Materialien 1988
Die Philosophie der Gewalt
I
In dem Jahr, als ich geboren wurde, rüstete man gerade zum Krieg. Der Führer Adolf Hitler weckte religiöse Bedürfnisse und ließ sich als Erlöser feiern.
Es war das Jahr der Olympiade von Berlin. Der „Neger“ Jesse Owens gewann, sehr zur Verärge-
rung des Führers, vier Goldmedaillen in der Leichtathletik. Dafür holten sich die deutschen Reiter stolz in die neuen Wehrmachtsuniformen gekleidet, alle sechs Goldmedaillen im Reitsport. Als Gewinner von 38 Gold-, 26 Silber- und 30 Bronzemedaillen triumphierten die Deutschen noch vor den USA als die erfolgreichste Olympiamannschaft.
Fünfhunderttausend Gäste aus dem In- und Ausland hatten sich in Berlin zur Olympiade ver-
sammelt. Sie wurden Zeuge davon, dass entschlossene Faschisten „dekadenten“ Demokraten im fanatischen Kampf überlegen sind.
Der „Wettstreit der völkischen Kräfte“, als der die Olympiade von Berlin von den Deutschen aufge-
zogen worden war, bildete den Auftakt zum Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Wehrmacht hatte im Olympiajahr bereits 550.000 Mann unter Waffen. Die Deutschen schnallten den Gürtel enger, damit Devisen für Nahrungsmittel aus dem Ausland eingespart wurden und die Kriegsindustrie Geld für ihren wachsenden Rohstoffbedarf bekam.
Die allgemeine Wehrpflicht, die ein Jahr zuvor wieder eingeführt worden war, wurde im Olympia-
jahr bereits auf zwei Dienstjahre ausgedehnt. Der Reichspropagandaminister Goebbels erklärte: „Man kann zur Not auch einmal ohne Butter, nie aber ohne Kanonen auskommen!“
Zur Reichstagswahl 1936 mussten alle Deutschen Fahnen und Flaggen hissen. Hitler sprach in Essen vor den Krupp-Arbeitern, und die Werkssirenen heulten eine volle Minute lang, um den Beginn des „großen Friedensappells des Führers“ zu verkünden. Alle Sirenen des Reiches schlossen sich an. Goebbels sprach vor zwanzigtausend Menschen in der Berliner Deutschlandhalle: „Die Nation hält während dieser Minute innere Einkehr und bringt damit in der demonstrativsten Weise die Entschlossenheit zum Ausdruck, sich hinter den Führer zu stellen.“
Die Wahlbeteiligung betrug 98,95 %. Nur 543.026 der abgegebenen Stimmen enthielten ein Nein zur Einheitsliste des Führers oder waren ungültig. Damit hatten am 29. März 1936 rund 99 % aller Wähler für Adolf Hitler gestimmt. Die Presse jubelte: „Die Nation steht hinter dem Führer!“
Seit 1933 hatte sich die Heeresstärke der deutschen Wehrmacht mehr als verfünffacht. Am 1. Mai 1936, dem „Tag der nationalen Arbeit“, feierte der Führer die „Friedensbereitschaft“ des Deutschen Reiches, forderte aber zugleich in einer geheimen Denkschrift: „I. Die deutsche Armee muss in vier Jahren einsatzfähig sein. II. Die deutsche Wirtschaft muss in vier Jahren kriegsfähig sein.“
Was wäre geschehen, wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten? Die Hauptstadt von Euro-
pa hieße Berlin. Die Sowjetunion wäre von der Landkarte radiert. Vom Atlantik bis zum Ural erstreckte sich heute deutscher Wille, deutsche Leistung, deutsche Kultur.
Die Herrenmenschen hätten sich durchgesetzt. Die Hakenkreuzfahne, der deutsche Stahlhelm, der Hitlergruß, die Albert-Speer’schen Prachtbauten wären zu Symbolen einer europäischen Welt-
macht geworden.
1936 war das „Jahr des Jungvolks“. Die Lufthansa feierte ihr zehnjähriges Bestehen. Der Weltju-
gendkongress in Genf beschäftigte sich mit dem Thema Frieden. Die Kunstkritik wurde verboten, die deutschen Schulfibeln und Lesebücher wurden überarbeitet, und die deutschen Soldaten er-
hielten neue Wehrpässe. Österreich holte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nach, und die deutsche Reichsregierung verabschiedete ein Gesetz zur Wiedererrichtung eines Reichskriegs-
gerichts.
