Materialien 1991

Der neue „Radikalenerlass“ des Freistaats Bayern

Die Bayerische Staatsregierung hat mit ihrem Erlass vom 3.12.1991 zur „Verfassungstreue im Öffentlichen Dienst“ den bisher gültigen „Radikalenerlass“ aus dem Jahre 1973 außer Kraft gesetzt und eine veränderte Verfahrenspraxis eingeführt (s. Dokumentation in Heft Nr. 10/92 dieser Zeitschrift). Mit diesem Akt wird jegliche Spekulation auf eine Entspannung auf diesem Sektor staatlicher Repression nachdrücklich dementiert. Schon der bisherige Erlass und die darauf gegründete Verwaltungspraxis standen mit Grundsätzen der Rechtlichkeit in Gegensatz. Anstatt dies zu beheben und etwa den Aufforderungen der IAO zur Befolgung des einschlägigen Abkom-
mens Nr. 111 – gegen Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf – nachzukommen, konserviert der neue bayerische Erlass das bisherige Instrumentarium und steigert noch einmal die Infamie der Prozedur, der sich Bewerber um eine Anstellung im Öffentlichen Dienst des Freistaats zu unterziehen haben und mit der Beschäftigten gedroht wird, falls der Dienstherr deren Loyalität nicht mehr für gesichert hält.

Das ganze Ausmaß, in welchem die bayerische Staatsregierung sich über Rechtsgrundsätze hinwegsetzt, wird deutlich, wenn man der inneren Logik des Erlasses nachgeht, nach der sich
die ausführenden Behörden zu richten haben.

Das Aktenstück ist von einem aggressiven Bedürfnis nach Unterdrückung jeglichen Interesses an Emanzipation vom gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand, ja selbst schon jeder Bestrebung,
die mit der bayerischen Regierungspolitik nicht übereinstimmt, durchtränkt. Der Hinweis auf die „Verfassungsfeindlichkeit“ faschistischer Organisationen, die Unterwerfung ihrer Mitglieder unter die Praxis des Erlasses hat daneben fast rein formellen Charakter, da die materiellen Grundsätze und Ziele faschistischer Politik immer mehr zu solchen des Staatshandelns avancieren.

In ihrem Erlass geriert sich die bayerische Staatsregierung als Kopf einer Staatsmaschine, die in ihrer Selbstherrlichkeit selbst um solch beiläufigen Rechtsgrundsatz wie den, dass ein Individuum solange für rechtlich zu gelten hat, bis ihm ein Unrecht nachgewiesen ist, sich nicht zu scheren braucht.

Doch hinter der Fassade der Omnipotenz lauert die Furcht vor dem akuten Verfall der Loyalität des Staatspersonals; aus der veränderten Verfahrenspraxis leuchtet das Bewusstsein hervor, dass der Boden brüchig ist, auf dem sie gründet. Der Erlass ist ein Dokument des Zwiespalts zwischen reaktionärer Intention und der Zersetzung der gesellschaftlichen Fundamente, die deren Ver-
wirklichung voraussetzt. Erstes Indiz hierfür ist der geänderte Verfahrensgrundsatz.

Nach der in den vergangenen 20 Jahren verfolgten Praxis des Radikalenerlasses wurde ein Bewer-
ber für den Öffentlichen Dienst nicht eingestellt, wenn die einstellende Behörde „Zweifel an seiner Verfassungstreue“ hatte. Beschäftigte wurden im entsprechenden Fall entlassen. Schon mit der Kategorie des „Zweifels“ hatte sich die staatliche Exekutive ein Willkürinstrument verschafft. Es handelt sich dabei nämlich um einen Zustand subjektiver Verfassung der einstellenden Behörde, das heißt des für die Einstellung zuständigen Beamten. Deren Meinung und nicht etwa ein objekti-
ver, anhand äußerlicher Fakten nachprüfbarer Tatbestand wurde damit zu einem Rechtskriterium erhoben. Deswegen hatte ein in Zweifel gezogener Bewerber oder Angehöriger des Öffentlichen Dienstes auch nie ein wirkliches Mittel in der Hand, sie aus der Welt zu schaffen. Es war immer Sache der Behörde, ob sie ihre Zweifel entkräftet sah oder nicht.

