Materialien 1971

Acht Jahre danach

… Kriminalität war für uns Jugendliche eine Weltanschauung. Während die Studenten auf die Straße gingen, drückte sich bei uns der Widerstand in kriminellen Formen aus. Es fehlte einfach der differenzierte Bildungshintergrund, der das verhindert hätte. Den Rest haben uns die Gefäng-
nisse gegeben. Sie machen den Häftling auch geistig zu einem Gefangenen. Das Gewaltsystem der Gefängnisse dringt in ihn gleich einem Virus ein und reproduziert sich. Der Knast erhält sich selbst am Leben. Natürlich erlebt sich der Gefangene als Handelnder, aber eigentlich ist es das Gefäng-
nis, das sich reproduziert. Die Gewalt bringt wieder Gewalt hervor.

Und das »Lebenslänglich«? Für mich ist es heute schwer fassbar. Waren das zweiundzwanzig Jahre? Langsam stelle ich mir die gleichen Fragen, wie sie von Personen in der Freiheit gestellt werden: Wie schafft man das? Empfindet man diese Zeit noch? Ich habe Schwierigkeiten, darauf zu antworten, aber sehr deutlich sehe ich die Lebenslänglichen im Knast vor mir. Viele sind gestorben. andere vegetieren als Vollzugsleichen vor sich hin. Zwar existiert das Gesetz, das die Entlassung der Lebenslänglichen auf humane Weise regeln könnte, aber besonders hier in Bayern wird es systematisch unterlaufen. Wer wegen Gewalttaten eingesperrt wird, erfährt die willkürliche Gewalt der staatlichen Organe.

Heute ist mir ganz deutlich bewusst, dass ein Leben in Unfreiheit nicht auf ein Leben in Freiheit vorbereitet. Mein Fühlen und Denken, mein Alltag werden durch das »Lebenslänglich« mitbe-
stimmt. Meine Belastungsfähigkeit ist gering. AIIes wird mir schnell zu viel. Das Gefühl der Un-
wirklichkeit begleitet mich. Anscheinend bin ich weder »drinnen« noch »draußen« zu Hause. Andererseits macht keine Routine mein Leben schal. Alles ist irgendwie neu. Ich erlebe vieles tiefer und weiter als früher. Das Gefühl für das Einmalige und Ungewöhnliche begleitet mich. Die Ver-
bundenheit mit dem Ganzen ist zu einem Grundgefühl geworden.

Der Mensch wird nicht kaputt geboren, er wird kaputtgemacht. Die Straftäter, die Gefängnisin-
sassen sind in der unglücklichen Situation, dass sie zugleich Täter und Opfer sind, und je nach der öffentlichen Stimmungslage wird mit ihnen häufig in einer Art Siegerjustiz verfahren. Die Gesell-
schaft übersieht ihren eigenen Schuldanteil. Dazu kommt, dass die Gefängnisse und das Strafrecht Themen der Innenpolitik sind und die Parteien damit oft rücksichtslos auf Stimmenfang gehen. Das Ergebnis sind regelmäßig Gesetze, die das Gegenteil von dem bewirken, was sie bewirken sollen.

Jetzt, am Ende des Buches und nach insgesamt dreißig Jahren Haft, ist es mir ein Bedürfnis, noch einmal zu sagen, dass aus Inhumanität nicht Humanität entstehen kann und aus Gewalt nicht Ge-
waltlosigkeit. Das Gefängnis bringt immer wieder nur das Gefängnis hervor.

August 2001
Dimitri Todorov


Dimitri Todorov, 22 Jahre Knast. Autobiographie eines Lebenslänglichen, München 2002, 270 f.

Überraschung

Jahr: 1971
Bereich: Militanz