II
Die Philosophie der Gewalt ist faschistisch. Sie geht vom Todestrieb aus und verherrlicht alle Mittel des Untergangs.
Wollte Hitler denn gewinnen? Oder wollte er nicht viel mehr die ganze Menschheit in den Strudel eines atomaren Selbstmords treiben, den die Elite der deutschen Atomphysiker vorbereiten half?
„Wollt Ihr den totalen Krieg?“, hatte Goebbels rhetorisch die zwanzigtausend Hitler-Faschisten in seiner Berliner Sportpalastrede gefragt. Und sie hatten ihm jubelnd geantwortet: „Jaaaa!“ Mit dem totalen Krieg war der Atomkrieg gemeint. Noch im Januar 1945 beschwor dieser Propagandist des Bösen das deutsche Volk, den Glauben an den Endsieg nicht zu verlieren; denn wenn die Geheim-
waffe fertig sei und eingesetzt werde …
Es kam nicht dazu. Im kleinen mecklenburgischen Peenemünde auf der Nordwestspitze der Insel Usedom versuchten die deutschen Raketen- und Atomspezialisten zwar bis zuletzt fieberhaft, die Atombombe bis zur Einsatzreife zu entwickeln, aber sie schafften es zeitlich nicht mehr. Am 8. Mai 1945 kapitulierte Hitler-Deutschland bedingungslos.
Dafür benutzten die siegreichen Amerikaner den deutschen Forschungsvorsprung, der ihnen in die Hände gefallen war, um ihre eigene Atombombe fertigzustellen. Drei Monate später, am 6. und am 9. August 1945,warfen amerikanische Bomberpiloten je eine Atombombe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki.
Japan hatte zwar schon die Kapitulation angeboten gehabt, aber die amerikanische Regierung hatte sie nicht zur Kenntnis genommen, weil sonst der geplante Atombombenabwurf nicht mehr zustande gekommen wäre.
Der Einsatz der ersten beiden Atombomben war also durch keinerlei Kriegsgründe gerechtfertigt. Er war eine Demonstration faschistischer Macht – gerichtet gegen den Bündnispartner im Krieg gegen Hitler-Faschismus und Tenno-Faschismus. Die Sowjetunion sollte vor dieser Drohung gleich mit kapitulieren.
Schließlich war die Sowjetunion gut genug gewesen, den Hitler-Truppen im Kriegswinter 1942/43 mit der Schlacht um Stalingrad die entscheidende Niederlage beizubringen; aber sie sollte sich gefälligst nicht einbilden, dass sie danach ein Wörtchen mitzureden hätte über die künftige imperialistische Aufteilung der Welt.
Als sich 1945 in Schwäbisch Gmünd ein evangelischer Pfarrer über den Atombombenabwurf der Amerikaner aufregte und ihn in einer Predigt mit den Verbrechen der Nazis verglich, wurde er von der amerikanischen Besatzungsmacht sofort mit Predigtverbot belegt.
Sein Enkel, geboren im Jahre 1942, demonstriert nun in der Friedensbewegung gegen die Raketen-
stationierungen der US-Truppen in der Bundesrepublik Deutschland. Was soll man ihm sagen über die Philosophie der Gewalt, in die er über seinen Großvater verstrickt ist?
In den USA wurde 1953 das jüdische Fabrikantenehepaar Julius und Ethel Rosenberg in einem umstrittenen Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Er war damals 37, sie 35 Jahre alt. Was hatten diese jungen Leute getan? Sie hatten das Geheimnis der Atombombe an die Sowjetunion verraten.
Vielleicht wird die Welt eines Tages diese beiden Spione dafür verantwortlich machen, dass es selbst auf den Höhepunkten des kalten Krieges gegen die Sowjetunion nie zu einem Atomschlag gegen diesen Feind im Osten gekommen ist.
