Materialien 1986

Hochbegabte Pinselschwinger


Blasius, der Spaziergänger

Blasius besucht wieder einmal eine Ausstellung in einem bekannten Münchner Ölfarben-Sanato-
rium. „Aufbruch zur modernen Kunst“ heißt diesmal das Motto. Und der Spaziergänger möchte gleich von vornherein bemerken, diesen Aufbruch hätten manche Pinsel-Konditoren ruhig ver-
schlafen dürfen.

Doch nun zuerst einmal zur Kunst der Alten, bei denen es noch hieß, „üb’ Aug und Hand – häng’s an die Wand“. Blasius kann sich noch gut an seinen braven Lehrer erinnern, der den Begriff der Malerei mit folgendem Gschichterl erklärte: „Da gab es einmal zwei große Maler und jeder von ihnen behauptete, der größere zu sein. Eines Tages bat also der eine den anderen, ihm sein neue-
stes Werk bringen zu dürfen. Als dann der Gast das Atelier des Rivalen betrat, hatte er ein Bild mitgebracht, das er sogleich an die Wand stellte. Es war ein Rebstock. Und siehe da, gleich kamen die Vögel des Himmels, ließen sich auf dem Rahmen nieder und versuchten die Trauben zu ver-
speisen. Voller Hochachtung sah das der erste Maler. Da sagte der zweite: „Und nun zeig mir du dein Werk.“ – „Bitte schön“, sagte da der andere, „geh’ nur voraus, hier geht’s hinaus.“ Und der Gast ging voran und versuchte den kostbaren goldbestickten Vorhang zum Nebenraum zu teilen. Er griff aber ins Leere, denn dieser Vorhang war nur an die Wand gemalt.

Also war der zweite Maler der Sieger, denn der erste hatte nur das Auge der Vögel getäuscht, der zweite aber das des Konkurrenten. An dieses Verserl muss also der Spaziergänger denken, als er zum Beispiel die Bildnisse von Schleich betrachtet. Ja, da können sich die Modernen wirklich nur schleichen. Da sitzt jetzt also eine Frau beim Schwammerlputzen. „Vorsicht, Bawett“, möchte da Blasius ausrufen, „putz de Schneck’n net mit nei, i laaf dawei glei hoam und koch d’Knödel.“ Und dort die Winterlandschaften kann man ohne warmen Pullover überhaupt nicht anschauen. Und bei jener Frühlingsstimmung kriegt man direkt Alimenten-Gedanken. Und vor einer Gewitterland-
schaft steht ein altes Ehepaar und sie schauen eine Zeitlang und dann sagt sie auf einmal zu ihrem Alten: „Wos i song woid, Ferdl, host jetzt du im Schlofzimmer a d’Fenster zuagmacht?“ Ist das ein Kompliment oder nicht?

Und drüben das Forellenstück darf man ohne Fischerei-Erlaubnis wahrscheinlich gar nicht be-
sichtigen. Oder der Knabe mit der Dogge von Wilhelm Trübner. Da machen die meisten Besucher heute noch einen Bogen drum rum. Weil der Hund keinen Beißkorb anhat. Und erst die Bildhauer. Vierzehnmal muss der Spaziergänger gähnen, als er an der Marmorstatue von Giovanni Sportini „Die Ruhende“ vorbeigeht. Und er tut es auf Zehen, damit sie nicht aufwacht. Und er denkt sich: „Heute wäre es wohl manchmal besser, man würde nicht den Marmor hauen, sondern den Künstler.“

Aber diese Werke stammen halt alle aus einer Zeit, wo die Spatzen noch Wickelgamaschen trugen, mögen die Fortgeschrittenen sagen. Und damals wurde die Anatomie des Menschen eben noch respektiert und die Maler machten keine Krüppel aus ihren Figuren. Und diese Bilder wirkten auch noch akustisch! Da hört man das enttäuschte Mädchen leise weinen und die Hammel blöken. Und der Verwundete „stöhnt“ und die Bösewichter „schurkeln“. Und alles ist echt, ob Wimmerl oder Wammerl, Runzerl oder Ränzerl. Und auch sonst machten die Alten nicht halt. Denn sie waren eben gewaltige „Waschler“. Auch Sex-Appeal hatten ihre Modelle noch so viel, dass sie ein Ver-
sandgeschäft damit hätten aufmachen können.

