Flusslandschaft 1985

Armut

„… Tendenziell verdrängt aus dem engeren Stadtbereich werden aber diejenigen sozialen Gruppen, die nur peripher oder überhaupt nicht am Boom partizipieren, die ‘in den Windschatten der öko-
nomischen Modernisierung’ (Helmut Dubiel, MERKUR, Nr. 438,’85) geraten sind. Die Arbeitslo-
sen sind hier an erster Stelle zu nennen.

● Offiziell als arbeitslos registriert sind derzeit konstant um die 60.000 Münchener, von denen gut die Hälfte Frauen sind. Über 40% der registrierten Arbeitslosen beziehen weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe.

● Seit 1979 hat die Zahl der Obdachlosen um 50% auf derzeit 9.000 zugenommen.

● 30.000 Bürger im ‘Munich Vallev’ beziehen Sozialhilfe, fast doppelt so viele wie 1979. Anteil-
mäßig kommen dabei fast zwei Drittel der Sozialhilfeempfänger aus der Gruppe im erwerbsfähigen Alter zwischen 18 und 65 Jahren. Bei fast 20% von ihnen wird Arbeitslosigkeit als Hauptursache der Notlage von den Mitarbeitern des Sozialamtes angesehen.

Aber was soll diese Aufregung, können wir dem CSU-Programm zur letzten (verlorenen) Kommu-
nalwahl entnehmen. München ist halt eine ‘Weltstadt, in der jeder nach seiner Fasson selig werden kann’.

Was in anderen Kommunen in z.T. sehr detaillierten Statistiken über ‘Neue Armut’ vorliegt, ist in München ein Tabu. ‘Es gilt als Nestbeschmutzung, in öffentlichen Situationen über Münchener Bettler, Lebensverhältnisse in Notunterkünften oder über Sozialhilfeempfänger, über Ursachen und Folgen dieser Phänomene zu sprechen.’ (Becker/Mohn/Schmals).

Die Kronawitter-SPD versucht zwar, mit einem ‘Arbeitsbeschaffungsprogramm’ und einem ‘Frei-
zeitpass’(!) für arbeitslose Jugendliche etwas kleinlaut ein Wahlversprechen zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit einzulösen, aber so richtig ernst hat diese, vom linken Parteiflügel ausgetüftelte Politik gegen Arbeitslosigkeit, auch nie jemand genommen.

Nur die Grünen/Alternative Liste München machen sich im Stadtrat zum Sprecher des ‘anderen München’, aber die wiederum werden in der herrschenden Kommunalpolitik allenfalls bei der Formulierung eines Radwegeprogrammes als Gesprächspartner akzeptiert.

Mit einer ‘Politik gegen die Armut’, wie sie in anderen Großstädten programmatisch gefordert wird, ist in München kein Radi zu gewinnen – noch nicht?!

Der Großraum München wird gegenwärtig von Industrialisierungs- und Modernisierungsschub regelrecht umgekrempelt. Wie brutal diese Anpassung einer eher traditionell geprägten Region an den ‘Weltmarktstandard’ sein muss, wird spiegelbildlich durch die große Welle an folkloristischer und altbayerischer Renaissance spürbar. In der technologischen und konsumistischen Strömung, die München erfasst hat, sollen Wertbojen wie Familie, Traditionsgeist, Heimat den Ertrinkenden einen Halt bieten. Die CSU und vor allem Franz Josef Strauß schaffen es noch grandios, diese Symbiose von Moderne und Geschichte, von Mikrochips und Weißwürst in eine hegemoniale Politik zu gießen. ‘Tief verwurzelt in der Vergangenheit, selbstbewusst in die Zukunft, vertrau-
ensvoll nach oben’, hat Strauß während der Geburtstagsfeierlichkeiten immer wieder als sein Lebensmotto ausgegeben. Und was für ihn gilt, gilt auch für die CSU.

Wenn dieser ebenso konservativen wie hinterfotzig-opportunistischen Politik überhaupt eine Ge-
fahr droht, dann weder von der SPD oder den Grünen und erst recht nicht von rechten Grantlern, die sich von Zeit zu Zeit immer wieder von der CSU lossagen. Wirkliche Gefahr droht dem erfolg-
reichen Projekt der CSU nur aus sich selbst heraus. Vordergründig durch eine in unendlich viele Einzelklientel aufgespaltene CSU, die heute noch durch die Politik der Institution Strauß notfalls polternd in Schach gehalten wird …

Viel grundsätzlicher muss … die Frage gestellt werden, wie ein radikal auf gesellschaftliche Moder-
nisierung drängender Politiktypus, wie ihn die CSU (und mit a bisserl mehr Skrupeln auch die SPD) in Bayern repräsentieren, auf längere Sicht mit den Modernisierungsopfern fertig werden will. Reicht es aus, Arbeitslose nur in eine Lederhose zu stecken, um ihnen damit den Verlust der Arbeit zu entschädigen? Kann die in einem sehr umfassenden Sinne heimatzerstörende Industria-
lisierungspolitik der CSU die Mehrheit der traditions- und natursensiblen Bayern auf Dauer aktiv an sich binden? Wenn aber das Institutionsgefüge Bayerns und auch Münchens in absehbarer Zeit stabil und unbeweglich bleibt – wo sind dann die Felder für eine andere Politik jenseits von Boomeuphorie und Folklorepathos?“1


1 Carl-Wilhelm Macke, Weltstadt mit Megahertz, in: links. Sozialistische Zeitung 190 vom Januar 1986, 9. Vgl. dazu auch: Ingrid Breckner/Erich Mohn/Klaus M. Schmals, Stadtentwicklungspolitik, neue Technologien und Wandel der Arbeit in München, in: Michael Krummacher/Thomas Rommelspacher/Marianne Wienemann (AG Ruhrgebiet) Ingrid Breckner/ Erich Mohn/Klaus M. Schmals (AG München) (Hg.), Regionalentwicklung zwischen Technologieboom und Resteverwer-
tung: die Beispiele Ruhrgebiet und München, Bochum 1985, 115 ff.

Überraschung

Jahr: 1985
Bereich: Armut