Flusslandschaft 1971

Zensur

Der Südwestfunk produziert für die ARD das Jugendmagazin „Zoom“. Das Bayerische Fernsehen schaltet sich im Februar aus.1

„Auf das Ersuchen der Redaktion um ein Interview zur derzeitigen Situation am Bayrischen Rundfunk antwortete der Präsident der Hochschule für Film und Fernsehen, Dr. Clemens Müns-
ter, mit Datum vom 22.4.71 u.a.: ‚Sie werden verstehen, daß ich mich in meiner jetzigen Lage einer gewissen Diskretion befleißigen muß. Daraus folgt, daß ich das, was Sie vor allem interessieren und was ich gerne sagen würde, nicht sagen kann und daß alles, was ich schließlich sagen könnte, für Sie in sich uninteressant wäre. Aber ich nehme an, es gibt in München genug zuverlässige Leute, die Sie über das unterrichten können, was Sie wissen wollen. Ich bedauere sehr, daß ich Ihnen nicht helfen kann, und bitte um Ihr Verständnis. Mit freundlichen Grüßen Ihr Dr. Clemens Müns-
ter‘“2

Die 1969 gegründete, genossenschaftliche Künstlergruppe zehn neun regt beim Kulturreferat der LHS München eine freie Produzentenmesse, einen internationalen Kunstmarkt mit Aktionen, Musik und Theater, an. Die Kunstzone, die vom 7. bis 12. September auf dem Jakobsplatz stattfin-
det, wird vom Jugendkulturwerk mit organisiert.3 Am Mittag des 7. September spielt Checkpoint Charly, am Abend die Wolfgang Dauner-Gruppe. Die Szene feiert, aber es schnüffeln auch Bürger herum, aufgeschreckt vom Neuen, Unerhörten. Am 8. September stürmt die Polizei eines der Aus-
stellungszelte und beschlagnahmt „St. Benisl – die Reduktion der Sexualität auf zwei bis drei Hauptmerkmale“, eine kleine Phallusfigur von Jockel Heenes, die auf einem altarähnlichen Gebil-
de steht. Das Konzert der Checkpoint Charly („Grüß Gott mit hellem Klang“) wird am 9. Septem-
ber von der Staatsmacht gestürmt. Begründung sind nicht die Inhalte der Lieder, sondern die „übermäßige Lärmentwicklung“. Schließlich droht die Polizei, den „Jahrmarkt der Sauereien“, so die CSU, zu schließen, falls Hermann Nitsch sein „Abreaktions-Spiel“ realisiere, da die Kunstzone, so das Amt öffentlicher Ordnung, „eine akute Gefahr für den geordneten Bestand eines friedlichen Gemeinschaftslebens, eine gröbliche Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls der Zuschau-
er, eine nachhaltige Störung des öffentlichen Friedens, insbesondere des friedlichen Zusammenle-
bens von Menschen verschiedener Glaubensüberzeugungen und eine rohe und verletzende Be-
schimpfung christlicher Glaubensanschauungen und kirchlicher Gebräuche darstelle.“4 Als Ant-
wort auf die Zensurmaßnahmen und Schikanen solidarisieren sich Beteiligte und Publikum. Einige Schausteller schließen ihre Stände, einige bleiben und veranstalten Polittheater. Heenes wird zu einer Geldstrafe verurteilt.

(zuletzt geändert am 16.4.2025)


1 Vgl. Was ist mit unserem Rundfunk los? Bayerische Initiative Rundfunkfreiheit, München 1976, 45; siehe auch „Medien“.

2 kürbiskern. Literatur und Kritik 3/71, München, 430. Siehe auch „Zensurfibel des Bayrischen Rundfunks“.

3 Vgl. Manfred Wegner/Ingrid Scherf, Wem gehört die Stadt? Manifestationen neuer sozialer bewegungen im München der 1970er Jahre, München 2013, 18 ff.

4 Zit in: Peter Schult/Ralph Schwandes/Herbert Straub/H.-Rainer Strecker/Ursula Wolf, Stadtbuch für München 76/77, München 1976, 17.