Aber wie das halt so kommt. Die Lenbachs und Leibls starben und wenn die Katz aus dem Haus ist, haben die Mäus bekanntlich Kirchweih. So kam denn als Übergang zunächst einmal der Jugend-
stil. Für den kulturellen Normalverbraucher noch einigermaßen verdaulich, „Dieser Stil ist das ,Missing link’ zwischen Kunst und Komik“, möchte der Spaziergänger sagen. Ein Zwitterding aus Brezenbarock und zu eng geschnürtem Mieder. Das Migränezeitalter in der Kunst. Manchmal weiß man dabei nicht ganz genau, ist da jetzt dem Malerlehrling der Pinsel ausgerutscht oder dem Meister die Hand.

Aber dann kommen schon die Besessenen. Gleich hinter Franz von Stuck fängt Schwabing an, meint Blasius. Sie begannen wohl damit, das Frühstücksgelee und die Quäkerspeisung ihrer Kinder statt aufs Brot auf die Servietten zu streichen, und rahmten diese ein. Bei manchen, denkt der Spaziergänger, ist aber der Rahmen nur deshalb herum, damit der Beschauer weiß, wo das Bild aufhört, und nicht an der Wand nach der Fortsetzung weitersucht. Die Surrealisten entdeckten auch als erste das Cinemascope-Verfahren mit den drei Linsen. Nur das Rätsel des Entzerrens konnten sie dann wohl nicht mehr lösen. Und so malten sie denn die Oktoberfestsensation „Das Mädchen, das sich selbst aufisst“. Und das Bildnis der Fußlappen vom braven Soldaten Schwejk. Oder jene geheimnisvollen Apparate, von denen schon die kleinen Kinder immer sagten: „Wos is des. Es hängt an der Wand und wenn’s runterfoit, is d’Uhr kaputt.“

Andere „schufen“ die Holzplastik „Singende Madonna“. Und Blasius meint, wenn das die hohe Frau je zu sehen kriegt, kommt der Frevler sicher einmal in die Bündelholzabteilung vor Rost IV. „Tirol“ steht da ferner unter der eingerahmten Tischdecke einer Marmeladenfabrik. Und für so was hat sich Andreas Hofer also erschießen lassen müssen, studiert der Spaziergänger. Zum Glück wurde in jener Zeit dann schließlich die Münchner Universitäts-Augenklinik gegründet.

Kommt auch noch die ganz neue graue Gruselkunst. Ein Frauenbildnis namens Tutti-Frutti. Aber viel zu saure Frutti und zuwenig Tutti. Ferner die Schrumpfnieren einer Eierhandgranate und das Konkursverfahren einer Flaschengroßhandlung, das der Schöpfer „Büßerinnen“ nennt. Ein gewis-
ser Ende hat dieses Werk angezettelt Aber wenn auch „Ende“ drunter steht, so ist das wohl nur eine leere Versprechung. Denn so einer hört natürlich sicher nie mehr damit auf.

Immerhin ein paar von den „Neuen“ haben wenigstens Phantasie. Wenn man sie rechtzeitig zum Augenarzt geschickt hätte und zum Psychotherapeuten, dann wäre es vielleicht möglich gewesen, dass man einige von ihnen sogar früher im Glaspalast aufgehängt hätte. Allerdings mit dem Kopf nach unten.

Sigi Sommer


Abendzeitung vom 22. August 1986, 20.

Überraschung

Jahr: 1986
Bereich: Kunst/Kultur