Jedenfalls weiß der Enkel des schwäbischen Pfarrers nichts davon, dass 1945 in Deutschland der Sozialismus auf der Tagesordnung stand. Er meint, dass es genügt, in Mutlangen an einer Sitz-
blockade teilzunehmen. Die Ziele der Friedensbewegung sind auf eine weltweite Abrüstung der Atomwaffen gerichtet; geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge existieren in ihrer Vorstellung kaum.
Warum schreit er wohl dem Fahrer eines amerikanischen Militärlastwagens ins Gesicht: „What are you doing here – this is my country!“ Wie konnte er, mir seiner internationalistischen Friedensge-
sinnung, patriotisch rufen: „This is my country!“?
Ich habe diesen Gedanken noch nie denken können: „This is my country!“ So wenig, wie dieses Land Indianerland ist, so wenig ist es bis jetzt mein Land gewesen.
Statt dessen habe ich es, seit ich politisch denken kann, immer für Adenauer-Land gehalten.
Als ich 1953, knapp 17 Jahre alt, noch Schüler, Mitglied der Internationale der Kriegsdienstgegner wurde, war dies meine Reaktion auf eine Veranstaltung der IdK zum fünften Todestag des Dichters Wolfgang Borchert. Sein Schmerz, der Schmerz eines vom Hitler-Krieg Gezeichneten, verband sich nahtlos mit meinem eigenen Schmerz: dem Schmerz über den deutschen Militarismus, der schon acht Jahre nach dem verlorenen Krieg wieder Oberwasser hatte.
Nein, ein Hitler-Faschist war Adenauer nicht. Er brachte nur den Klerikalfaschismus der ehema-
ligen katholischen Zentrumspartei in jene neue Volkspartei ein, die in ihrem Namen seit ihrer Gründung im Jahre 1945 das hohe „C“ für christlich führt.
In ihrem ersten Parteiprogramm, dem von Ahlen, verkündete diese CDU 1946 feierlich, der Kapitalismus sei den Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden und müsse daher durch den Sozialismus ersetzt werden. Dies entsprach ganz und gar der Stimmung, die damals im Volke herrschte. Diese Stimmung lässt sich nachträglich auf zwei Aussagen bringen:
1. Nie wieder Krieg! 2. Jetzt ist der Sozialismus dran!
Aber Adenauer war ein Fuchs. Hinter ihm standen jene Wirtschaftskreise, die einst auch Hitler finanziert hatten. Mit ihrer Hilfe holte er das amerikanische Kapital in das ausgebombte Land der drei Westzonen und sorgte für einen kapitalistischen Wiederaufbau.
Winston Churchill, als britischer Premierminister im Zweiten Weltkrieg Verbündeter von Stalin und Roosevelt, sagte 1945: „Wir haben das falsche Schwein geschlachtet!“ Gern hätte er nach dem Sieg über Hitler-Deutschland den Krieg gegen die Sowjetunion fortgesetzt und dafür die Deutschen erneut bewaffnet. „The Germans to the front!“ war allerdings eine Parole, die sich mit dem briti-
schen Volk nicht durchsetzen ließ. Noch im Kriegsjahr 1945 wurde Churchill von den Engländern abgewählt und durch einen „gemäßigteren“ Führer der Labour Party ersetzt.
Auch die Amerikaner waren kriegsmüde. Und die GI’s hatten sich bei ihrem Zusammentreffen mit der Roten Armee an der Elbe gerade mit den Sowjetsoldaten verbrüdert. Wie hätte man ihnen da den Befehl geben können, die Sowjetunion anzugreifen?
Man brauchte also die Deutschen. Hatte Präsident Roosevelt noch davon geträumt, dass die Sowjetunion durch den Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich ausgeblutet sein würde und so mit amerikanischen Krediten auf den Weg zum Kapitalismus zurückgeführt werden könnte, so erkannte sein Nachfolger Truman, der nach Roosevelts Tod 1945 automatisch vom Vizepräsiden-
ten zum Präsidenten geworden war, als Teilnehmer an der Potsdamer Konferenz schnell, dass Stalin andere Pläne hatte, als die Sowjetunion ökonomisch an den kapitalistischen Westen anbinden zu lassen.