Zum Zwecke der Überprüfung des Bewerbers fand bei Einstellung die sogenannte „Regelanfrage“ bei den Landesämtern für Verfassungsschutz statt. Bei Präsentation geheimdienstlicher „Erkennt-
nisse“ begann der Circulus inquisitorischer Anhörungen, um „dem Bewerber Gelegenheit zu geben, die bestehenden Zweifel auszuräumen“, das heißt, sich zu demütigen. Das niederträchtige Verfah-
ren wahrte indessen noch soweit den Schein der Rechtsförmigkeit, als die einstellende Behörde ihre zweifelhaften Zweifel darzutun hatte, sie traf die Beweislast zu deren Begründung. Diese Verfahrensweise signalisierte die vorausgesetzte Vermutung, dass in der Regel das gegenwärtige und zukünftige Staatspersonal und damit die Bevölkerung, aus der es rekrutiert wird, verfassungs-
konform im Sinne der staatlichen Definition zu gelten habe. Die „Verfassungsfeindlichkeit“ galt dagegen als Ausnahme, vor der sich der Staat jedoch zu schützen hätte.

Nach dem neuen bayerischen Erlass hat nicht mehr der Staat seine möglichen Zweifel zu substan-
tiieren, sondern der Bewerber hat durch eine Nichtzugehörigkeitserklärung zu Organisationen, die die Staatsregierung in einer eigens aufgestellten und fortzuschreibenden Liste als „verfassungs-
feindlich“ qualifiziert, mögliche Zweifel im voraus entweder auszuräumen oder aber überhaupt erst zu begründen. Die Überprüfung des Bewerbers ist nicht mehr wie früher Sache des Geheimdien-
stes, sondern des Bewerbers selbst, nicht die Behörde hat ihre möglichen Zweifel zu präsentieren, sondern der Aspirant. Er hat sich als tätiger Agent nicht des Öffentlichen, sondern des Geheim-
dienstes zu beweisen, bevor er in den Öffentlichen eintritt.

Die Erklärung ist mit der Sanktion belegt, dass der Bewerber „bei falschen, unvollständigen oder fehlenden Angaben im Einstellungsverfahren damit rechnen muss, dass (er) nicht eingestellt wird oder eine erfolgte Ernennung zurückgenommen wird, bzw. der Arbeitsvertrag angefochten wird“. Unabhängig von jeder materiellen Prüfung, was eine „verfassungsfeindliche“ Organisation sei, ist eine im Regierungssinne richtige Beantwortung der Fragen zur Einstellungsvoraussetzung ge-
macht. Die Behörde maßt sich hier an, allein eine von ihr für „falsch, unvollständig oder fehlerhaft“ gehaltene Antwort zu „Mitgliedschaft oder Mitarbeit“ zum Nichteinstellungsgrund zu machen.

Bei Beantwortung der Fragen ist der Bewerber zudem gezwungen, die Beurteilungsgrundsätze der bayerischen Staatsregierung sich vollständig zu eigen zu machen, wie die abgründige Formulierung des „Fragebogens“ verdeutlicht: „Mir ist bekannt, dass ich bei den nachstehenden Fragen auch eine Mitgliedschaft oder Mitarbeit in anderen extremistischen oder extremistisch beeinflussten Organi-
sationen … anzugeben habe“. Auf dem Weg der Konkretisierung des Erlasses in den Fragebogen für den Kandidaten hat die Staatsregierung den Terminus „verfassungsfeindlich“ durch die neu eingeführten Kategorien „extremistisch oder extremistisch beeinflusst“ und „andere Organisatio-
nen“ substituiert. Dies sind alles andere als – eindeutige – Rechtsbegriffe, sie erhalten ihren Inhalt einzig durch die spezifische politische Sichtweise, besser Leidenschaft der definierenden Staats-
regierung.

Bei der bisherigen Verfahrensweise musste der Bewerber die Erklärung abgeben, keiner „verfas-
sungsfeindlichen Bestrebung“ anzugehören. Er konnte sich daher im Verfahren immer noch auf den Standpunkt stellen, dass die Organisation, der er angehören mochte, nicht „verfassungs-
feindlich“ sei und dies der Behörde gegenüber vertreten – auch wenn das in den meisten Fällen fast aussichtslos war. Selbst das ist nach bayerischem Grundsatz nicht mehr möglich. Mit dem Zwang zur Mitteilung einer Mitgliedschaft oder Unterstützung hat der Bewerber die betreffende Organisation selbst schon per Erklärung als „verfassungsfeindlich“ zu denunzieren. Mit der er-
zwungenen Offenlegung einer Mitgliedschaft unter der denunziatorischen Definition der Organi-
sation ist die Verteidigung gegen die Denunziation selbst bereits unterminiert. Die Sanktion verwehrt dem Bewerber im übrigen, im Einstellungsverfahren dieser einseitigen Sichtweise durch Nichtbeantwortung entgegenzutreten, um damit der Gegenseite den Beweis anzulasten. Die Nichtbeantwortung ist nach dem Erlass selbst ein Zweifel begründender Akt und damit ein Grund zur Nichteinstellung.

