Materialien 1955

Entschließung gegen die Wiederaufrüstung, für die Wiedervereinigung Deutschlands

Die Delegierten der 3. ordentlichen Landesbezirkskonferenz des DGB, Landesbezirk Bayern, befassten sich erneut mit der geplanten Wiederaufrüstung der Bundesrepublik. Sie begrüßen mit besonderer Genugtuung die Entschließung des 3. ordentlichen Bundeskongresses in Frankfurt am Main zur Wehrbeitragsfrage und wissen sich eins mit der Auffassung der übergroßen Mehrheit der 900.000 bayerischen Mitglieder, dass diese Frankfurter Entschließung nicht als platonische Er-
klärung gewertet werden darf. Sie fordern deshalb den Bundesvorstand und alle infrage kommen-
den gewerkschaftlichen Organe auf, alle legalen Mittel anzuwenden, um diese Frankfurter Resolu-
tion politisch wirksam zu machen. Die Delegierten begründen ihre ablehnende Haltung zu einem deutschen Wehrbeitrag wie folgt:

I.

Der völkerrechtliche Status Westdeutschlands wäre auch nach Ratifizierung der Pariser Verträge und der darin vorgesehenen deutschen Schein-Souveränität völlig ungeklärt. Echte Souveränität im Sinne des Völkerrechts kann für Deutschland so lange nicht wirksam werden, als die deutsche Einheit im Einverständnis aller beteiligten Mächte nicht wieder hergestellt ist. Ohne diese Voraus-
setzung unterliegen deutsche Soldaten im Kriegsfalle nach gültigem Kriegsrecht nicht der Haager Konvention und könnten als Partisanen behandelt werden.

II.

Angesichts der Lage Deutschlands, eingekeilt zwischen zwei sich feindlich gegenüberstehenden Weltmächten, muss eine Politik der Wiederaufrüstung die politische Spannung noch weiter verschärfen, die Teilung Deutschlands verewigen und zu einer unmittelbar drohenden Kriegs-
gefahr führen, umso mehr, als die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden durch die nunmehr eingetretene Machtverschiebung nicht in deutscher Hand liegt. Das tritt besonders krass in den strategischen Plänen der NATO in Erscheinung, laut denen die Atomwaffen einem künftigen Krieg das Gepräge geben. Unzählige Millionen Menschen würden grausam vernichtet und vor allem deutsches Gebiet in Schutt und Asche verwandelt werden. Um das durch den Krieg geschaffene deutsche Problem einer friedlichen Lösung entgegenführen zu können, ist aus den geschichtlichen Erfahrungen vernunftgemäß nicht eine Politik der Stärke, sondern die des friedlichen Ausgleiches zu suchen.

III.

Aus völkerrechtlichen und politischen Überlegungen lehnen die Delegierten eine Wiederaufrü-
stung der Bundesrepublik ab und sprechen sich auf das schärfste auch gegen jede Wiederbe-
waffnung der Ostzone aus. Die Bevölkerung der Ostzone wird aus eigener Erkenntnis ebenfalls alles in ihrer Macht stehende tun, um mit uns eine Wiederaufrüstung unseres gemeinsamen Vaterlandes zu verhindern. Die Delegierten der 3. ordentlichen Landesbezirkskonferenz halten sich zu dieser Auffassung um so mehr berechtigt, als die Motive, die zur Auslösung der Gescheh-
nisse des 17. Juni 1953 geführt haben, zu der Hoffnung Anlass geben, dass auch das deutsche Volk im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands trotz Diktatur und Unfreiheit von derselben Freiheits- und Friedensliebe getragen ist, wie der Teil des deutschen Volkes in Westdeutschland.

IV.

Die von den Besatzungsmächten, im Gegensatz zu ihrer früheren Haltung, angestrebte Wieder-
aufrüstung und ihre daraus resultierende Remilitarisierung der von ihnen beherrschten Teile Deutschlands ist eine unmittelbare Bedrohung für eine soziale, fortschrittliche demokratische Entwicklung Deutschlands. Die immer offener hervortretenden nationalistischen und militari-
stischen Kräfte geben, verbunden mit der seit 1945 erfolgten Restaurierung sattsam bekannter Wirtschaftskreise, zu den schlimmsten Befürchtungen Anlass.