Auf dieser Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 hatte Stalin durchgesetzt, dass die Westmächte die Gebietsansprüche der Sowjetunion auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete aner-
kannten. Ebenso mussten die Westmächte die Austreibung der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn akzeptieren. Dass die Sowjetunion nicht nur Bestrafung der deutschen Kriegsverbrecher und Entmachtung der deutschen Militärs verlangte, sondern auch darauf bestand, dass Deutschland ihre Kriegsschäden durch Reparationen, Demontagen und Zerschlagung der Wirtschaftskartelle wiedergutmache, nahmen Truman und Churchill (seit dem 29. Juli 1945 dann durch Mr. Attlee ersetzt) zwar mit den Pokergesichtern von Gentlemen hin. Aber vier Tage später explodierte die amerikanische Atombombe über Hiroshima.
Harry S. Truman war ein harter Wallstreet-Mann. Wenn der kapitalistische Traum, die ganze Welt in einen einzigen amerikanischen Supermarkt zu verwandeln, sich nicht über die Sowjetunion verwirklichen ließ, dann musste er eben gegen die Sowjetunion verwirklicht werden.
So kam es 1947 zur Truman-Doktrin. Mit ihr wurde praktisch der kalte Krieg eröffnet. Europa wurde mit Geldern des Marshall-Plans (Zuschüsse und langfristige Kredite in Höhe von 13 Milliarden US-Dollar) sowie durch gezielte Förderung von Privatinvestitionen des US-Kapitals im Ausland wirtschaftlich wiederaufgebaut und für den amerikanischen Kapitalismus erschlossen. Unterentwickelte Länder wie Griechenland und die Türkei erhielten technische und militärische Hilfe. Außenpolitisch wurde die Sowjetunion durch Militärbündnisse wie Nato und Seato, durch Bekämpfung von Befreiungsbewegungen in den Kolonialländern und durch eine beispiellose Kampagne des Antikommunismus in die Isolation gedrängt. Man nannte das „Eindämmung der kommunistischen Gefahr“.
Dass China sich 1949 von seinem amerikanischen Statthalter Tschiangkaischek befreite, Südkorea als amerikanischer Stützpunkt 1951 nur mit Mühe gegen die Invasionstruppen aus dem Norden gehalten werden konnte und Südvietnam 1975 trotz massiver Unterstützung durch die USA verlo-
ren ging, zeigt zwar die Brüchigkeit der von Präsident Truman 1942 entschlossen eingeleiteten Politik, den Kapitalismus durch Stützpunkte in aller Welt politisch und militärisch durchzusetzen; aber in Westdeutschland war sie erfolgreich genug, die Sehnsucht des Volkes nach Sozialismus zu ersticken.
Gebt einer hungernden, frierenden, notleidenden und typhusverseuchten Bevölkerung eine neue Regierung, die verspricht, Lebensmittelkarten, Bezugsscheine, Tauschgeschäfte und Schwarz-
markthändler abzuschaffen und für Lebensmittel und Klamotten zu sorgen, weil sie gute Bezie-
hungen zu den Besatzungsmächten hat, dann könnt ihr darauf hoffen, dass man euch aus der Hand frisst.
Der Überlebenswille war größer als der Wille zum Sozialismus. Kann man einem Verhungernden verübeln, dass es ihm zunächst mal um seinen Bauch geht? Die Friß-Vogel-oder-stirb-Politik der Amerikaner war darauf angelegt, aus den geschlagenen Deutschen ein Volk zu machen, das amerikanisch lebte, amerikanisch fühlte, amerikanisch dachte.
Schritt für Schritt ging es nun aufwärts. Nach der ersten Fresswelle kam die Bekleidungswelle. Und nachdem man sich für den neuen Schick wieder etwas abgehungert hatte, kam die Couchgarnitur dran, der modische Nierentisch, die neuen Gardinen.
Die Arbeiter wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Ihre Frauen gerieten in Kaufrausch. So gut war es ihnen noch nie gegangen. Bald konnten sie das Fahrrad mit dem Motorrad vertauschen und dann das Motorrad mit dem ersten Kleinwagen. Es gab wieder alles. Da lohnte es sich, die Kinder bei der Oma zu lassen, damit Vater und Mutter als Doppelverdiener schuften und anschaffen konnten.
