Materialien 1988
Gewalt durch Sachen
I
Ein alltägliches Bild: Ein geparktes Auto steht halb auf dem Bürgersteig, halb auf der Straße an einer Kreuzung – da, wo es nicht erlaubt ist. Neben dem Auto steht ein Polizist, er ist bereits im Begriffe, einen Strafzettel auszufüllen. Herbeigerannt kommt der Fahrer des falsch geparkten Autos, atemlos, mit rotem Kopf: „Wissen Sie, als ich heute morgen herfuhr, waren keine Parkplätze frei, deshalb musste ich hier parken.“ Der Polizist hat offensichtlich Verständnis für den Autofah-
rer, füllt aber weiter den Strafzettel aus und sagt schließlich: „Wenn Sie schon falsch parken, dann tun Sie es doch wenigstens so, wie der dort drüben. Der hat sein Auto ganz auf den Bürgersteig gestellt.“
Was hat der Polizist gesagt? Ich gehe einige Schritte zurück, um an den geparkten Autos vorbei in Richtung des polizeilichen Zeigefingers schauen zu können. Das als Beispiel genannte Auto steht tatsächlich voll auf dem Bürgersteig. Ich schaue an mir herunter, wie ich den Kinderwagen mit dem kleinen Marc drin schiebe, dann schaue ich zur noch nicht ganz 4jährigen Pasquale hinüber, die ihren kleinen Puppenwagen schiebt. Von hier aus kann ich nicht feststellen, ob wir ungehindert neben dem Auto vorbeikommen würden. Aber der Vorfall löst viele Gedanken und Gefühle in mir aus.
Natürlich können wir einmal mehr uns hintereinander durch diesen Engpass hindurchschlängeln. Wir sind schon ganz geübt in dieser Technik. Auf dem Weg zum Einkaufen kommen wir nämlich an mehreren kleinen Querstraßen vorbei. Hier bei den Straßenmündungen sollten keine Autos parken. Sie stehen aber trotzdem da, mitten auf unserem Weg, und selbst wenn ich sie höflich bitten würde, doch einen Moment zur Seite zu gehen, sie tun es nicht. Ein Auto kann sich nicht allein bewegen, und derjenige, der für das Auto verantwortlich ist, ist nicht da.
Also suche ich eine Lücke, durch die ich mit dem Kinderwagen hindurch komme, und Marc muss einmal mehr Stoßstange und Kühlerhaube aus nächster Nähe anschauen und einatmen. Während ich meine Nase vorstrecke, um herauszufinden, ob die Straße frei ist für uns, rufe ich Pasquale zu: „Wenn ich sage ‘jetzt’, musst du ganz schnell über die Straße gehen!“ Sie an der Hand zu halten, wie ich es sonst tue, um sie über die Straße zu führen, ist unter diesen Umständen nicht möglich.
Das alles kann ich eine Zeitlang ertragen. Mit Humor kann ich es besser ertragen. Aber es ist zermürbend. Und dieser Vorfall, den ich gerade miterlebt habe, kann das Fass zum Überlaufen bringen. Was, sage ich mir, auch das noch? Sogar bei Polizisten finde ich als Fußgänger keine Unterstützung? Ab morgen fahre ich auch mit dem Auto zum Einkaufen!
Corinne Gaede
II
Ein alltägliches Bild: Ein geparktes Auto steht an einer Kreuzung und versperrt mir als Fußgänger den Weg. Darüber ärgere ich mich. Was tun? Gehe ich um das Auto herum? Zwänge ich mich durch die Lücke? Mit Hilfe mehrerer Passanten könnte ich das Auto auch wegrücken. Aber warum tue ich das nicht? Darf ich das? Ich schrecke vor dem Gedanken zurück. Jetzt spüre ich in mir den „geheiligten Bereich der Unberührbarkeit“, den ich selbst dem Auto einräume. Da stimmt doch was nicht! Ich stelle die Bequemlichkeit des Autofahrers über das Recht des Fußgängers!
Neulich sah ich einen Mann, der das Problem löste, indem er über die Kühlerhaube stieg. Dies
hat mir so gefallen, dass ich es selbst ausprobierte. Mit Schwung nahm ich den geraden Weg und freute mich über meinen Mut. Gleichzeitig hatte ich aber auch Angst, das Auto zu zerkratzen. Das ist doch nach dem Gesetz Sachbeschädigung. Ich mache mich damit strafbar. Heiligtum, ich hör dir trapsen!
Noch schwieriger wird es, wenn ich mit Kind und Kinderwagen unterwegs bin. Es ist mir immer wieder passiert, dass ich bis zur nächsten Kreuzung zurück musste, um die Straße überqueren
zu können, mit der einen Hand den Kinderwagen schiebend, an der anderen Hand den kleinen Thomas. In dem Moment plärrt Stefan im Kinderwagen, und Thomas zerrt an meiner Hand. da reißt mir der Geduldsfaden, und ich fahre Thomas an: „Paß doch auf, geh.jetzt weiter!“ Hinterher erst merke ich, dass die eigentliche Ursache meines Ärgers der Aurofahrer ist, der mich durch seine Rücksichtslosigkeit zu diesem Umweg gezwungen hat.
Nicht nur als Fußgänger habe ich unter den parkenden Autos zu leiden, sondern auch als Radfah-
rer. Da es für manchen Autofahrer ein Privileg zu sein scheint, auf dem Radweg zu parken, bin ich immer wieder gezwungen, auf den Bürgersteig auszuweichen oder abzusteigen. Das bringt mir ständig Arger ein, mit dem ich nicht weiß, wohin, da der Besitzer des Autos ja meistens nicht da ist. Da juckt es mich manchmal einfach, den Spiegel des Autos zu verdrehen oder einen dicken Kratzer am Auto entlang zu hinterlassen.
Ich erinnere mich, dass eine Bürgerinitiative in Haidhausen vor fünf Jahren den weißen Grenzstreifen des Radfahrweges über dort parkende Autos weiter gemalt hat.
Dieser Arger führt mich zu den Fragen: Verhilft uns das Auto zu Lebensqualität? Bringt das Auto wirklich Unabhängigkeit? Das Auto ermöglicht mir zwar, den abgelegensten Winkel zu erreichen, aber damit trage ich auch zur Zerstörung dieses Ortes bei. Der Bauernhof, auf dem ich als Kind meine Ferien verbracht habe, muss weichen, weil dort eine Straße gebaut werden soll. Die Vor-
stellung, dass der Bauernhof abgerissen wird, tut mir weh. Viele solcher Erfahrungen haben mich dazu gebracht, auf mein Auto zu verzichten.
In München gibt es circa 500.000 Autos. Jedes Auto braucht soviel Raum wie ein kleines Kinder-
zimmer. Hier möchte ich Sie zu einem Gedankenexperiment einladen. Stellen Sie sich vor, der von diesen 500.000 Autos beanspruchte Platz steht uns allen zur Verfügung. Grünflächen und Bäume treten an die Stelle von Parkplätzen, Innenhöfe werden wieder bewohnbar, Kinder können auf der Straße spielen, Autolärm und Abgasgestank fallen weg. Warum sollte das nicht möglich sein? Jeder Tat geht ein Gedanke voraus.
Irmgard Kirmer
Brigitte Demmel
Josef Eckart
Der Zeitgenosse. Zeitschrift der Aktion Lebensqualität 2, München 1988, 21 f.