Materialien 2014

Keine Illusion, kein Justizzentrum, kein Kompromiss

Reflexionen über einen spezifischen Kampf

München ist die am dichtesten besiedelte Stadt Deutschlands und es wird jeden Tag enger: Um knapp 100 Leute wird die Stadt täglich größer und da die Grenzen der Stadt festgelegt sind, wird der existierende Ballungsraum das Terrain, auf dem sich das Leben und Wohnen von immer mehr Menschen konzentriert. Dieses enorme Wachstum ist für Staat und Kapital eine Möglichkeit, urbane Umgestaltungsprozesse zu beschleunigen und zu lenken und zieht so im wesentlichen zweierlei Konsequenzen nach sich: Die Leute, die in Massen nach München ziehen, werden in erster Linie von dem attraktiven Berufsmarkt des industriellen Wirtschaftsmotors Bayerns oder den ansässigen „Elite-Unis“ angelockt und müssen darüber hinaus reich genug sein, um sich auf dem unfassbar teuren und stetig teurer werdenden Wohnungsmarkt behaupten zu können. Was dieser Prozess der Gentrifizierung und Yuppisierung für ärmere Bevölkerungsschichten heißt, liegt auf dem Tisch: Verdrängung an die Ränder der Stadt oder in zubetonierte, komplett neu gebaute und konzipierte Viertel (wegen der ästhetischen Eintönigkeit und Monotonie im Volksmund „Schuhschachtelhäuser“ genannt), oder letztendlich die Einsicht, dass in München schlicht kein Platz mehr für einen ist. Andererseits zieht das im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten schnellste städtische Wachstum eine dementsprechend schnelle Erneuerung der gesamten urbanen Infrastruktur nach sich.

Da die Dichte der Bewohner steigt, müssen auch die Kapazitäten der Stadt steigen, all diese aufzu-
nehmen, zu transportieren, zu registrieren und vor allem zu kontrollieren. Aus Sicht der Stadt ist Wachstum immer positiv, da die Entwicklung und der Fortschritt des urbanen Raumes so noch schneller voran getrieben werden können. Dieser Fortschritt folgt immer der Logik der Kontrolle, da sich die gestellten Anforderungen immer an maximaler Sicherheit (der Herrschenden) und ma-
ximalen Profiten orientieren, und so ist jedes Stadtentwicklungsprojekt auch ein neuer Versuch, diese Kontrolle auszuweiten. Konkrete Auswüchse dieses Fortschritts sind nicht nur das sich in der Stadt stetig ausweitende Bild von überall präsenten Großbaustellen, sondern auch der Ausbau des Nahverkehr (2. S-Bahn Stammstrecke), des Fernverkehrs (3. Landebahn), des Straßennetzes (Autobahntunnel), der staatlichen Verwaltungsstruktur (z.B. der Bau von Europas größtem Finanzamt) oder auch futuristische Pläne, wie die eventuelle Aufstockung der Stadtmitte um 25 bis 60 Meter, die sich immer mehr von dem traditionellen Bild Münchens als „Millionendorf" ohne Hochhäuser verabschieden.

Das andere Gesicht der Stadt …

Doch da die Schere zwischen Gewinnern und Verlieren auch im reichen München immer größer wird, werden Phänomene wie eine steigende Kriminalität, enorm wachsende Einbruchsraten, wachsende Obdachlosigkeit und Armut, mehr Bettler und Flüchtlinge, mehr Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse und ähnliches immer mehr zu Problemen, aus welchen noch ein Klotz am Bein des erfolgreichen Fortschritts und ein Risiko für den Ruf der reichsten und angeblich sichersten deutschen Großstadt werden könnte. So sieht sich der Staat gezwungen dieser im Schatten des Wachstums gedeihenden Marginalität mit einem umfangreichen Ausbau der repres-
siven Struktur zu antworten: Mehr Verhaftungen, mehr Polizei, mehr Kameraüberwachung, mehr Ticketkontrolleure, mehr Flüchtlingslager, die Einrichtung van Bettlerverbannungszonen, Kam-
pagnen für mehr Anrufe, Unterstützung und Vertrauen zur Polizei, mehr Jugendheime und psychi-
atrische Einrichtungen, mehr Zwangsräumungen und Zwangseinweisungen und letztendlich das größte zukünftige Bauvorhaben Bayerns: Die Errichtung eines neuen Straf- und Justizzentrums.