Wohlstand für alle. Das Zauberwort verfehlte seine Wirkung nicht. Eine ganze Nation zu Leistung, Wiederaufbau und neuem Glauben an den Glitzerglanz des Kapitalismus zu verführen, dazu gehör-
te schon Psychologie. Die amerikanischen Kapitalisten waren geschult in Menschenführung, Mo-
tivforschung, Marketing und Produktmotivierung. Sie schufen das Bild eines Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. So ging der Wallstreet-Traum eines expandierenden Marktes in West-
deutschland ebenso in Erfüllung wie in Japan und Südkorea.
Ja, das Wirtschaftswunder. Wie ist es entstanden? Hatten denn die Deutschen in den drei Westzo-
nen am 21. Juni 1948, dem Stichtag der Währungsreform, nicht schäbige 40 DM pro Kopf in die Hand gedrückt bekommen?
Ja, schon. Aber Santa Claus, der amerikanische Weihnachtsmann, hatte Pate gestanden und sorgte dafür, dass sich das Geld in ihren Händen ständig vermehrte. Jeder Deutsche war bald bis über-
nächstes Jahr in Abzahlungsgeschäfte verstrickt. Die Kaufhäuser richteten Kleinkreditabteilungen ein. Banken und andere Geldinstitute hatten Hochkonjunktur und überall ihre Finger mit drin. Das sorge zwar für eine hohe Inflationsrate, aber auch für Vollbeschäftigung, solange der Markt für immer neue Produkte noch nicht gesättigt war.
Die wundergläubigen Deutschen fielen allesamt auf den alten Finanztrick mit der Kapitalspritze rein. Kaufe jetzt, zahle später machte ganze Familien auf Jahre hinaus zu Abzahlungsschuldnern und Good old Germany zu einem fortschrittsgläubigen Land mit amerikanischer Lebensweise.
Dass die USA das höchstverschuldete Land der Welt geworden sind, haben sie nicht zuletzt den Deutschen zu verdanken, deren Konsum immer höher kletterte. Die Schuldverschreibungen auf die Zukunft sollten irgendwann einmal in einem gemeinsamen Krieg eingelöst werden, der wieder so viel zerstörte, dass wie nach dem Zweiten Weltkrieg neuer Kapitalbedarf für einen neuen Boom sorgen würde.
Für diesen Zweck brauchte man die Hochrüstung. Mit dem Slogan Freiheit hat ihren Preis (von Helmut Kohl heute abgewandelt in Freiheit ist nicht zum Nulltarif zu haben) verkaufte man den alten Militarismus als neue Bundeswehr. Schon 1956 stand diese Wehrmacht, von ehemaligen Hitleroffizieren aufgebaut und ausgebildet, bereit, um (nach einem Wort des damaligen Bundes-
verteidigungsministers Strauß) mit der vereinigten Macht der Nato die Sowjetunion von der Landkarte zu radieren.
Die 40 DM Kopfquote bei der Währungsreform waren unser Spielgeld-Einsatz zur Teilnahme an dem großen Monopoly-Spiel des Nachkriegskapitalismus. Das Besitzstreben sollte uns in Fleisch und Blut übergehen. Haben, nicht Sein, wurde materialistische Orientierung. Die einlullende Phrase vom Wohlstand für alle verdrängte die Idealvorstellung einer sozialistischen Wirtschafts-
demokratie und wurde zur Lebenslüge der Nation.
In Wirklichkeit wurden die alten Reichsmarkvermögen doch zu einem Kurs in DM umgetauscht, der die Reichen von einst samt ihren Kriegsgewinnen zu den ersten Reichen der Bundesrepublik Deutschland machte. Am Tag, der der Ausgabe von 40 DM Kopfgeld an alle nicht vermögenden Deutschen folgte, waren die bis dahin so leeren Geschäfte plötzlich mit Waren gefüllt, die es bis zu diesem Tage, wenn überhaupt, nur auf dem Schwarzen Markt gegeben hatte.
Am 15. September 1949 wählte eine bundesdeutsche Volksvertretung einen dieser Reichen mit der hauchdünnen Mehrheit von 1 Stimme (seiner eigenen) zum ersten Bundeskanzler. Mit ihm wurde eine Politik bestätigt, die Schritt für Schritt die alten Verhältnisse wiederherstellte. Besonders der alte Beamtenapparat, der schon dem Kaiserreich gedient hatte, in der Weimarer Republik das reaktionärste Element darstellte und unter dem Hitler-Faschismus eine Stütze der Macht war, war ungeschoren geblieben und stellte nun das erste Gerüst des neuen Staates dar.
