Materialien 1988
Die Wirklichkeit der Süddeutschen Zeitung
Was ist Wirklichkeit? Menschen aus Fleisch und Blut? Rosen aus Plastik? Eine Schlagzeile der Süddeutschen Zeitung? Nein, der Traum von einer Welt, in der es so fromm, so feierlich, so heil zugeht wie auf einem Parteitag der CDU.
Aufatmend stellt man als Leser der Süddeutschen Zeitung fest, dass es noch Werte gibt, an die zu glauben sich über alles Parteigezänk hinweg lohnt: „Wo Helmut Kohl das Gewissen seiner Partei-
freunde mit der Erinnerung an die Schwächen des Menschen, die Fragwürdigkeit jeglichen Tuns und die Größe der Versuchungen zu schärfen sucht, bemüht sein Generalsekretär Heiner Geißler kräftig die Philosophen. Um zu demonstrieren, wie gewaltig die Herausforderungen sind, denen die CDU zumal durch die Barschel/Pfeiffer-Affäre ausgesetzt ist, schafft es Geißler, in einem Satz den Bogen von Aristoteles über Thomas Morus bis zu Immanuel Kant zu schlagen und anschlie-
ßend noch zu den Werken der Geistesgrößen aus neuerer Zeit – Romano Guardini, Nicolai Hart-
mann und Gustav Radbruch – überzuleiten.“
Nicht wir, der Journalist ist überwältigt von dieser Leistung. Ihm bleibt schier der Mund offen bei der Demonstration der Herausforderungen durch einen Generalsekretär, der es durch die kräftige Bemühung jener Philosophen, die – nach einem Wort von Marx – die Welt nur verschieden inter-
pretiert haben, in einem Satze schafft, der schlichten Geistesgröße eines Bonner Journalisten so heimzuleuchten, dass er dabei den Bogen von Aristoteles bis Romano Guardini überspannt, ohne sich dabei einen Radbruch zu heben.
Wie, ein Bischof und ein Prälat haben sich zur Verfügung gestellt, um auf offener Bühne ein öku-
menisches Gebet zu sprechen? Schier schwindelig wird unserem Journalisten vom bloßen Hinse-
hen: „Die Wirkung ihres gemeinsamen Gebets wird noch durch einen dramaturgischen Kunstgriff gesteigert, wie ihn kein Bühnenregisseur hätte wirksamer ausdenken können. Prälat und Bischof stehen allein auf einer in lichtem Blau ausgeschlagenen Bühne, auf der die langen Tische für die Präsidiumsmitglieder der Partei noch leer sind; der Organist der Bonner Kreuzkirche, unsichtbar hinter der Bühne placiert, intoniert einen Choral. Erst als die fromme Einstimmung auf die bevor-
stehenden politischen Beratungen beendet ist, marschieren die Präsidialen, allen voran der Partei-
vorsitzende Helmut Kohl, im Gänsemarsch an ihre Plätze auf dem Podest.“
Was sind die 12-Uhr-Nachrichten gegen einen vollen Orgasmus? Was bedeutet schon Liturgie ge-
gen die richtige Dramaturgie? Was waren die Parteitage der NSDAP bloß blass im frommen Lichte eines CDU-Parteitags?
Spannung ist, wenn ein Fußballspiel wie ein Krimi abläuft. Ein Krimi, das ist ein Actionfilm. Ein Actionfilm ist der reine Nervenkitzel. Und was ist ein Nervenkitzel? Wenn ein Toter ein Tor schießt, das nicht gegeben wird.
Der unsichtbare Organist ist der Parteitagsregisseur. Im Glitzerlicht der Fernsehscheinwerfer werden die Parolen durch die Gebetsmühle gedreht. Neidisch auf seine Kollegen vom Fernsehen, die das Theaterereignis auf der in lichtem Blau ausgeschlagenen Bühne lediglich abzufilmen ha-
ben, notiert der Journalist von der noch schreibenden Zunft die Kernworte der Politshowdarstel-
ler. Sein Notizblock füllt sich mit Aussagen wie: „In die Verantwortung für die ‘politische Kultur’ (warum schreibt er das in Gänsefüßchen?) band Kohl auch die Medien ein.“
Unser Kanzler ist zwar nicht der Buchbinder Wanninger, aber vom Einbinden und Leimen versteht er schon etwas.
Der schrecklichen Nachricht endlich einmal entronnen, notiert sich unser Journalist: „Starken Bei-
fall erhielt Kohl für seine Warnung vor Profilierungssucht.“ Ist ja auch wahr – Profilierungssucht gehört zu jenen Krankheiten, die die Kasse nicht bezahlen will, weil die Ärzte sie nicht diagnosti-
zieren können!
Und als er sich noch aufschreiben darf: „Geschäftsinteressen haben hinter dem Schutz der Men-
schenwürde zurückzutreten“ (ja, wo leben wir denn, Herr Kohl!), da sieht er im Geiste schon die Überschrift seiner Reportage vor sich: „Trost von Kirche und Kanzler. Bei ihrem Treffen in der Bonner Beethovenhalle üben sich die Delegierten in der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit.“
Ein Satiriker würde sich hier auf das Wörtchen sie üben sich stürzen. Jeder Satire abhold, fragen wir nur ganz bescheiden: Welche jüngste Vergangenheit?