Die Aufrüstung der Herrschaft

Der in dem Wohnviertel Neuhausen ab 2015 geplante Mammutbau des Straf- und Justizzentrums auf 38.000 Quadratmeter soll in Zukunft alle Gerichte und Staatsanwaltschaften beherbergen und ab 2019 der Arbeitsplatz für 1.300 Justizangestellte und ihre Mitarbeiter werden. Der Entwurf für den Bau wurde 2013 mittels eines Architektenwettbewerbes ausgelost, an dem 15 Architektenbüros aus diversen Ländern teilnahmen. Der letztendliche Siegerentwurf des Justizzentrums aus dem Hause des Münchner Architektenbüros „Frick Krüger Nusser Plan2“ zeichnet sich durch einen „hellen und freundlichen Eingangsbereich“, „gut und einfach funktionierende Gefangenenzufüh-
rung“ und eine „sicherheitstechnisch positive Bewertung“ aus. „Urban, kompakt und grün“ – so soll dieser siebenstöckige Koloss erscheinen, der durch seine funktionale Architektur 1/3 des Platzes ungenutzt lässt, welcher jedoch bald mit noch mehr Justizgebäuden bebaut werden soll. Dieselben Architekten durften ihre Kenntnis und Fähigkeit, einsperrende und bestrafende Insti-
tutionen modern und unscheinbar zu verpacken, auch schon bei der Planung von bisher zwölf Gefängnissen in Deutschland, darunter der Münchner Frauen- und Jugendknast, sowie beim Entwerfen des Justizpalastes in Lyon und einem „EU-Prison-Standard“-Knast in Sarajevo unter Beweis stellen.

Währenddessen umschließt der Plan zur Aufrüstung der bayerischen Justiz auch den Bau eines extra Hochsicherheitsgerichtssaals für Fälle des Staatsschutzes, der organisierten Kriminalität und des Terrorismus im Münchner Riesen-Knast Stadelheim (1.379 bis max. 2.100 Plätze in Notstän-
den), der bereits kürzlich begonnen wurde. Dieser zusätzliche Hochsicherheitsgerichtssaal erspart gefährliche und aufwändige Gefangenentransporte durch die ganze Stadt und wird zudem den ersten verriegelten Glaskasten für Angeklagte beherbergen.

Im Bauch der Bestie

Im Münchner Kontext reiht sich der Bau des Justizzentrums in ein Umfeld der ständig präsenten und generell spürbaren Repression. Das Trio aus Polizei, Gericht und Knast gibt sich in Bayerns Hauptstadt des Verbrechens redlich Mühe, einen möglichst harten Kurs zu fahren und der „Münchner Linie“ der Null-Tolleranz möglichst gerecht zu werden. Dementsprechend werden schon minimale Anzeichen von Kriminalität nach der Logik des „wer nicht hören will, muss fühlen“ rabiat bestraft, da sie der fruchtbare Boden für weitere Verbrechen sein könnten. Diese Erfahrung macht jeder und deswegen ist es auch eine plumpe Banalität, die Härte der Strafver-
folgung Bayerns im Gegensatz zu anderen Orten zu betonen. Was ein solch ungebremstes und ungestörtes Herrschen und Bestrafen erst nachhaltig wirksam macht, ist das Maß an sozialer Befriedung, also das Ausmaß, in dem die Bevölkerung all das toleriert, die Verbreitung der lähmenden Apathie unter den vom Spektakel umgebenen Ausgebeuteten und die Verinnerlichung einer Kultur der selbstauferlegten Kontrolle, Überwachung und des Verratens. Am erfolgreichsten ist dieser Krieg, diese Ausweitung der Kontrolle in jeder Facette unseres Lebens, wenn die Bekrieg-
ten nicht erkennen, dass er geführt wird.

Also braucht ein Repressionsapparat nicht nur eine herrschende Instanz, sondern auch eine Masse an Untergebenen, die ihrer sozialen Rolle gerecht werden, sich bereitwillig einen Bullen in den Kopf implantieren lassen und so erst das ungebremste Wirken einer generellen Repression ermög-
lichen. Das Bündnis zwischen Staat und erduldender und disziplinierter Bevölkerung ist der fruchtbare Boden für ein Szenario, in dem Nichtkonformität mit den herrschenden Regeln sofort ins Auge sticht und gerade gebügelt wird, sich andeutende Risse im Mauerwerk der sozialen Befriedung sogleich mit dem Kitt der Integration und Vereinnahmung im Deckmantel des vorgegaukelten Verständnisses und der angeblichen Hilfsbereitschaft bereinigen lassen und Brüche mit der Herrschaft erfolgreich unsichtbar und in ihrem sozialen Kontext isoliert werden. Das Endprodukt all dessen ist die Verbreitung einer tiefsitzenden Angst, aus der Reihe zu tanzen.

