Materialien 1986

Münchener Image

Zum Verhältnis von ökonomischem und kulturellem Raum

München stellt sich bei Umfragen in der bundesdeutschen Bevölkerung immer wieder als die Stadt heraus, in der das Leben am lebenswertesten erscheint. Dass solchen Meinungsumfragen keine rational nachvollziehbaren Entscheidungsprozesse zugrunde liegen, ist bekannt: Freizeit-
wert, Kultur, Berge, die Stadt … Doch die unreflektierte Aufzählung der Wertbestandteile ver-
sperrt eher den Weg zur Entzifferung. Wir müssen die funktionale Verknüpfung des Raumbildes mit der materiellen Raumbildung begreifen, um „den Süden“ soziologisch zu verorten.

Zunächst wäre die wieder entstehende Rüstungsindustrie in München, Reparaturgelände für Fiat-
Düsenjäger und die elektronische Industrie kein besonders attraktives Aushängeschild. Doch unter dem schützenden Mantel eines „besseren Lebens“ konnte sich der Nimbus der „neuen“ Industrie entwickeln. Die im fordistischen System (Periode des Kapitalismus, die sich nach dem ersten Welt-
krieg entfaltete) angelegte Freizeitorientierung fand in Oberbayern ein reichhaltiges Angebot. Der kurze Weg zu den Bergen, die winterliche Spritztour zum Spitzingsee, Segeln und Wandern, die Nähe zu Italien, Biergärten, Oper und Oktoberfest ließen die Elemente eines Münchner Lebensstils entstehen. Die praktizierte Landnutzung ließ ein Raumbild entstehen, das der Neoindustrialisie-
rung entspricht. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die Aspekte und Thesen, die unmittelbar einen Bezug zwischen der Neoindustrialisierung und der Raumbildproduktion herstellen.

Flexibilisierung der Produktion

Neoindustrialisierung bezieht sich auf die Arbeitsstruktur, die Arbeitstechnik, die Art der Produkte und die Beziehung zwischen Produktion und Markt. Die im einzelnen sehr unterschiedlichen For-
men einer neuen Industrie scheinen mir am ehesten aus der Sicht des Konzeptes der Flexibilisie-
rung begreifbar zu sein. Flexibler wird zunächst das Verhältnis von Produktion und Markt. Inner-
halb der fordistischen Produktion war schon eine immense Diversifizierung eingetreten. Die Be-
schleunigung der Kommunikation zwischen Nachfrage und Produktion durch elektronische Infor-
mationsverarbeitung sowie die erhöhte Variabilität in der Steuerung der Produktion scheinen je-
doch eine weitere Stufe des Industrialisierungsprozesses zu signalisieren. Flexibilitätsanforderun-
gen werden an die Arbeitskraft weitergegeben: zum einen in Form einer breiteren und professio-
nelleren Qualifikation, zum anderen durch eine Flexibilisierung der Arbeitszeit, bis hin zu ersten Versuchen, die Fünf-Tage-Standard-Arbeitswoche aufzuweichen. Flexibilisierung der Produktion heißt auch Auslagerung von Produktionsteilen in kleinere selbständige Unternehmungen, die wegen ihrer geringen Größe noch beweglicher sind.

Wir stellen die These auf, dass mit den neuen Umstellungen der industriellen Produktion und
den damit verbundenen Typen neuer Dienstleistungen, die sich mit Forschung und Entwicklung beschäftigen, eine neue Klassenfraktion, „die Professionellen“, entsteht. Die Professionellen verbindet ein weitgehend innengeleitetes, normenorientiertes Verhältnis zur Arbeit mit höherer Zeitautonomie und einem lustbetonten Lebensentwurf. Auch wenn die soziale Wirklichkeit da anders aussehen mag, so ist es diese neue Klasse, die virtuell Raumträger des Raumbildes des Südens ist.