Bewältigt etwa der Blüm den Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz, wenn er bekennt, „er möge das Jammern nicht“? Schafft er die Arbeitslosen von der Straße, wenn er den Leuten vorwirft, sie würden sich nicht dafür interessieren, dass die CDU dauernd „ihr Innenleben vorführt“? Haben Schuld, Versagen und Fehlleistungen nicht etwas Besseres verdient, als „ausgeräumt“ zu werden?
Blüm hat aber etwas gegen „Unterwerfungsgesten“ nach dem Motto: „Bin Politiker, soll nicht wieder vorkommen.“ Auch einem Journalisten der Süddeutschen Zeitung könnte hier mal eine Frage einfallen …
Und dann der Zimmermann. Wie hat der doch in reinstem Deutsch so schön gesagt, die Schwester-
parteien von CDU und CSU seien mehr als nur Schwestern; sie stellten EINE WERTEGEMEIN-
SCHAFT dar! „Diese Einschätzung teilten ausdrücklich auch Kohl, Dregger und Geißler.“
Auf der ersten Seite hat die Süddeutsche Zeitung als Aufmacher: „Kohl schnitt in seiner 14jährigen Amtszeit noch nie so schlecht ab wie jetzt.“ Heißt das, dass er jetzt Absteiger des Jahres geworden ist und in der nächsten Saison Kanzler der Bayernliga werden muss? Aber nein. Die Seite 3 schmückt ein Kanzlerfoto, das uns alle überzeugt. Es ist 15 × 21 cm groß und zeigt einen Helmut Kohl, der müde seine rechte Hand zum Gruße hebt, als müsse er schon wieder einen Eid auf die Verfassung leisten. Mit mürrischem Grinsen ringt er sich diese Geste der Überlegenheit ab. Schaut er unseren Journalisten an, weil er gar so streng durch seine Nickelbrille blickt?
Der hat schon wieder aufgeschrieben: „Diesmal bekam Blüm mit 555 Stimmen fünf Stimmen we-
niger als beim vorigen Parteitag.“ Hat der sich aber blamiert! „Ein hervorragendes Ergebnis erhielt auch der hessische Ministerpräsident Walter Wallmann mit 535 (1985: 399) Stimmen.“ Hervorra-
gender als Blüm also. „Bundesfamilienministerin Rita Süßmuth … kam mit 515 Stimmen auf den vierten Platz.“ Der reicht noch für eine Teilnahme am UEFA-Cup.
Kein Wunder, dass Lothar Späth, der Hoffnungsträger aus dem Schwabenland, den Eindruck hat, „dass die Bevölkerung schon mehr hinter uns steht als wir selber.“ Die CDU wird es von der Bevöl-
kerung noch lernen müssen, wie man hinter sich steht, damit man sich selber in den Hintern tritt, wenn Wahlen vor einem stehen …
Zugestanden, die Süddeutsche Zeitung ist kein satirisches Blatt, nur ein unfreiwillig komisches. Wenn sie etwa Geißler zitiert: „Er meinte, Politik erprobe den Charakter“, dann will sie ihn keines-
wegs auf die Schippe nehmen, sondern dafür danken, dass er Charakterstärke beweist, indem er täglich Proben davon ablegt.
Nicht im Ernst fiele ihr ein, dass sie nur eine Widerspiegelung einer Widerspiegelung ist, welche wiederum eine Widerspiegelung von Widerspiegelungen ist.
Entwirklichung von Wirklichkeit ist das, was von Widerspiegelung zu Widerspiegelung zunimmt.
Stand am Anfang noch eine Tat: die des Medienreferenten Pfeiffer, und folgte ihr rasch eine zweite Tat: die des einzigen Abgeordneten des Südschleswigschen Wählerverbandes im Kieler Landtag, Karl-Otto Meyer, der den gerade wiedergewählten Ministerpräsidenten der CDU stürzte, indem er ihm die Stimme des Gewissens versagte, so ist in der zweiundzwanzigsten Widerspiegelung dieser Wirklichkeit in der Süddeutschen Zeitung nur noch übriggeblieben, dass der Bundeskanzler davor warnt, „den Erfolg nicht zu zerreden“.
So nimmt es uns nicht wunder, dass unser Journalist Klaus Dreher heißt. In seinem Namen spie-
gelt sich nichts als die Verhältnisse, die er vertritt. Wie wir aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen vernehmen, deckt er diese Verhältnisse mit einem Pseudonym, hinter dem niemand an-
deres sich verbirgt als der berüchtigte Baby Schimmerlos alias Schmidtchen Schleicher alias Schmock, der sonst für Gerichtsreportagen zuständig ist. Diesmal hat es halt nur zu einer Theater-
kritik gereicht.
Hans Werner Saß
Der Zeitgenosse. Zeitschrift der Aktion Lebensqualität 2, München 1988, 28 ff.