Materialien 1990

Ein einziger Trümmerhaufen

Betr.: links Nr. 241

In der letzten Ausgabe der links wurden Auszüge aus einem Vortrag abgedruckt, den Oskar Negt auf dem Kongress „Sozialismus ohne Zukunft – Zukunft ohne Sozialismus?“ am 30. März in München gehalten hat. Der angekündigte Kongress war in der links indessen nicht aufzufinden. Die Veranstaltung erscheint mir jedoch wichtig und interessant genug, um sie nicht einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Daher nachfolgend einige Eindrücke und Informationen im Nachhinein:

Manchmal ist es nicht nur interessant zu wissen, wer was über den Sozialismus im Allgemeinen und Besonderen sagt, sondern auch, wo dies geschieht. Gleichzeitig zu der Eröffnungsveranstal-
tung der vom DGB-Bayern und dem Bayerischen Volkshochschulverband im Münchener Kultur-
palazzo Gasteig organisierten Tagung „Sozialismus ohne Zukunft – Zukunft ohne Sozialismus“ las in einem anderen, kleineren Saal Mircea Dinescu seine Gedichte gegen das rumänische Ceausescu-Regime, das von allen der jetzt gestürzten stalinistischen Systeme wohl die größten „Verdienste“ für die politische und moralische Korrumpierung des Begriffs „Sozialismus“ besitzt.

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Osteuropa fällt es immer schwerer, zu benennen, was denn nun eine zum „Kapitalismus verschiedene Gesellschaftsordnung“ (Oskar Negt) sein könnte. Auch die Tagung in München konnte da natürlich keine Antworten präsentieren. Aber immerhin war es insbesondere das Verdienst von Negt, dass niemand während der beiden Tage den Begriff und die Ideale des Sozialismus einfach in den Müllcontainer werfen konnte. „Es wäre fatal“, so Negt, „sich auf das von allen Seiten geforderte Ritual des Abschwörens einzulassen.“ Allerdings heißt das nicht, trotzig auf nicht mehr haltbaren Positionen zu beharren. „Wenn aus dem zu-
sammengebrochenen Stalinismus die sozialistische Utopie sich wieder lebendig zu regen vermag, ohne dass fortwährend begründet werden muss, warum der real existierende Sozialismus ein normales Herrschaftssystem, aber kein Sozialismus sei, so ist diese überfällige Befreiung von einem tödlichen Legitimationsdruck freilich nur durch ein völlig verändertes Verhältnis der Sozialisten zu ihrer eigenen Geschichte glaubwürdig zu machen. Alle Sicherheiten, die aus vor-
geblichen Gesetzen zu gewinnen wären, sind trügerisch. Wenn aber“, so Negt weiter, „die vom Stalinismus befreite Utopie ihre Kraft in den Emanzipationsbewegungen der Menschen eigen-
sinnig entfalten soll, muss alles neu durchdacht werden.“

Sieht man einmal von den fast schon naiven Glorifizierungen kapitalistischer Marktgesellschaften durch den seit Jahren in Frankfurt lebenden Exil-Tschechen Jiri Kosta ab („Die Monopolkom-
mission wird schon die Auswüchse des Kapitalismus in Grenzen halten“), haben alle anderen Referenten sehr viele Vorbehalte gegen eine bloße Ablösung des total heruntergekommenen Staatssozialismus durch den Kapitalismus westlichen Typs geäußert. Erhart Neubert, einer der Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs“ in der DDR, von dem er sich aber inzwischen losgesagt hat, plädiert sogar sehr deutlich für eine vertiefte neue Kapitalismuskritik auch in der DDR. Für ihn stellt die DDR nur eine, allerdings besonders sektiererische, Variante eines Indu-
strialisierungsmodells dar, das weder die sozialen noch die ökologischen Probleme der Gegenwart zu lösen vermag. Derzeit, das gestand Neubert jedoch ein, würde man damit in der DDR wohl auf taube Ohren stoßen, weil jede Kritik am Kapitalismus sofort mit der verhassten SED in Verbindung gebracht wird. Und was die oder deren Nachfolger ablehnen, so folgern viele, kann nicht schlecht sein. Aber spätestens nach der Entzauberung durch den ersten kräftigen Kapitalisierungsschub wird man auch in der DDR wieder etwas weniger emotionalisiert über den Sozialismus sprechen können.

Ähnlich argumentierte auch Svetozar Stojanović, einer der ehemals wichtigsten Repräsentanten der unorthodoxen Marxisten um die „Praxis“-Gruppe und heutiger intellektueller Berater der neu gegründeten sozialdemokratischen Partei in Jugoslawien. Auch er will seine radikale Kritik am „etatistischen Sozialismus“ jedoch nicht in eine blinde Begrüßung schrankenloser Marktwirtschaft münden lassen. Für ihn wie für Engelbrecht Richter von der SPD/DDR und Johano Strasser (SPD/
BRD) bietet allein der demokratische Sozialismus „mit zivilem Antlitz“ (Stojanović) im Osten wie im Westen eine Antwort auf den gescheiterten Sozialismus wie auf die radikalen sozialen und ökologischen Herausforderungen des „kapitalistischen Industrialismus“ (Strasser). Gerd Poppe von der „Initiative Frieden und Menschenrechte in der DDR“ beharrte dagegen auf der Kraft der parteiunabhängigen Bewegungen, die schließlich im gesamten ost-mitteleuropäischen Raum die stalinistischen Verhältnisse zum Tanzen gebracht hätten. Die Erinnerung an diesen „gewaltfreien Befreiungskampf auf der Straße“ darf weder in der heutigen DDR noch im zukünftigen Deutsch-
land verloren gehen. Negt ließ sich auf diese realpolitische Diskussion nicht ein, sondern kam immer wieder zurück auf seinen Versuch einer radikalen Neubestimmung des Sozialismus-Begriffs auf den „Trümmern der Vergangenheit“. Und zu diesen „Trümmern“ gehört für ihn nicht nur der Stalinismus, sondern auch der mit nichts vergleichbare „Zivilisationsbruch Auschwitz“ (Dan Diner).

Jenseits dieses für Deutsche kategorischen Imperativs, dass es Auschwitz niemals wieder geben dürfe, ist für Negt eine Diskussion über die Zukunft von Demokratie und Sozialismus in Deutsch-
land nicht möglich. „Nur so kann verhindert werden, dass in einem wieder vereinigten Deutsch-
land massive Prozesse der Ausgrenzung des Fremden, der Nichtdeutschen, der Asylsuchenden stattfinden.“ Wir stehen heute, so könnte ein optimistisches Resümee der Tagung gezogen werden, nicht am Ende, sondern am Beginn einer von den stalinistischen Fesseln befreiten Diskussion über die Inhalte eines neuen Sozialismus.

Dazu gehört aber auch die Infragestellung des traditionellen patriarchalischen Sozialismus von Seiten des Feminismus. Dass es dazu auf dieser Tagung nicht kam, ist auch dem wahrlich gran-
diosen Kunststück der Veranstalter zu verdanken, in der Referentenliste nicht eine einzige Frau zu berücksichtigen. Die Ausrede auf hartnäckige Fragen aus dem Publikum, man habe trotz intensiver Bemühungen keine „kompetente Frau“ für das Podium gefunden, spricht für sich. Dieser männ-
liche Sozialismus der windigen Ausreden oder des schlechten Gewissens, hat mit Sicherheit keine Zukunft.

Carl-Wilhelm Macke


links. Sozialistische Zeitung 242 vom Juni 1990, 4.