Indem der Freistaat Bayern die Bewerber zum Öffentlichen Dienst zur Selbstdenunziation zwingt, ist der oben angesprochene Rechtsgrundsatz, dass für rechtlich zu gelten hat, wem kein Unrecht nachgewiesen ist, in doppelter Weise liquidiert. Einerseits sind an die Stelle rechtlicher Maßstäbe zur Beurteilung einer politischen Organisation ausschließlich die spezifischen Interessen der Re-
gierungspolitik, der Exekutive getreten. Andererseits ist der Grundsatz in sein Gegenteil verkehrt, indem der Bewerber vor Einstellung zu beweisen hat, dass er regierungsloyal – nicht rechtsloyal – ist.

Damit ist unausgesprochen vorausgesetzt, dass zunächst einmal jeder Bewerber in dem Verdacht der Illoyalität gegenüber dem Staat, als dessen Agent er fungieren soll, steht. Hier wird jeder der inquisitorischen Drangsal unterworfen, die bisher denen vorbehalten war, die der Staat nach „eigenen Erkenntnissen“ als Verfassungsfeinde rangierte. Die nach dem alten „Radikalenerlass“ noch angedeutete Vermutung, dass die Bevölkerung, aus welcher der Staat sein Personal bezieht, verfassungskonform in dessen Sinne sei, ist in Bayern abhanden gekommen. Dies gilt namentlich für die Bevölkerung der DDR, die über die im Fragebogen aufgeführten Organisationen (FDGB, FDJ, Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe, Kulturbund u.a.) nahezu komplett erfasst ist. Damit insinuiert die Staatsregierung aber zugleich den wunden Punkt ihrer Position. Das ihrerseits verloren gegangene Vertrauen in die Staatsloyalität der Bevölkerung deutet auf die Tatsache deren wirklicher Zersetzung. Im Misstrauen der Regierung spiegelt sich das gesellschaftliche Faktum.

Dies führt andererseits zu dem Bestreben, Organisationen, die als „verfassungsfeindlich“ bezeich-
net werden, gesellschaftlich hermetisch zu isolieren. Der Bewerber wird darin belehrt, dass mit den Pflichten des Beamten (und des Angestellten entsprechend) „insbesondere unvereinbar … jede Verbindung mit einer Partei, Vereinigung oder Einrichtung“ ist, welche die fdGO im Sinne von Grundgesetz und bayerischer Verfassung – in der Interpretation der bayerischen Staatsregierung – „ablehnt oder bekämpft“. Nicht umsonst ist hier von jeder und nicht etwa von tätiger politischer Verbindung die Rede. Die Kenntnisnahme von den Zielen solchermaßen in Verruf gesetzter Par-
teien, Vereinigungen oder Einrichtungen setzt natürlich eine Verbindung zu ihnen voraus. Selbst solche rein passive Beziehung verbietet der Freistaat Bayern seinen Beamten, Angestellten und Arbeitern. Indem er so den öffentlichen Diskurs über die Ziele dieser Organisationen, in deren eigener Formulierung und nicht so, wie das Landesamt für Verfassungsschutz sie in seinen Berich-
ten drapiert, zu unterbinden trachtet, zeigt der Freistaat an, dass er kein Vertrauen darin hat, in diesem Diskurs erfolgreich, das heißt überzeugend zu bestehen.

Der Widerspruch, in dem die Staatsregierung sich befindet, drängt sie auch, im weitern mit Verfahrensregelungen zu operieren, die rechtlichen Maßstäben nicht genügen. So sei für „den freiheitlich-rechtsstaatlichen Öffentlichen Dienst“ nicht geeignet, „wer gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat oder für das Ministerium für Staatssicher-
heit bzw. Amt für nationale Sicherheit der DDR tätig war“. Der Erlass schweigt darüber, wann ein solcher „Verstoß“ oder „Tätigkeit“ im Erlaßsinne feststeht. Dass dazu eine rechtskräftige Verur-
teilung erforderlich sei, wird jedenfalls nicht gesagt. Die von staatswegen geführte Stasikampagne belehrt, dass hierfür die bloße Verdächtigung ausreichend ist. So, wie der Freistaat Bayern die im Gebiet der DDR eingeführte Praxis der Selbstbezichtigung zum Vorbild seines Erlasses gemacht hat, gibt es keinen Grund für die Annahme, daß er in diesem Punkte zurückhaltendere Maßstäbe anzulegen vorhabe.