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Die Folgen des vergangenen Krieges lasten noch immer schwer auf den Schultern der arbeitenden Menschen, vor allem aber auf den unmittelbar Kriegsgeschädigten, den Heimatvertriebenen und den Sozialrentnern. Ihr Lebensstandard entspricht in keiner Weise den berechtigten Ansprüchen und Möglichkeiten. Die wiederholten Hinweise darauf, dass ein deutscher Wehrbeitrag den Le-
bensstandart nicht beschränken würde, sind unglaubwürdig. Noch kein verantwortlicher Politiker, der die westdeutsche Wiederaufrüstung befürwortet, hat bisher den Mut besessen, dem deutschen Volke die ungeheuren Gesamtkosten der Wiederaufrüstung bekannt zugeben. Was durch sie an militärischer Aufrüstung gewonnen wird, geht der notwendigeren sozialen Aufrüstung in der Bundesrepublik verloren und öffnet durch den entstehenden Fatalismus der Infiltration bolsche-
wistischer Ideen Tür und Tor.

Angesichts der großen Gefahr, in der sich nicht nur Deutschland allein, sondern die Welt befindet, fordern die Delegierten der 3. ordentlichen Landesbezirkskonferenz vom Bundesvorstand des
DGB energisch, in letzter Stunde noch alle legalen Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind,
die Durchführung der Aufrüstung zu verhindern. Sie halten folgende Maßnahmen für dringend erforderlich:

1. Eine breitangelegte Aufklärungswelle in Wort, Schrift und Bild, die in Versammlungen, Kund-
gebungen, Wanderausstellungen und Fahrzeugkorsos nicht nur die Gewerkschaftsmitglieder, sondern auch die Öffentlichkeit über die Hintergründe und möglichen Folgen einer deutschen Wiederaufrüstung informiert. Das verhängnisvolle Schicksal der Jugend im Falle einer Wehrpflicht muss bei dieser Aufklärung an erster Stelle aufgezeigt werden. Deshalb sind die gewerkschaftlichen Jugendgruppen für diese Aufgabe unverzüglich zu aktivieren.

2. Weiter muss die gesamte Gewerkschaftspresse der Aufklärungsarbeit in größtmöglichem Umfange zur Verfügung gestellt werden. Um auch an das Weltgewissen appellieren zu können, sind in einer Sonderbroschüre alle Folgewirkungen eines möglichen deutschen Wehrbeitrages eingehend darzustellen. Der Bundesvorstand wird aufgefordert, die notwendigen Geldmittel hierfür zur Verfügung zu stellen.

3. Durchführung einer geheimen Abstimmung innerhalb der Mitgliedschaft der Gewerkschaften, um dieser die Möglichkeit zu geben, ihre Meinung zur Wiederaufrüstung eindeutig zu dokumen-
tieren.

4. Der Bundesvorstand wird aufgefordert, in Verbindung mit demokratischen Organisationen gleicher Zielsetzung unter Ausschluss aller kommunistischen Organisationen und Tarnorgani-
sationen dem deutschen Volke die Möglichkeit zu erschließen, seinen Willen für oder gegen die Aufrüstung zum Ausdruck zu bringen. Dem so festgestellten Willen des deut-
schen Volkes entsprechend, sind Petitionen an alle gesetzgebenden Körperschatten einzureichen.

5. Herbeiführen von Volksbegehren und Volksentscheiden in jenen Ländern der Bundesrepublik, in denen diese verfassungsrechtlich möglich sind.

6. Baldige Durchführung einer Sonderkonferenz von Delegierten der Gewerkschaften und der Bundesorgane in Bonn als einer Willenskundgebung gegen den deutschen Wehrbeitrag.

7. Kampf gegen die Veränderung jener Artikel des Grundgesetzes, die die Gewissensentscheidung des Einzelnen garantieren, den Dienst mit der Waffe zu verweigern, denn nur auf diesem Wege
ist vor allem den noch nicht wahlberechtigten Jugendlichen eine Dokumentation ihres Willens möglich. Dem Bundesvorstand wird dringend anheim gestellt, sofort ein Gremium von sachver-
ständigen Juristen zu berufen, dessen Aufgabe es sein soll, alle rechtlichen Möglichkeiten klar-
zustellen, die die Freiheit der Gewissensentscheidung verfassungsrechtlich garantieren.