Keine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland verzeichnet bis jetzt ihr Schlüsselerlebnis. Da hatte dieser kleine Vorsitzende der nationalistischen FDP, der auf seinen Wahlveranstaltungen als Ritterkreuzträger aufzutreten pflegte, 1961 damit Stimmen gewonnen, dass er sein Ehrenwort verpfändete, er werde auf gar keinen Fall mit der CDU eine Koalition eingehen, wenn Adenauer Bundeskanzler bleibe. Nun, nach der Wahl wollte er davon nichts mehr wissen und wurde unter Adenauer sogar dessen Vizekanzler. Dass man ihn dafür selbst in seinen eigenen Kreisen als Umfaller beschimpfte, nahm er in Kauf. Der Gipfel aber, den sich diese Demokratie dann leistete, bestand in dem Zynismus, mit dem der Petitionsausschuss des Bundestages die Beschwerde empörter FDP-Wähler abschmetterte: Eine Partei sei nun einmal nicht verpflichtet, ihre Wahl-
versprechungen zu halten, lautete die Antwort.
Adenauer-Land. Das Land der Tüchtigkeit, der Spießer und des Konsumterrors. Das Land der unbewältigten Vergangenheiten.
Wie erfolgreich man hierzulande Fisch- und Beutezüge machen konnte, beweist die Schlagzeile der Boulevard-Presse vom 3. Dezember 1987: „Kaufhaus-König Horten tot! Die Witwe erbt 4,5 Milliar-
den!“
III
Hitler hat den Krieg verloren. In Adenauer-Land wurde die Niederlage in einen nachträglichen Sieg verwandelt.
Da stürzt in der Sylvesternacht ein junger Mann vom Jahrgang 1967 zu Tode. Weshalb ist er nur auf das Dach des Hochhauses geklettert, in dem er wohnte? Natürlich, er wollte sich das maleri-
sche Schauspiel eines nächtlichen Feuerwerks am Himmel von München nicht entgehen lassen. Aber warum dieser Todestrieb?
Hat niemand ihn aufgeklärt über die Geschichte des Militarismus, der dieses Feuerwerk hervorgebracht hat? Ist er gar selbst ein Militarist? In welchem Alter hat man ihm das erste Kriegsspielzeug in die Hand gedrückt?
Mit welcher Faszination hat er die Raketen und Knaller explodieren sehen, als er sich auf den Lichtschacht über dem Treppenhaus setzte? Wollte er dem Tode nahe sein, der hier wie im Fernsehen das Leben farbig explodieren ließ?
Das Glasdach, auf das er seinen Hintern drückte, um nach oben zu schauen, war aus Plexiglas. Es krachte unter ihm zusammen, und er stürzte 8 Stockwerke tief von seinem Egotrip hinunter in das Treppenhaus.
Wird man seinen Tod begreifen? Jahr für Jahr geben die Westdeutschen eine runde Milliarde DM für ihre Sylvesterknallerei aus. Sie geben damit zu, dass sie unglücklich sind.
Wer 1961geboren wurde, weiß nichts von geschichtlichen Zusammenhängen. Der Horizont war schon zugemauert für die Kinder von Adenauer-Land. Bevor sie denken lernten, waren sie schon dressiert, brav zu sein, stubenrein und voller Feindbilder.
Der Wohlstand brachte diese Kinder zur Welt, als wären sie Dinge, die man sich anschafft. Sich ein Kind anschaffen, hieß soviel wie: auf Wohlstand verzichten. Lieber sich kein Kind anschaffen, als in Adenauer-Land den Anschluss zu verlieren an das, was alle haben.
Trotzdem kamen diese Kinder zur Welt. Sie wurden geboren in Kliniken, in denen die Mutter mit Evipan betäubt wurde und das Neugeborene erst erblickte, wenn es bereits gewaschen und ge-
wickelt war. Das ärztliche Personal beherrschte die Geburtstechniken so perfekt, dass es praktisch keine Sonntagskinder mehr gab.
