Materialien 2015

Europa entlarvt sich

Demokratie stört nur noch

Nun zeigt die Riege aus achtzehn Finanzministern Europas völlig ungeschminkt ihr wahres Ge-
sicht: Hinter den starren Masken ihres eingefrorenen Kühlschrank-Lächelns kommen hässliche Fratzen zum Vorschein, die eiskalt den Hahn abdrehen, sobald ein Land nicht mehr nach ihrer Pfeife tanzt. Als die Regierungsvertreter Griechenlands erklärten, sie wollten ihre Bevölkerung zuhause darüber abstimmen lassen, ob sie sich nach den Regeln der „Institutionen“ strangulieren lassen wolle, war endgültig Matthäi am Letzten, „isches over“, aus die Maus und basta. Das wäre ja die Höhe, über Finanzen das Volk zu befragen! Demokratie und Kapitalismus passen nur solange zusammen, wie das Kapital den Hut auf dem diktierenden Haupte behält. Lässt man sich nicht darunter einfangen, ist das falsche Spiel schnell vorüber. Die Hütchen flüchten. Die Tarnung wird flugs fallen gelassen, und hervor quillt die nackte Macht der prallen Geldsäcke mit all der Brutalität ihrer Bedingungen.

Frau Wächterin vom IWF, die wie im Comic passend Lagarde heißt, grinste eisig und blieb eisern von Anfang an: Keine Auszahlung der letzten 7,2 Milliarden aus dem zweiten Hilfspaket ohne An-
nahme eines dritten zu denselben harten Konditionen, wie sie die Troika bereits den korrupten Vorgänger-Regierungen auferlegt hatte. Harsche Austeritätspolitik bis zum Wegsparen des letzten öffentlichen Suppentopfs, Privatisierungen bis zur letzten Hafenmole, Mehrwertsteuer-Erhöhun-
gen, bis der Arzt nicht mehr kommt. Das ganze Verarmungsprogramm, bis die Wirtschaft endgül-
tig kollabiert und die Menschen krepieren. Totsparen bis zum Exitus. Das war ihr neoliberales, menschenverachtendes Konzept. Finanzbeamte zu entlassen generiert nicht mehr Steuereinnah-
men. Dazu muss man nicht Volkswirtschaft studiert haben, um zu erkennen, dass neoliberaler Wahnsinn in den Irrwitz führt.

Dumm nur für die Euro-Geldsäcke, dass die Griechen das nicht mehr mitmachen wollten und eine andere Regierung wählten, die zum erstenmal in der Landesgeschichte ihre Wahlversprechen tat-
sächlich einhalten will und den Staatshaushalt nicht mehr nach den bisherigen Vorgaben zu „sa-
nieren“ bereit ist. Ihre Reformvorschläge gefielen den übrigen europäischen „Partnern“ partout nicht, sie bestanden auf Kaputtsparen und weiterer Demontage des Öffentlichen Sektors bis hin zur Aufgabe der Daseinsvorsorge. Selbst die bescheidene Summe von 200 Millionen Euro für Sofortmaßnahmen zur Linderung der krassesten Not der Allerärmsten war denen ein Dorn im gierigen Auge. Wozu verhindern, dass Leute ihre Wohnungen verlieren, wieder Strom bekommen oder zum Arzt gehen können, obschon sie nichts mehr bezahlen konnten?! Die humanitäre Kata-
strophe war den hartgesottenen Gläubigern völlig egal.

Die ungerührten Geldsäcke bleiben nun vorerst unberührt. Doch die Gläubiger werden dran glau-
ben müssen, dass es jetzt erst richtig teuer wird. Bisher hatten sie nur gebürgt, nun müssen sie echt einspringen. Ihr Geschäft haben sie selbst abgeschrieben.