8. Die Industriegewerkschaften und Gewerkschaften werden von ihren in dieser Landesbezirks-
konferenz vertretenen Delegierten aufgefordert, über ihre Organe zu bewirken, dass ihren Mit-
gliedern im Falle der Wehrdienstverweigerung Rechtsschutz zu gewähren ist.

9. Der DGB und seine angeschlossenen Gewerkschaften und Industriegewerkschaften verpflichten sich, unter den gegebenen Umständen die Mitarbeit an einem Wehrgesetz oder irgendwelcher der Wiederaufrüstung dienender Gesetze abzulehnen.

Die Vorbereitung der Wiederaufrüstung in Ost- und Westdeutschland ist in ein entscheidendes Stadium getreten. Die geforderten Maßnahmen müssen ohne Verzug in Angriff genommen werden.

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Die Delegierten sind sich über die Tragweite der in dieser Entschließung geforderten Maßnahmen im klaren. Sie erklären deshalb ausdrücklich, dass sie sich bei den Mitgliedern der Organe der Gewerkschaften und des Bundes, von welchen sie delegiert sind, mit Nachdruck dafür einsetzen werden, dass dem Landesbezirksvorstand aus der breiten Mitgliedschaft der Gewerkschaftsbe-
wegung alle Unterstützung zuteil wird, die den Landesbezirksvorstand in die Lage versetzt, diese Entschließung politisch wirksam werden zu lassen.

Die Delegierten der 3. ordentlichen Landesbezirkskonferenz wissen sich einig mit den Aufrufen vieler katholischer und evangelischer Geistlicher und den prophetischen Worten des Papstes Pius XI. vom September 1938:

„Die Aufrüstungspolitik kann den Krieg nicht verhindern und ist selbst gefährlich, denn der Rüstungswettlauf verschärft die kriegerischen Möglichkeiten und bereitet die Seelen darauf vor.“

In Würdigung dieser Worte fordern sie daher alle friedliebenden Menschen auf, sich ihrem Kampf gegen die Wiederaufrüstung, für die Wiedervereinigung Deutschlands, für Frieden, Freiheit und Völkerversöhnung anzuschließen.

Zusatz-Entschließung I

Der Vorstand des Landesbezirks Bayern des DGB wird aufgefordert, umgehend das in der Entschließung zur Wiederbewaffnung erwähnte Volksbegehren in Bayern einzuleiten.

Begründung:
1. Es ist nicht zu erwarten, dass der DGB-Vorstand unsere Beschlüsse sehr ernst nehmen wird (siehe Frankfurter Beschlüsse).
2. Der Termin der 2./3. Lesung der Pariser Verträge drängt.
3. Die Mitglieder erwarten von uns keine großen Töne, sondern sofortige Taten.

Zusatz-Entschließung II

Die Delegierten der 3. ordentlichen Landesbezirkskonferenz des DGB in Bayern beauftragen den Landesbezirksvorstand, über den Bundesvorstand die zur Frage des deutschen Wehrbeitrages angenommene Hauptentschließung dem Bundespräsidenten, der Bundesregierung und sämtlichen Abgeordneten des Deutschen Bundestages im Originalwortlaut zuzuleiten. Der Übersendung ist ein Schreiben beizufügen, in dem die Aufforderung an die Empfänger ausgesprochen wird, die Pariser Verträge nicht zu ratifizieren, sondern alle Verhandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen,
um eine friedliche Verständigung der Völker in West und Ost herbeizuführen.

Der Landesbezirksvorstand wird unmittelbar aufgefordert, mit einem sinngemäß gleichen Schreiben diese Resolution an sämtliche Mitglieder der Bayerischen Staatsregierung und an
alle Abgeordneten des Bayerischen Landtages zu leiten mit dem Ersuchen, den Pariser Verträgen im Bundesrat die Zustimmung zu versagen.

München, 15. Januar 1955


Sozialistische Politik 1 vom Januar 1955, 1 f.