Materialien 1988
Melanie oder die Gewalt in der Obdachlosensiedlung
Seit Januar 1987 arbeite ich halbtags in einer Münchner Obdachlosensiedlung. Melanie ist eines der Kinder, die wir in unseren Gruppen betreuen. Sie ist 5 Jahre alt und besucht täglich unseren Kindergarten. An einem Montag kam sie mit Magenschmerzen und besonders nervös in den Kin-
dergarten. Die Spannungen in ihrer Familie hatten ihr besonders an dem langen Wochenende sehr zugesetzt. Ich fragte sie, ob ich ihr einen Kamillentee kochen soll. „Ja“, sie freute sich darüber. Dann riet ich ihr, dass sie ihre kleine Hand auf den Magen legen und mit den Schmerzen im Bauch sprechen soll. Erst schaute sie mich verwundert an und stutzte, doch dann lächelte sie und tat es, als sei ihr das gar nicht fremd. Als dann der Kamillentee neben ihr stand, strahlte sie, weil ich eigens für sie etwas getan habe. Sie trank nur ein paar Schlückchen, und er wirkte schon.
Ich saß dann einfach noch ein Weilchen bei ihr und gab ihr das Gefühl, Zeit für sie zu haben. Das machte sie glücklich. Bald legte sich ihre Nervosität, und ihre Verträumtheit verschwand. Sie lächelte. Bald waren auch die Schmerzen weg, und sie aß begierig mit den anderen Kindern in der Gruppe zwei Schüsselchen Müsli.
Melanie ist nur eines der Kinder, die ich besonders in mein Herz geschlossen habe. Ihre Mutter ist noch jung, etwa 27 Jahre alt. Ihr Körper ist fett und aufgedunsen durch Alkohol und Stumpfsinn. Sie hat sich selbst aufgegeben. Melanie ist die jüngste ihrer drei Töchter.
Die Mutter schaut äußerlich genauso verwahrlost aus wie Melanie: ungekämmt – seit Monaten kenne ich sie nur in einem türkisfarbenen Jogginganzug, so als käme sie gerade aus dem Bett. So geht sie zum Einkaufen, so bringt sie Melanie in den Kindergarten.
Melanie trägt oft einen fleckigen Rock und einen Pullover mit Löchern, dem sie längst entwachsen ist. Da ihr meine Fürsorge gut tat und sie Angst hatte, sie zu verlieren, hatte sie eine Weile immer Magenschmerzen. Ich sagte ihr, dass ich sie auch gern habe, wenn sie nicht krank ist. Aber ich ver-
stand auch ihr Signal: „Ich brauche Liebe, Deine Liebe, und fühle mich von Dir verstanden.“
Das System der Gewalt
Die Kindergartenkinder in der Obdachlosensiedlung im Münchner Norden spielen seit dem letzten Nikolaustag ein Spiel: Sie spielen den bösen Krampus, der herbeigerufen wird, wenn sie ihren El-
tern nicht gehorchen. Er jagt ihnen Angst ein, mit Kettengerassel, lautstarken Worten und Schlä-
gen. Wie die Kinder erzählen, hat ein Krampus einmal ein Kind in einem Sack bis zur Ecke beim Tengelmann mitgeschleppt. Der böse Krampus – genannt „Pferdefuß“, weil er einen Pferdefuß hat – wird gerufen, wenn die Eltern mit ihren Kindern nicht mehr zurechtkommen. Den Kindern wird auch erzählt, dass der böse Krampus sie in einem Bild über ihrem Bettchen bewache und aus dem Bild heraussteigen könne, wenn es nötig sei. Mit diesen Ängsten schlafen die Kinder ein, und man-
che nässen deshalb das Bett.
Im Kindergarten spielen die Kinder das Spiel jeden Tag, weil der Krampus bereits in ihren kleinen Körpern steckt. Die Gewalt, mit der sie täglich in Familienszenen und Filmen gefüttert werden, geben sie in ihrem Spiel unverarbeitet weiter. Sie versuchen ein Manöver der Angstbewältigung und programmieren sich dabei schon als kleine Kinder auf ein Gewaltsystem, das nichts anderes kennt als: Angst haben oder Angst machen!