In einem weiteren Punkt des Erlasses lässt die Staatsregierung durchblicken, dass sie sich bei der Verfolgung von Vereinigungen, die der Regierungspolitik widerstreben, nicht auf formell rechtlich zugestandene Mittel beschränkt. Bestehen nämlich neben anderem „aufgrund anderweitig bekannt gewordener Tatsachen Zweifel daran, dass der Bewerber jederzeit für“ … usw. eintritt, „so müssen diese Zweifel vor einer Einstellung ausgeräumt werden“. Das beiläufige „anderweitig“ eröffnet die Ausbeutung trüber Quellen, auch solcher, die nicht aus dem trocknen Boden des Rechts entsprin-
gen. Es ist inzwischen gerichtsnotorisch, dass in Berufsverbotsverfahren auch mit unrechtmäßigen Mitteln erlangte „Erkenntnisse“ Verwendung gefunden haben. Dass eine Landesregierung diesen Zustand öffentlich in einem ihrer Erlasse – wenn auch etwas verhalten – sanktioniert, ist – im Ge-
biet der BRDwest – neu; im Gebiet der ehemaligen DDR sind solche Praktiken von den Personal- und Ehrenkommissionen sogar gefordert worden.

Eine besonders abgründige Passage ist den Personen gewidmet, die sich bereits im Dienst des Freistaats Bayern befinden:

„Besteht der Verdacht, dass ein Angehöriger des Öffentlichen Dienstes gegen die Pflicht zur Ver-
fassungstreue verstößt, so prüft seine Dienststelle, ob die gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen zur ergreifen sind, um ihn zur Erfüllung seiner Dienstpflichten anzuhalten oder ihn aus dem Dienst zu entfernen.“ Dies ist ein echt freistaatliches Muster dafür, wie vermittels eines Satzes jeglicher Rest von Rechtsposition eines Beschäftigten im Öffentlichen Dienst zur Wahrung seines Beschäfti-
gungsverhältnisses in ein Nichts aufzulösen ist.

Am Anfang „besteht der Verdacht“. In dem vorausgesetzten Bestand ist jeder Gedanke an sein Zustandekommen von vorn herein ausgelöscht, die Frage nach dessen Gründen vorab liquidiert. Gründe, die seine Erregung legitimieren, sind nicht benannt, eine Einschränkung auf tatsächliche Anhaltspunkte – wie sie bislang noch bestanden hatte – findet nicht statt. Damit erlaubt die bayerische Staatsregierung ihren Dienststellenchefs aus jedem ihnen lieben Grund sich in den Zustand des „Verdacht-habens“ zu versetzen.

Ist dieser Zustand einmal hervorgerufen, setzt sich die Dienststelle in Bewegung. Aber nicht etwa mit dem Ziel, die Berechtigung ihres Verdachts zu überprüfen und ihn auszuräumen, sondern um zu prüfen, „ob die gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen sind, um ihn (den Beschäf-
tigten) zur Erfüllung seiner Dienstpflichten anzuhalten“. Indem die Staatsregierung ihren Gedan-
ken über die Stege zweier Nebensätze führt, hat sie den Verdacht einer Pflichtverletzung in den Tatbestand einer Pflichtverletzung transformiert. Das „Anhalten zur Erfüllung seiner Dienst-
pflichten“, setzt nämlich voraus, dass der Beschäftigte sie verletzt hat. Da zwischen „Verdacht“ und „Ergreifung der Maßnahmen“ keine Prüfung des Verdachts vorgesehen wird, ist der Beschäftigte der Maßnahme verfallen, sobald der Dienstherr geruht, einen Verdacht zu hegen. Der Fortbestand des Beschäftigungsverhältnisses ist nur noch durch einen Akt dienstherrlicher Gnade möglich. Hier ist jede Spur eines Rechtsverhältnisses zwischen dem Beschäftigten und dem Staat beseitigt, das Dienst- und Treueverhältnis diese finstere Reminiszenz an das Mittelalter, tritt unverhüllt entgegen. Hier ist ein Stuck Universalgeschichte der Reaktion kondensiert.

Der Erlass frappiert durch die Unverfrorenheit, mit der die Regierung des Dr. h.c. Max Streibl zu Werke geht. Er offenbart aber ebenso die Verletzlichkeit ihrer Position. Die Gegenwehr ist nicht nur erforderlich, sie hat auch Aussichten auf Erfolg.

(Quelle: Erlass der bayerischen Staatsregierung vom 3.12.1991, abgedruckt in: Antifaschistische Bildungspolitik, 10/92)


Antifaschistische Bildungspolitik. Nachrichten, Analysen, Protokolle der Arbeitsgemeinschaft antifaschistische Bildungspolitik. Informationen aus Erziehungs-, Bildungs- und Forschungseinrichtungen, Köln 13/1992.

Überraschung

Jahr: 1991
Bereich: Bürgerrechte