Materialien 2004

Tägliche Körperverletzungen, juristisch nicht relevant

Bally Prells »Du schöne Münchner Stadt« verschwindet. Dafür entsteht eine neue. Die Stadt wird zielstrebig durchdrungen von einem dichten, vielstimmigen Chor derer, die ein Verkaufsanliegen treibt. Das Marktgeschrei dringt noch in den letzten unberührten Winkel und verdrängt Lebensart, Nachdenklichkeit, Stille.

Wer heute durch die Stadt geht, erlebt zunehmend Apathie und Gefühlskälte, sieht bedrückt eine eigentlich eiskalte, glatte Stadt, die – zunächst nicht offen sichtbar – zugleich einem grundsätz-
lichen Reglement in einem Klima latenter Gewalt unterworfen ist.

Die Profis nennen es eye- and earcatching, wobei Forscher herausgefunden haben: Der Griff in die Augen erobert und besetzt 80 Prozent, der Griff in die Ohren 20 Prozent unserer Aufmerksamkeit. Die Ökonomie durchsetzt mit ihrer Ästhetik optisch und akustisch den öffentlichen Raum. Tausen-
de Male wird jedes Individuum täglich angeschrieen: »Kauf mich!« Und nur zwei Möglichkeiten bleiben den Mensehen im Zeichendschungel: Entweder lassen sie zu, das Gemeinte zu erkennen, dann ändert sich die Choreographie ihres Denkens, Fühlens und Handelns oder sie schotten sich ab und verhindern das Eindringen der Botschaft, verhindern damit aber auch das Eindringen anderer lebensnotwendiger Botschaften.

Es handelt sich um Verletzungen der Seele, des Gefühlslebens, des Ich, des mentalen Gleichge-
wichts, es handelt sich um permanente Körperverletzung, die als solche nicht erkannt werden darf. Darum kommt es zur Identifikation mit dem Prozess. Wie eine Herde blökender Schafe lässt sich die große Mehrheit der Mitmenschen so in den Pferch der eigenen Vernutzung treiben. Der Mensch, nichts anderes als ein »Verbraucher«, unfähig zu sehen, wie er gebraucht, missbraucht, selbst verbraucht wird?

Der Terror der Ökonomie besetzt die Dunstglocke über dem öffentlichen Raum, er verdrängt damit das selbstverständliche Zusammenleben, im weitesten Sinne Politik. Er hebt in einem atemlosen Tempo Geschichte auf, zerstört das Werden und Vergehen, wirft Vergangenheit weg und lässt Zu-
kunft vergessen.

Mercedes an der Donnersberger Brücke, freudig als das größte Schaufenster der Welt apostro-
phiert, den Himmel stürmend, ihn verdeckend und nur noch eine Aussicht anbietend: Auch du bist Mercedes! Dieser monströse Glassarg voll fahrbarer Blechmöbel lässt in totalitärer Weise nur zwei Reaktionen zu: vollständige Identifizierung oder Brechreiz.

Genauso wenig wie die Luft zum Atmen verkäuflich ist, genauso wenig kann öffentlicher Raum – Lebensraum – käuflich sein. Lebensraum ist für alle da und gehört allen. Es geht darum, das zurückzuholen, was uns eigentlich schon längst gehört, bevor unser Denken und Fühlen nur noch in Warenkategoiien kreist, bevor wir unheilbar krank werden, zu Autisten regredieren, bevor wir die Aggression gegen uns selber richten, uns in die Agonie saufen, uns vor der Glotze blöd flim-
mern lassen oder am Ende den vielen anderen in den unvermeidlichen Suicid folgen.

Günther Gerstenberg


Das Münchner Samstagsblatt 2 vom Januar 2004 veröffentlicht den Text, allerdings ohne den letzten Absatz. Aber immerhin!

Überraschung

Jahr: 2004
Bereich: Kapitalismus