Im Sinne dieser groben Skizze stellt der Bau des 234 Millionen Euro teuren Straf- und Justizzen-
trums einen weiteren Schritt der Herrschaftssicherung dar, der den Justizapparat perfektionieren, zentralisieren, generalsanieren und sicherer gegenüber äußeren Gefahren machen soll. Durch
die Konzentration aller Gerichte und Staatsanwaltschaften in einem einzelnen Gebäude wird ein schnelleres, besseres und sichereres Funktionieren der Justiz garantiert. Die Vorzüge liegen auf der Hand: Kürzere bzw. gar keine Wege zwischen verschiedenen Ämtern; weniger zu überwachende Flächen und Ein- und Ausgänge etc. Langfristig heißt das eine schnellere Abwicklung von Ver-
fahren und die Kapazität, schneller mehr Menschen verurteilen zu können. Darüber hinaus macht dieses Bauvorhaben letztendlich diverse urbane Prozesse sichtbar und greifbar, die den Ausbau dieser Stadt selbst zu einem Hochsicherheitsgerichtssaal, in dem wir unter ständiger Beobachtung, Beurteilung und Gefahr stehen, hinter Schloss und Riegel zu landen, konkretisieren.

Anzeichen der Unruhe

Doch seitdem der Bau des Justizzentrums angekündigt wurde, regt sich eine wachsende Unruhe gegen dieses Vorhaben. In tausenden im ganzen Stadtgebiet präsenten Plakaten und Stickern, in Flugblättern und Straßenzeitungen, auf Bannern und in gesprühten und gemalten Parolen und etlichen anderen Ausdrucksformen wird nun seit mehr als einem Jahr die Idee artikuliert, dass wir auf dieses Projekt der Herrschaft mit einem Kampf antworten müssen, der auf dessen Verhinde-
rung zielt. Medien zu Folge sind die bisherige Konsequenz dieser Agitation zur Sabotage des Justizapparates, zu direkten Angriffen und zur Verhinderung des Baus, 220 Straftaten, und so wissen Journalisten von Farbbeutelanschlägen, eingeworfenen Fenstern und brennenden Autos zu berichten. Der Staat sieht sich bereits veranlasst, Bau- und Planungsbüros für diese subversiven Gefahren zu sensibilisieren, bestimmte Personen und Gebäude speziell zu schützen, auf das Mitführen von Aufklebern gegen den Bau des Justizzentrums mit Hausdurchsuchungen zu reagieren und bereits jetzt anzukündigen, dass die zukünftige Baustelle die sicherste der Stadt
sein wird.

Diese aufmerksam vom Staat beobachtete Verbreitung diffuser Anzeichen von Unruhe, die direkte Kommunikation von Feindschaften auf der Straße mittels Worten oder Taten, versucht dieses spezifische Projekt der Justiz zum Anlass zu nehmen, um einerseits deutlich zu machen, dass wir alle davon betroffen sind, da der strafende Blick der Richter uns alle im Blick hat, und andererseits Diskussionen anzuregen, die fähig sind, eine scharfe Kritik an der Optimierung und Ausbreitung der staatlichen Kontrollstrukturen zu formulieren, zu konkretisieren und in die Praxis umzusetzen. Dies kann nur geschehen, wenn die Realität als die künstliche Fabrikation begriffen wird, die sie ist: Alles andere als unvermeidlich und abhängig von Feinmechanikern, Managern und Konstruk-
teuren, die für ihr ständiges Fortbestehen und ihre Weiterentwicklung verantwortlich sind. So macht die Perspektive der Verhinderung nichts anderes deutlich als die Angreifbarkeit dieser alltäglichen Routine und die permanente Möglichkeit, das Funktionieren dieser konstruierten Fabrikation ins Wanken zu bringen.

Zum Angriff!

Hierbei muss der Angriff die grundlegende Charakteristik eines Kampfes sein, der aufständische Momente ermöglichen will. Angriff, weil die Verhinderung des Justizzentrums keine Sache der Stadtverwaltung ist, sondern eine Sache unserer eigenen Hände. Angriff, weil es immerzu möglich und einfach ist, den eigenen Willen mit dem nötigen Mut und den nötigen Fähigkeiten zu bewaff-
nen und Theorie und Praxis so in Einklang zu bringen. Angriff, da nur so die Wellen eines Kon-
flikts unseren eigenen Horizont verlassen und in einem sozialen Kontext sichtbar und generalisier-
bar werden. Wenn dieser Konflikt nicht die Pfade des Politischen einschlägt – die Pfade der Dele-
gation und Repräsentation, der Kompromisse und Verhandlungen, der Effizienz und Zahlen – sondern danach strebt, soziale Dynamiken anzustoßen, müssen direkte, unmittelbare, selbstbe-
stimmte Mittel des Konflikts und der Kommunikation gewählt werden.

