Materialien 1954
Gewerkschaftsjugend zum Handeln entschlossen
Spät, aber immerhin überhaupt wandte sich die Bundesjugendkonferenz des DGB mit ihrer Entschließung gegen jeden Wehrbeitrag im Westen und im Osten Deutschlands. Wenn auch in abgeschwächter Form hat auch der Bundeskongress des DGB diese Entschließung übernommen und damit die zentrale Aufgabe der deutschen Arbeiterklasse, den Kampf gegen die Remi-
litarisierung, zu einem verpflichtenden Bestandteil des gewerkschaftlichen Kampfes gemacht.
Aber – belügen wir uns nicht selbst! Es war in der deutschen Arbeiterbewegung schon immer ein gern geübter Brauch, den Unwillen, das Missbehagen und die hochgespannten Erwartungen der Arbeiterschaft in geharnischte Entschließungen zu fassen. Allerdings nicht, um diese Energien in Taten umzusetzen, sondern um auf diese Weise ein Ventil zu schaffen für den „gefährlichen“ Druck von unten! Wir brauchen wohl nicht im einzelnen auf die Situation von vor 1933 einzugehen?
Es scheint uns symptomatisch zu sein, dass es sich der Vorsitzende des DGB leisten kann, den Bundeskongress einfach zu ignorieren, indem er nachher öffentlich erklärt: „… ich persönlich bin der Auffassung, dass wir als Gewerkschaften einiges andere zu tun haben, als uns um den Wehrbeitrag zu kümmern.“
Aber die Jugend, die kein Vertrauen mehr in ein Blatt Papier setzen will, die Jugend, die die Gefahr erkannt hat, ist entschlossen zu handeln. Sie fordert nicht nur rasches Handeln, sie handelt selbst.
Die Münchner Gewerkschaftsjugend hat am 20. November 1954 eine erste Aktion gestartet. An diesem Samstagnachmittag rollte eine Kolonne von Radfahrern, Lastkraftwagen und Lautspre-
cherwagen durch die Stadt. Plakate auf den Rücken der Radfahrer, riesige Transparente auf den Wägen, eine sorgfältig ausgearbeitete Durchsage aus dem Lautsprecherwagen: Die Gewerkschafts-
jugend demonstrierte – zum ersten Mal – in der Öffentlichkeit gegen die Remilitarisierung!
Flugblätter forderten die Jugend Münchens zur Diskussion über die Wiederbewaffnung auf.
Zur gleichen Zeit führte auch die Gewerkschaftsjugend in Augsburg eine solche Aktion durch. Eine Woche später folgte die Jugend in Nürnberg.
Die Aktion kann als erfolgreich bezeichnet werden, da sich Presse, Wochenschau und Fernsehen ohne besondere Einladung dafür interessierten und da tatsächlich ein beträchtliches Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt wurde.
Zu der zwei Tage später durchgeführten Diskussion hatten sich eine Menge Jugendlicher eingefun-
den, die alle leidenschaftlich gegen die Wiederbewaffnung sprachen und wirksame Maßnahmen zu deren Verhinderung forderten. Es fiel allerdings auf, dass fast alle Argumente aus dem Gefühl kamen und nur wenige sachliche Begründungen für die Ablehnung der Wiederbewaffnung gegeben wurden. Es ist unsere Aufgabe und unsere Pflicht, diesen Jungen die sachlichen, politischen Argu-
mente für die Diskussion mit unseren Gegnern an die Hand zu geben.
„Erfolgreiche Aktion – Aufsehen in der Öffentlichkeit“ sagten wir oben. Wichtiger noch ist aber das Aufsehen innerhalb der Gewerkschaften selbst! Diese Aktionen können vom Bundesvorstand des DGB und von den Vorständen der einzelnen Gewerkschaften nicht übersehen werden. Sie sind geeignet, die gewerkschaftlichen Organisationen aus ihrer politischen Untätigkeit zu wecken und deren Führungsorgane zum Handeln zu zwingen.
Die Gewerkschaftsjugend hat genug von Beschlüssen, die zwischen Aktendeckeln vermodern. Sie verlangt die Verwirklichung der gesteckten Ziele, auch wenn Walter Freitag sich persönlich nicht um den Wehrbeitrag kümmern möchte. Die Gewerkschaftsjugend hat erkannt, dass die Remilita-
risierung einen ungeheuren Rückschlag für die deutsche Arbeiterbewegung bedeuten wird und sie ist fest entschlossen, dieses Mal nicht kampflos zu weichen!
Martius
Sozialistische Politik 4 vom 15. Dezember 1954, 7.