Verzauberung und Hyperrealität

Ich habe an anderer Stelle zwei Thesen entwickelt, die die sozialpsychologische Funktion des Raumbildes „Süd“ für die Existenz der Professionellen und der vielen, die sich daran orientieren (ohne es zu sein) formulieren. Die erste These besagt, dass der Raum Verzauberungen ermöglicht, um die Entzauberung der beruflichen Existenz zu kompensieren. Im Professionellen vollendet sich die allgemeine Durchsetzung instrumenteller Rationalität. Sinnfragen müssen verdrängt werden, um die beruflich geforderten rationalen Handlungsabläufe nicht zu destabilisieren. Die derart hervorgerufene psychische Belastung sucht die Verzauberung des Ortes und der Situation. Die zweite These bezieht sich auf die Frage, wie stabil die Verzauberung in und durch Räume sein kann, die ja durch moderne Produktions- und Reproduktionsformen geprägt (und entsprechend vernutzt) sind. Ich habe als Antwort eine Beobachtung von Umberto Eco aufgegriffen. Es entstehe eine Welt der Hyperrealität, in der sich die Frage nach der Echtheit und Authentizität nicht mehr stellt. Die Welt ist als eine realistische Fiktion begriffen.

Warum aber kann in Bayern oder Südbaden, in Grenoble und in Nizza, in Südengland und in Kalifornien ein solches Raumbild entstehen, aber nicht oder doch viel schwerer im Ruhrgebiet oder in Nordhessen? Sowohl die Verzauberung als auch die Hyperrealität bedarf, um bildhaft zu werden, eines Ankers in der Realität. Ich möchte mich vor geografisch-räumlichen Verallgemei-
nerungen hüten, doch für den süddeutschen Raum, vor allem für Bayern fällt auf, dass sich über viele Jahrzehnte hinweg diese Räume langsamer entwickelt haben, dass sich zahlreiche traditio-
nelle Lebensformen, auch Landschafts- und Architekturformen, halten konnten.

Die Lebenswelt ist nicht in gleichem Maße durch Ökonomie und Staat kolonisiert, wie dies in den altindustriellen Regionen und den Räumen, die sozialdemokratischer Modernisierungspolitik unterworfen waren, der Fall ist. Die Ungleichzeitigkeit moderner und promoderner Elemente wird im Rahmen der Raumbildungsdiskussion zur notwendigen Ungleichzeitigkeit, sie ermöglicht Ver-
zauberung und Hyperrealität.

Wo dies nicht gilt, wie z.B. im proletarischen, landschaftlich-hässlichen und umweltbelasteten Münchner Norden, da wurde schon früh versucht, durch auffallende Architekturzeichen (z.B. BMW-Hochhaus) Substitute zu schaffen.

Wenn es stimmt, dass sich der gesellschaftliche Modernisierungsprozess in diesen Jahren neu formiert, dass Fordismus nicht mehr Leitbild der Industrialisierung ist, dann heißt dies auch, dass die Räume, die mit diesem vergangenen Leitbild assoziiert werden, in die Krise geraten (ähnliches und indirekt auf Räume bezogen ließe sich auch über Parteien sagen). In diesen Räumen finden sich die Belastungen und Widersprüche der letzten Modernisierungsstufe am deutlichsten, und nur Teile lassen sich über hohe Schornsteine globalisieren: Hier kann der Blick für die Probleme von Modernisierungs- und Verwertungsproblemen geschärft werden, die Gläubigkeit einer neuen Utopie kann sich hier nur schwer entwickeln.

Um jedoch die Modernisierung auf neuer Stufe fortzusetzen, um die Metamoderne zu entwickeln, bedarf es utopischer Energie und ideologischer Verschleierung. Die Krise der Moderne darf auf die neuen Entwicklungsimpulse nicht abfärben. Raumverschiebung ist dafür ein simples, wenn auch teures Mittel.

Detlef Ipsen


Informationen zur Raumentwicklung, Bonn, 11/12, 1986.