Waren dann die Eltern in der engen Neubauwohnung mit ihrem Baby allein, dann störte sie das Kindergeschrei. Sie stopften sich Oropax in die Ohren und machten sich hart, weil der Kinderarzt ja gesagt hatte, man solle so früh wie möglich damit anfangen, die Kinder abzuhärten. Und auf ärztlichen Rat mussten die armen Würmer Nacht für Nacht durch schreien, damit sich ihre Lungen kräftigten und sie zugleich lernten, dass sie nicht allein auf dieser Welt sind.
Natürlich waren sie allein. Und die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wäre ohne diese Vernachlässigung des Nachwuchses bestimmt anders verlaufen.
Im Umgang mit den Kindern zeigt sich der Geist eines Volkes. Ist er mütterlich, dann liegt ihm das Kinderglück am Herzen und er belastet sie nicht mit Erwachsenenproblemen. Ist er väterlich, dann neigt er zur Strenge, behält aber das Wohl der Kinder gleichwohl im Auge. Ist er aber militaristisch, dann können ihm die Kinder gar nicht schnell genug groß werden, ,,damit etwas aus ihnen wird".
Kleine Erwachsene sollten also schon die Babies sein. Möglichst früh sauber, möglichst brav, möglichst angepasst, aber mit hoher Intelligenz schon im Vorschulalter!
Die körperliche Dressur, der man sie unterwarf, bestand in dem Zwang, auf dem Topf zu sitzen und zu scheißen, wenn man es ihnen befahl. Dagegen sollten sie trotzig ihre Regungen unter-
drücken und die Arschbacken fest zusammenpressen, wenn kein Topf in der Nähe war. Natürlich lernten diese Kinder, sauber zu sein, ehe sie ein eigenes Bedürfnis danach hatten.
Dass etwas in die Hose geht, ist menschlich. Aber der Perfektionismus der elterlichen Erziehung in Adenauer-Land sah dafür grundsätzlich Prügel, Liebesentzug und Verachtung vor.
Ließen diese Eltern, die wir keinesfalls verdammen wollen, nicht ihre Frustrationen über den ver-
lorenen Krieg an diesen Kindern aus? Ist die Barbarei der Sauberkeitsdressur, des Liebesentzugs und der Körperfeindlichkeit nicht das Ergebnis davon, dass ehemalige BDM-Mädchen und Hitler-Jungen keinen Schmerz mehr haben wollten?
Denn zu der Sauberkeitserziehung kam noch die Verachtung der Kindertränen hinzu: „Ein großer Junge weint nicht! Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“
An Hitler hatten sie geglaubt und ihm gehorcht bis zum Esgehtnichtmehr. Dann hatten sie die Zähne aufeinander gebissen und mit bloßen Händen aus den brennenden Häusern soviel zu retten versucht, wie sie mit zwei Pappkoffern wegtragen konnten. Ausgebombt, um ihre Habe gebracht, mit dem Leben gerade noch davongekommen, verzichteten sie auf ihre Jugend. Als Trümmerfrau-
en und Habenichtse richteten sie sich in Kellerwohnungen, in Dachgeschosszimmern und in Wellblechhütten ein.
Ruinenmenschen. Menschliche Ruinen. Wo sollte die Liebe herkommen, die ihnen fehlte?
Der Sozialismus war nur eine Idee. Es wäre ein Wunder gewesen, wäre er mit diesen Menschen verwirklicht worden.
Zu nahe beieinander wohnen im deutschen Menschen die Extreme. Er ist ein Romantiker. Er kann klassische Musik lieben und Antisemit sein. Er kann von der Natur schwärmen und die Flüsse ver-
giften. Er kann sich für Lyrik begeistern und ein Verbrecher sein.
Dies Rätsel zu lösen, bedarf es keiner Mystik. Der Blick auf die deutsche Geschichte seit der Germanenzeit zeigt, wie eng verschlungen die beiden Hauptströmungen miteinander gerungen haben – oft in denselben Menschen.