Irgendwann machen sie dann nur noch den anderen Angst, damit sie selbst nicht mehr Angst ha-
ben müssen. Die Eltern haben sich ein Videogerät gekauft und konsumieren mit ihren Kindern Ge-
waltfilme à la „Rambo“: „Wenn man mächtig ist, muss man keine Angst mehr haben.“
Essen als Ersatzbefriedigung
Die größeren Kinder stehen am Anfang ihrer Pubertät. Drei Jungen zwischen 11 und 13 Jahren sind fettsüchtig. Alle drei sind die jüngsten Kinder ihrer Mütter und werden von diesen besonders ver-
wöhnt. So hatte Thomas im letzten Winter rheumatisches Fieber und Herzrhythmusstörungen.
Auch die Mutter von Thomas ist sehr dick und frustriert. Sie ist Hausfrau, macht Heimarbeit, raucht eine Zigarette nach der anderen und frisst alles mögliche in sich hinein. Leer und unerfüllt, wie sie ist, stopft sie auch Thomas mit Essen voll, dass er keine anderen Bedürfnisse mehr spürt und sein Herz schmerzt.
In unserer Gruppe, wo wir nach den Hausaufgaben und dem Spielen gemeinsam etwas zu essen machen, zeigte ich Thomas ein paar kleine Gerichte, die wenig Kalorien haben und dennoch sätti-
gen, weil es gesunde Nahrung ist. Er interessierte sich sehr dafür und kam öfters, um nach unseren Rezepten zu fragen. Er schaut jetzt selber mehr darauf, was er isst, und kann eine Tafel Schokolade wieder weglegen, wenn ich ihn darauf aufmerksam mache. Auch seine Mutter, die meinen Rat-
schlägen anfangs sehr skeptisch gegenüberstand, hat jetzt mehr Vertrauen und spürt mehr, was für Thomas wichtig ist. Sie isst jetzt öfters mit ihm Salate und hat selbst auch abgenommen.
Die frustrierten Kinder
Die Kinder schlagen sich immer wieder in die Hoden und den Unterleib oder machen sich mit Worten gegenseitig nieder. Vor allem die Jungen prügeln sich oder gehen auf ein Mädchen los. Die Mädchen quälen sich mehr mit Worten oder spielen die Opfer der Jungen. Sie führen schon den Geschlechterkrieg, der bei ihnen zu Hause herrscht. Wenn sie in den viel zu engen Wohnungen den Geschlechtsverkehr der Eltern miterleben, haben weder sie noch die Eltern Intimsphäre, die für die gegenseitige Achtung nötig ist. Dass Sexualität auch mit Gefühlen wie Zärtlichkeit, Wärme und Liebe zu tun hat, kennen sie kaum. Manchmal spielen sie auch Szenen aus Videofilmen nach, aus Sexfilmen und Gewaltfilmen. Die 14-jährige Sabine z.B. schaut sich immer wieder den Film „Atemlos“ an, vor allem, wenn sie krank und den ganzen Tag allein zu Hause ist. Bei diesem Film geht es um die Verfolgung eines Mörders, und das Mädchen hält die Spannung kaum aus. Eine Beschäftigung wie Lesen ist ihr fremd. Das Wort „Ficken“ höre ich überall von den Kindern, und immer ist darin ein gewalttätiger Ton zu spüren.
Als ich den Kindern mitteilte, dass ich schwanger sei und deshalb nur noch ein paar Monate mit ihnen zusammen sein werde, reagierten sie mit: „Ja, dann lass es doch abtreiben!“ Es ist für sie immer wieder schwer zu verstehen, dass ich mich auf mein Kind freue. Mit Enttäuschungen können sie nur selbstzerstörerisch umgehen. Als z.B. unser geplantes gemeinsames Wochenende ausfiel, weil ich von der Anstrengung Blutungen bekam, drohten sie mir damit, mich in den Bauch zu treten und mein Baby umzubringen. Sie warfen Stühle an die Wände und gingen aufeinander los wie wild gewordene Tiere.
Erst langsam kann ich ihnen auch ein Stück Kultur vermitteln: Wenn wir gemeinsam den Tisch schön decken und ich sie ausdrücklich mit Händedruck begrüße und verabschiede, auch Zeichen der Achtung, die ihnen anfangs völlig fremd waren.
