Materialien 2015

Eröffnungsrede

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Passantinnen und Passanten,
ich begrüße euch zum Slutwalk 2015!

„Frauen sollten sich nicht wie Schlampen anziehen, wenn sie nicht vergewaltigt werden wollen“, dieser Satz eines Polizeibeamten aus Toronto löste vor vier Jahren eine weltweite Bewegung, die sogenannten Slutwalks aus. Auch heute gehen wir wieder auf die Straße, um gegen sexualisierte Gewalt und Sexismus zu protestieren und dafür zu kämpfen, dass die Verantwortung für sexuelle Übergriffe dort bleibt, wo sie hingehört, und zwar beim Täter!

In diesem Jahr widmen wir uns einem besonderen Thema: Der Tatsache, dass eine Vergewaltigung in Deutschland ein nahezu strafloses Delikt ist.

2012 wurden nur 8,4% aller mutmaßlichen Täter verurteilt. Dabei spreche ich nicht von 8,4 % aller Vergewaltigungen, sondern nur aller angezeigten Vergewaltigungen, und das sind nur 5 – 10 Pro-
zent. Dass nur so wenige Opfer Anzeige erstatten, hat unter anderem damit zu tun, dass die Aus-
sicht auf eine Verurteilung des Täters äußerst gering ist. Die meisten Verfahren werden wieder eingestellt oder die Täter freigesprochen.

Warum ist das so? Die Gründe hierfür sind vor allem in der aktuellen Rechtslage zu finden:

Der §177 Strafgesetzbuch, in dem sexuelle Übergriffe geahndet werden, weist gravierende Lücken auf, denn Geschlechtsverkehr gegen den Willen einer Person ist in Deutschland nicht strafbar.

Strafbar ist ein sexueller Übergriff erst dann, wenn eine Nötigung des Opfers stattgefunden hat. Doch was heißt Nötigung überhaupt? Nötigung bedeutet z.B., dass sich das Opfer gewehrt haben und der Täter Gewalt anwenden musste, um diese Gegenwehr zu überwinden. Das Ausmaß an Widerstand, das geleistet werden muss, ist dabei jedoch enorm hoch. Weder schreien, weinen, strampeln, ausweichen etc. reichen aus, um den Tatbestand zu erfüllen. Wir wissen, dass die mei-
sten sexuellen Übergriffe im sozialen Nahraum passieren, der Täter kann also z.B. ein Freund oder der eigene Partner sein. Das Opfer braucht also erst mal eine Weile, um zu verstehen: Was passiert hier eigentlich gerade? Viele Frauen fallen dabei zuerst in eine Schockstarre. Zugleich setzen sich viele Betroffene häufig nicht zur Wehr, weil sie um die Bedrohlichkeit des Täters wissen und schwere Verletzungen fürchten und lassen die Tat ‚wie erstarrt‘ über sich ergehen. Physische Gegenwehr oder Flucht sind in solchen Situationen keine natürlichen Reaktionen, typische Reaktionen wie Schockstarre oder Lähmung führen dabei regelmäßig zur Straflosigkeit der Übergriffe.

Ein sexueller Übergriff ist außerdem dann strafbar, wenn der Täter mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben droht, also etwa die Drohung: „Ich bringe dich um.“ Oder die Drohung zur Kör-
perverletzung, alle anderen Drohungen sind nicht relevant. Doch die meisten Täter kennen ihre Opfer und wissen sehr genau, was ihnen wichtig ist, seien es die Kinder, der Arbeitsplatz oder das Haustier. Eine häufige Situation ist die Drohung von deutschen Ehemännern gegenüber ihren ausländischen Frauen, sie abschieben zu lassen. Derartige Drohungen werden im §177 jedoch nicht erfasst.

Wenn sich das Opfer in einer schutzlosen Lage befindet, dann muss der Täter keine Gewalt anwenden, damit es als Straftat gewertet wird. Diese Ausnahme wurde von der Rechtsprechung aber sehr stark eingeschränkt. So ist z.B. eine dunkle, einsame Straße nicht zwangsläufig eine schutzlose Situation, weil dann hinterher überprüft werden muss, ob jemand zufällig gerade seinen Hund in der Nähe ausgeführt hat. Wenn das der Fall war, ist die Lage nicht schutzlos, auch wenn die Frau nichts davon mitbekommen konnte. Wenn in der Nachbarwohnung theoretisch andere Menschen hätten sein können, die Frau dies aber nicht wusste und nicht versucht hat, um Hilfe zu rufen, dann war sie auch nicht schutzlos. Diese Beispiele zeigen die Absurdität dieses Paragraphen, denn eine objektiv schutzlose Lage wäre nur an vollkommen abgelegenen, verschlossenen oder schalldichten Tatorten gegeben. Durch diese enge rechtliche Auslegung werden zahlreiche sexuelle Übergriffe strafrechtlich nicht verfolgt.

Insgesamt gehen die zu erfüllenden Tatbestandsmerkmale völlig an der Realität vorbei, in der Angriffe typischerweise stattfinden.Dies führt dazu, dass viele Verfahren eingestellt oder die Täter freigesprochen werden. Zusätzlich erlaubt es die Rechtslage nicht, dass nicht-einvernehmliche sexuelle Handlungen strafverfolgt werden. Ein sexueller Übergriff gegen den Willen einer Person ist nicht strafbar. In einer Studie des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe wurden 107 Fälle schwerer sexueller Übergriffe anhand von Einstellungsbescheiden und Freisprü-
chen analysiert. Das Ergebnis ist, dass die aktuelle Rechtslage dazu führt, dass es keine effektive Strafverfolgung gibt. Potentiellen Straftätern wird signalisiert, dass das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung nicht von Grund auf zu respektieren ist, wie etwa das Eigentum, sondern, dass es einen gewissen Spielraum gibt, den auszureizen sich lohnen kann.