Da es die Essenz der Revolte ist, vielfältig und kreativ zu sein, dürfen unsere Ideen, Vorschläge und
Anregungen nie einen starren Rahmen annehmen. Die Idee einer unabhängigen, flexiblen und temporären Selbstorganisation mag für uns vielleicht die Form und Begrifflichkeiten einer infor-
mellen Affinitätsgruppe annehmen, für andere vielleicht aber die einer Graffiticrew, einer Straßen-
bande oder Nachbarschaftsvereinigung. Das, was zum verbindenden Element wird, ist nicht die Idee einer progressiven Veränderung, sondern die gemeinsame Attitüde gegenüber der Realität, die sich aus einer gemeinsamen Feindschaft speist: In Zeiten der wachsenden Krise und Repres-
sion ist längst deutlich geworden, dass diese Welt keinen anderen Platz für uns übrig hat als den, die Scheiße anderer wegzuwischen. Wenn wir für diese Erniedrigung nicht bereit sind, werden wir in eine der vielen Zellen der Stadt gepackt.

Keine Hoffnung, keine Illusion, keine Gegenutopie, keine Vorstellung einer anderen Verwaltung, sondern der Wille nach purer Negation ist die antreibende Kraft für den Kampf. Und dieser Kampf sieht in seiner natürlichsten Form nicht anders aus als durch die Straßen dieser Stadt zu ziehen und sie abzufucken, die Regulation von Menschen- und Warenströmen zu unterbrechen und als Spielball zwischen Ausgrenzung und Verdrängung der Idee des Vandalismus wieder Bedeutung einzuhauchen, indem es nur durch Zerstörung möglich wird, sich diese Stadt zu eigen zu machen. Wenn diese Zerstörungswut Form annimmt, sind Sprühdose, Pflasterstein, Bolzenschneider, Feuerzeug oder Brecheisen austauschbare Mittel in Händen der sich zusammenrottenden Horde. Als Anarchisten dürfen wir uns nicht die arrogante Illusion machen, dass unsere Mittel und Wege erhabener wären, im Gegenteil müssen wir die Bestäubung dieser unterschiedlichen Initiativen anregen und vorantreiben, indem wir dafür sorgen, dass die Negation in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen ohne Berührungsangst immer und immer wieder die hässliche Fratze der Stadt zerkratzt und so präsent und zugänglich wird.

Dieser Versuch muss damit verbunden werden, die Intensität eines sozialen Konflikts auf dem sozialen Terrain einzuschätzen und durch das Durchforsten und subjektive Erleben der gegebenen Realität die Angemessenheit der eigenen Mittel und Wege zu erwägen. Das Ende der sozialen Befriedung zeichnet sich oft durch das Ende von Illusionen gegenüber dem Bestehenden aus, soziale Konflikte artikulieren sich oft irrational und nicht mittels Statistiken oder Medien und Kommunikation ist meist da fruchtbar, wo Leute auch dafür offen sind und soziale Beziehungen noch auf der Straße existieren und gelebt werden.

Ungewisse Experimente

Durch die Fokussierung auf eine bestimmte Struktur der Herrschaft und deren dahinterstehenden Handlanger können Angriffe nicht nur gebündelt werden, sondern lässt sich die konkrete und lokale Ausweitung der Kontrolle in Form der Errichtung eines Gebäudes zum Versuchslabor machen, ob, wo und wie in einem spezifischen Kampf einer anarchistischen Minderheit eine Diffusion und Multiplizierung offensiver Initiativen angeregt und organisiert werden kann.

In diesem Versuch entstehen eine Vielzahl an Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt: Kann der Bau eines einzelnen Gebäudes zu einem Thema für eine ganze Millionenstadt werden, von dem sich auch die Ausgeschlossenen in peripheren Gegenden direkt betroffen sehen? Wie können wir Räume und Gelegenheiten für Kommunikation öffnen oder uns diese Räume aneignen, ohne von der Straße in eine Nische zu verschwinden? Wie können wir der ständig präsenten Ge-
fahr der Repression von Seiten der Polizei als auch vieler Bürger – ohne sie auszublenden – ent-
gegen treten und trotzdem offen unsere Ideen, Vorschläge und Feindschaften artikulieren? Ist es überhaupt möglich und nötig, Leuten den Sand der eigenen Illusionen aus den Augen zu reiben und sie aus dem Sumpf der Passivität zu ziehen? Was für Ideen einer informellen Organisation von Aktivitäten unter ganz unterschiedlichen Menschen, mit ganz unterschiedlichen Motivationen und Hintergründen haben wir? Und lässt sich letztendlich mit dem Kampf gegen international ver-
netzte und agierende Handlanger der Macht auch die Revolte internationalisieren? Wie und wo sich Antworten auf diese und ähnliche Fragen finden lassen, ist immer ein Experiment.


autonomes Blättchen 19 vom November 2014/Januar 2015, 58 ff.

Überraschung

Jahr: 2014
Bereich: Militanz