Elon Moreh“ setzte endgültig das amtlich autorisierte Siedlungsprojekt ein, nachdem Shimon Peres als Verteidigungsminister in der ersten Regierung Yitzhak Rabins die Vorlagen geliefert hatte.

Die als Fotografin vorgestellte Rednerin hätte sich, als sie sich meiner Entlassung „im gegen-
seitigen Einvernehmen“
widmete, unter anderem der unrühmlichen Rolle ihres Namenspatrons, des israelischen Botschafters in Bonn, erinnern müssen. Dass sie ihren Vornamen stolz auf Gott zurückführte, zeugte zu allem Überfluss von der Unkenntnis der hebräischen Sprache, wenn man freundlich davon absehen will, dass ihr jüdisch-theologisches Denken nicht zur Verfügung steht.

Gefährliche selektive Wahrnehmungen

Rhetorische Ausfälle wie diese wären kaum der Beachtung wert, würde sich hinter solchen Fehl-
griffen keine bewusst einseitig geleitete und damit gefährliche Wahrnehmung verbergen. Dazu sei der Abgesandten das Nachdenken über die lautstarken Unmutsbekundungen aus dem Publikum empfohlen.

Denn wer sich auch nur einigermaßen in einschlägigen Debatten auskennt, wird darüber er-
schrecken, wie sehr sich das Meinungsklima verändert hat und wie stark die Empörung über
Israel – und längst nicht mehr über die Politik Israels – angewachsen ist.

Dazu zwei Beispiele:

Als die damalige Präsidentin des Zentralrats in der Begleitung des Staatsbesuchs von Bundespräsi-
dent Christian Wulff der „Trennungsmauern“ um Bethlehem ansichtig wurde, herrschte sie ihre Begleitung an, warum ihr niemand davon erzählt habe; sie zeigte sich also nach Auskunft von Be-
obachtern der Szene empört. Ob des Versäumnisses ihrer Berater oder aus politischen Gründen sei dahingestellt.

Jedenfalls hindert sie das damalige Erschrecken nach wie vor nicht daran, die israelische Politik gegenüber den Palästinensern ohne Wenn und Aber zu rechtfertigen und im Gegenzug Kritiker pauschal unter Antisemitismus-Verdacht zu setzen. Ferner scheint der Frau Präsidentin jeder Gedanke fremd zu sein, dass Terrorakte und Selbstmordattentate auf die tagtägliche Unter-
drückung und Demütigung der arabischen Bevölkerung in Ost-Jerusalem und in der Westbank zurückzuführen sind und der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen etwas mit der jahrelangen brutalen Abriegelung des Küstenstreifens zu tun haben könnten.

Auch mag es die Frau Präsidentin für schädlich halten, dass jenseits von Benjamin Netanjahu und seiner politischen Entourage jene Personen und Gruppen in Israel der jüdischen Ermutigung von außen bedürfen, die ihren Staat vor dem endgültigen moralischen Bankrott gemäß einem Gesetz, das Israel zum „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ erklären soll, zu bewahren suchen. Dass am Tage der Anhörung in München die Tageszeitung „Haaretz“ ihrem Hauptkommentar den Titel „Der Welt zuhören“ gab, wird in Münchner Kreisen aber wohl unter das Rubrum des jüdischen Selbsthasses eingereiht.

Reiner Bernstein
7. Dezember 2014


www.reiner-bernstein.de

Überraschung

Jahr: 2014
Bereich: Gedenken