Die griechischen Wähler werden dem stromführenden Rettungsring aus Stacheldraht aller Voraus-
sicht nach ein donnerndes „Ochi“ entgegen schmettern, Nein sagen zur Erpressung aus dem rei-
chen nördlichen Europa und dem Internationalen Währungsfonds. Sie werden vermutlich die Standhaftigkeit ihrer Regierung bestätigen, auch auf die Gefahr einer Staatspleite hin. Sie selbst sind ohnehin zu großen Teilen pleite gegangen oder stehen kurz davor. Viele haben sich aus Ver-
zweiflung bereits umgebracht in den letzten fünf Jahren. Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von annähernd 60 Prozent könnten es noch mehr werden, wenn es weiter so ginge.

Es muss ein Schuldenschnitt her, Grexit hin oder her! Denn im Falle einer radikalen Abwertung einer wieder eingeführten Drachme wöge die Schuldenlast noch wesentlich drückender, sie wäre niemals mehr zu tilgen. Eigentlich will das niemand wirklich, weder die Griechen in ihrer Mehrheit noch die Euro-Zone. Es wäre blanker Hans-Werner, ein gigantischer Unsinn, auf Dauer die Illusi-
on aufrecht erhalten zu wollen, der (Devisen-)Markt regele das alles automatisch. Er führt nur regelgemäß und regelmäßig in die Krise.

Es ist eine politische Entscheidung, nicht eine finanztechnische, und sie wird in einer Woche ge-
troffen werden. Vom griechischen Volk, nicht von den versteinerten Masken in Brüssel, die jetzt „ihre Geduld endgültig verloren“ haben. Sie werden Varoufakis wieder jovial auf die Schultern klopfen müssen und hoffen, dass Griechenland nicht von den Russen oder Chinesen Geld nimmt. Denn das ist die Sorge der europäischen Regierungschefs, dass der Südosten der EU wegbrechen könnte, und wer weiß, vielleicht auch der NATO. Also werden sie nicht tatenlos zusehen können, wie Griechenland absäuft. So oder so, die preiswerteste Lösung haben sie jetzt verspielt: Ihre längst gemachten Hilfszusagen einzuhalten und die demokratische Entscheidung Griechenlands zu re-
spektieren.

Eine Woche hätte das gekostet, doch ihr stures Beharren auf Einhaltung „ihrer Regeln“ zeitigt nur ihren Offenbarungseid: Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie, doch die Menschen in Europa brauchen Demokratie ohne Kapitalismus. Nicht nur in Griechenland. Im Herbst wählen die Spanier. Gute Chancen für Podemos! Schlechte Karten für ein asoziales Europa. Es könnte zu Verwerfungen kommen, zu politischen Unruhen, zum Auseinanderbrechen zwischen Süd und Nord, wie es weltweit bereits tagtäglich passiert.

Ein unsäglicher griechischer Wirtschaftswissenschaftler, dessen unaussprechlichen Namen man sich nicht merken sollte, brachte es auf den Punkt: Das alles sei eine langfristig angelegte Strategie der Kommunisten in der linken Syriza, die es auf Revolution angelegt hätten. Mit der Wiederbe-
lebung des alten Feindbilds hoffte er den aufrechten Gang der Tsipras-Regierung desavouieren zu können. Ein Körnchen Wahrheit indes könnte er gestreift haben: Die Menschen sehen, wohin der Weg des Neoliberalismus letztlich führt, und suchen Auswege. Sie beginnen den Unterschied zu erkennen zwischen ihren Interessen und denen der Imperialisten.

Das ist für letztere nicht ganz ungefährlich. Würde man die jungdynamisch krawattenverachtenden griechischen Politstars neben den verhärmten Schäuble auf den Laufsteg stellen, ginge es in der Gunst des Publikums deutlich bergab mit der alten Garde. Die knarzend karge Glaubwürdigkeit des Rollstuhlfahrers hat in den Verhandlungen stark gelitten. Hatte er nicht versprochen, alles zu tun für den Verbleib Griechenlands in der Eurozone? Es wird Zeit, dass den mumiengleichen Hü-
tern des Goldenen Kalbes auch hierzulande endlich der verdiente Schubs auf die Müllhalde der Geschichte erteilt wird. Damit ein soziales Europa möglich wird.

Wolfgang Blaschka


29. Juni 2015

Überraschung

Jahr: 2015
Bereich: Internationales