Dass in diesen Kindern trotz aller Gewalt auch Sozialität steckt, erfuhr ich, als ich mit ihnen Schlittschuhlaufen ging. Das konnten sie alle nicht, und so mussten wir uns gegenseitig halten und immer wieder aufhelfen. Ich war verblüfft, wie liebevoll sie plötzlich miteinander waren. Diejeni-
gen, die sich schon freier auf dem Eis bewegen konnten, halfen den schwächeren. Hand in Hand drehten sie ihre Runden. Und als ein alter Mann hinfiel, gingen sie alle zu ihm, um ihm aufzuhel-
fen.
Das Ghetto
In den etwa 180 Wohnungen der Obdachlosensiedlung im Münchner Norden leben rund 380 Menschen. Die zweistöckigen Häuser stehen sich in Blöcken gegenüber, so dass in der Mitte ein Hof ist. Die Wohnungen sind klein, feucht und fast alle ohne Dusche und Bad. Oft haben zwei Haushalte eine gemeinsame Toilette im Flur. Die einzige Wasserstelle ist meist in der Küche, an der sich die ganze Familie morgens wäscht. Die Wohnungen sind sehr hellhörig und haben meist Durchgangszimmer.
Die Siedlung hat einen Dorfcharakter. Der Hof ist groß, und bei schönem Wetter schaut er fast idyllisch aus: Auf einer großen Grünfläche mit Bäumen können die Kinder spielen, es gibt einen Kinderspielplatz mit Sandkasten, einen Platz zum Wäsche aufhängen und kleine Wege vor den Hauseingängen. Die Erwachsenen sitzen bei schönem Wetter viel im Hof, allein oder in Gruppen zusammen. Aber der erste Blick trügt. Die Siedlung ist ein Ghetto. Außer dem Briefträger habe ich dort nie Menschen gesehen, die außerhalb der Siedlung wohnen. Umgekehrt leben die Siedlungs-
bewohner sehr isoliert und fast ohne Kontakt nach draußen. Zwischen den Menschen aus der Ob-
dachlosensiedlung und den Bewohnern der Einfamilienhäuser auf der gegenüberliegenden Stra-
ßenseite gibt es praktisch keine Berührung. Wenn die Kinder der beiden Straßenseiten Freund-
schaften schließen, so werden diese Kontakte von den „wohlsituierten“ Eltern sofort unterbunden. Die Kinder spüren, wie sehr sie abgelehnt werden, und reagieren damit, dass sie z.B. ein Kind aus einem Einfamilienhaus nach der Schule gemeinsam verprügeln.
Gegenüber der Obdachlosensiedlung liegt das größte Masseneinkaufszentrum Münchens, eine Ballung von Supermärkten mit Billigwaren. Dort kaufen die Bewohner alles ein: Lebensmittel, Kleidung, Fahrräder und Videoanlagen.
In der Obdachlosensiedlung sollten die Menschen ursprünglich nur vorübergehend wohnen. Aber die durchschnittliche Verweildauer ist 11 Jahre. Das hat mehrere Gründe: Die Arbeitslosigkeit und die Wohnungsnot sind in den letzten Jahren immer größer geworden. Für kinderreiche Familien mit niedrigem Einkommen gibt es kaum Wohnungsangebote.
Ein weiterer Grund ist, dass kaum ein Bewohner der Siedlung, der längere Zeit arbeitslos ist, den Schritt nach draußen wagt, um sich eine Arbeit zu suchen. Auch den Schritt, sich eine andere Woh-
nung zu suchen, außerhalb der Siedlung, schaffen nur wenige. Diese Menschen fühlen sich allein-
gelassen und spüren die Ablehnung der Gesellschaft. Entmutigt versinken sie im Sumpf und be-
stärken sich gegenseitig in ihrer Hoffnungslosigkeit. Oft hört man: „Die wollen ja gar nicht aus dem Dreck heraus!“ Dahinter steht das Credo dieser Leistungsgesellschaft: „Wer will, der kann!“ Wir wollen mit diesen Menschen nichts zu tun haben, weil sie unsere „Heile Welt“ stören, die Heile Welt der Wohlstandsgesellschaft, in deren Hinterhof es stinkt.
Annette Sirch
Der Zeitgenosse. Zeitschrift der Aktion Lebensqualität 2, München 1988, 18 ff.