Dies widerspricht internationalen Menschenrechtskonventionen. 2011 wurde das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, die sogenannte Istanbul Konvention verabschiedet. Der Konvention zufolge müssen sexuelle Handlungen, die nicht einverständlich erfolgen, bestraft werden. Deutschland hat das Übereinkommen unterzeichnet, aber bisher nicht in deutsches Recht umgesetzt. Das Justizministerium hielt die deutsche Rechtslage zunächst sogar für ausreichend und Konventionskonform. Nach zunehmendem Druck aus der Öffentlichkeit und seitens der Politik ist jedoch inzwischen eine Reform des Sexualstrafrechts geplant.

Doch wie kann es überhaupt sein, dass wir in einem Rechtsstaat leben, der sexuelles Handeln am oder im Körper eines Anderen ohne dessen Einverständnis als nicht sanktionswürdig ansieht? Warum ist es normal, dass die sexuelle Selbstbestimmung verteidigt werden muss?

Hier wirken gesellschaftliche Faktoren zusammen, die unter dem Begriff „rape culture“, also Vergewaltigungskultur zusammengefasst werden können. Wir leben in einer Gesellschaft, die sexualisierte Übergriffe verharmlost und Vergewaltigungsmythen immer wieder herstellt. Solche Mythen, wie z.B. die Annahme, dass Frauen Vergewaltigungen selbst provozieren, wenn sie sich sexy kleiden, entschuldigen das Verhalten der Täter und suchen die Schuld beim Opfer. Auch wenn generell klar ist, dass eine Vergewaltigung ein schlimmes Verbrechen ist, sind Vergewaltigungs-
mythen gesellschaftlich weit verbreitet und akzeptiert. Und auch das Justizsystem ist nicht frei von diesen Vorurteilen. Von Betroffenen wird erwartet, sie müssten sich auf eine bestimmte Weise vor, während oder nach der Tat verhalten. Wenn sie von diesen Vorstellungen abweichen, bekommen sie eine Mitschuld oder es wird ihnen erst gar nicht geglaubt.

Außerdem hat die aktuelle Rechtslage ihren Ursprung in tradierten patriarchalen Denkmustern von weiblicher Verfügbarkeit. Das Machtgefälle, das in unserer Gesellschaft zwischen Männern und Frauen herrscht, wird durch den alltäglichen Sexismus aufrechterhalten und findet ihren stärksten Ausdruck in sexualisierter Gewalt. Diese hat nichts, absolut gar nichts mit sexuellem Begehren zu tun, sondern nur mit Macht, Kontrolle und Erniedrigung. Und sie ist deshalb möglich, weil wir in einer sozialen Wirklichkeit leben, die diese Art von Gewalt und Machtausübung immer noch zulässt. Gerade bei sexuellen Übergriffen handelt es sich nicht nur um Verbrechen einzelner Individuen, sondern um ein kulturelles Phänomen.

Denn wenn sich in Deutschland ein Opfer zur Wehr setzt und Anzeige erstattet, beginnt ein gna-
denloser Kampf gegen ein täterorientiertes System, das die Opfer nicht ausreichend schützt. Er beginnt bei den eigenen Gedanken, der Frage, die sich viele Opfer stellen: Hätte ich mich anders verhalten können? Hätte ich es verhindern können?

Es geht dann weiter, wenn Bekannte, Freunde von einer Anzeige abraten und darauf hinweisen, dass man ja irgendwie schon auch mit schuld ist. Und schließlich bei der Polizei, wo ihre Glaub-
würdigkeit in Frage gestellt wird. Zusätzlich wird ihnen von Seiten der Öffentlichkeit und den Medien eine Mitschuld an dem Verbrechen zugesprochen. Dann heißt es: „Wenn Du nicht belästigt werden willst, dann zieh’ Dir halt was anderes an, geh nicht allein nachts vor die Tür, wehr’ Dich halt."

Wir wollen das nicht mehr hören! Wir sind heute hier, weil wir diese Schuldzuweisungen nicht mehr hinnehmen. Wir haben es satt, für sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt, die uns angetan wird, verantwortlich gemacht zu werden! Wir haben es satt, in einem System zu leben, das sexuelle Gewalt verharmlost, legitimiert und den Betroffenen die Schuld gibt. Die Verantwortung liegt immer beim Täter, weder die Kleidung noch das Verhalten sind die Ursache!

Wir sind heute auf der Straße, um für Respekt und sexuelle Selbstbestimmung zu kämpfen! Wir fordern eine Gesetzesänderung, die eine Strafbarkeit sexueller Handlungen gegen den Willen des Opfers nicht mehr von zusätzlichen Nötigungsmitteln oder einer schutzlosen Lage abhängig macht. Die Verantwortung für die Strafbarkeit eines sexuellen Übergriffes darf nicht länger bei den Opfern liegen. Jede sexuelle Handlung ohne Einverständnis der Betroffenen muss strafbar sein. Es muss ausreichen, „Nein“ zu sagen!

In diesem Sinne: Lasst uns München zeigen, was wir von Vergewaltigungsmythen und falschen Schuldzuweisungen halten.

Es muss immer gelten:

however I dress – where ever I go
yes means yes – and no means no

Ich wünsche euch einen wunderschönen Slutwalk!


Überraschung

Jahr: 2015
Bereich: Frauen