Die eine dieser beiden Strömungen führt von Siegfried, dem idealistischen deutschen Jüngling, der den Drachen tötet, über Luther, Marx und Engels zum Sozialismus. Die andere Strömung, die ihr genau entgegengesetzt ist, führt von Kaiser Karl dem Großen, dem Sachsenschlächter, und dem Mythos der Kyffhäuser-Sage über das gesamte Mittelalter, Friedrich den Großen, Hegel und Bis-
marck zum Faschismus.
Ist die sozialistische Strömung der Pfad, den das Gewissen in der deutschen Geschichte markiert, so folgt die Blutlinie des Faschismus der fortschreitenden Macht des Establishments.
Steht der Name des sagenhaften Siegfried für den Idealismus, der sich für Ideale einsetzt, so steht der von Luther für den Protestantismus aus Gewissensgründen. Marx und Engels schließlich sind die Vollender der ersten Aufklärung, mit der das Volk vom gröbsten Aberglauben befreit wurde.
IV
Das Volk wollte den Sozialismus, aber es war 1945 zu schwach, ihn auch nur zu verlangen.
Man hatte sich immer mit den Siegern arrangiert, wenn man sich ohnmächtig glaubte. Das war im Dreißigjährigen Krieg so, das war unter Napoleons Knute so, das war so unter Kaiser Wilhelm, unter Friedrich Ebert, unter Hitler wie unter Adenauer.
Bei aller tiefen Friedenssehnsucht, die dem preußischen Militarismus immer zuwiderlief, glaubte man auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin fest daran: „Es hat schon immer Kriege gegeben. Es wird auch weiterhin Kriege geben.“
Dieser Pessimismus kommt aus einem weiteren Aberglauben. Man hat in Deutschland gelernt, Kriege als etwas unvermeidbar Schicksalhaftes hinzunehmen, gegen das man nichts machen kann. Die Klassenkämpfe in Deutschland sind noch nie vom Volk gewonnen worden, und so hat es jene letzte Schlacht nie zu führen gewagt, die dem Faschismus ein wirkliches Ende bereiten würde.
Die Lebenslüge verbreitete sich auch in Adenauer-Land rasch aufs Neue, nachdem die sozialisti-
schen Wünsche dem militaristischen Ungeist erlegen waren. Idealismus, Protestantismus, erste Aufklärung erwiesen sich als viel zu schwach, diesem mutlosen Volk den Rücken zu stärken, als es darum ging, den Herrschenden wenigstens einen Verzicht auf Wiederbewaffnung, Atomrüstung und Eingliederung in den Nato-Block abzuringen.
Man verinnerlichte die Klassenschranken. Ganz gleich, ob man es Volksbetrug nennt, oder ob das Volk es selber war, das sich betrog, es kommt auf das gleiche hinaus: Das Land, in dem die Neu-
rosen blühen, das Land der Lebenslügen, das Land des konformistischen Kleinbürgers, der den Ton angibt, die Normen der Gesellschaft bestimmt, das Establishment ideologisch absichert, ist Adenauer-Land.
Der Wohlstand hat dazu beigetragen, alles zu verharmlosen, was politisch gespielt wurde. Wer fest daran glaubt, dass der nächste Krieg sowieso bald kommt, der richtet sich ein im Bestehenden. Er wird ein Egoist, der seine Ellenbogen gebraucht und dickfellig an der Oberfläche seiner Verdrän-
gungen lebt.
Was ist das Hauptkennzeichen der Lebenslüge? Dass der Mensch aufhört, nach dem Sinn seines Lebens zu suchen. dass er nicht danach strebt, sein Leben sinnvoll zu leben. dass er sich anpasst und vermaßt.
Die Hauptschwäche des Volkes in der Bundesrepublik Deutschland ist seine Anpassungsneurose. Sie drückt sich aus in einer Vielzahl von individuellen Lebenslügen.
Beispiele dafür sind, die Lebenslüge der Bescheidenheit („Man ist zufrieden“, „Hauptsache, man ist gesund“); die Lebenslüge des karrierebewussten Managers („Wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer!“, „Ich bin halt so!“); die Lebenslüge der Bequemlichkeit („dass ich mich da rum-
streit!“, „Damit müssen wir leben!“); die Lebenslüge der Anständigkeit („Immer Mensch bleiben, sag ich“, „Für sein Aussehen kann ein Mensch ja nichts!“); die Lebenslüge des Jugendprotestes („Let’s quetsch!“, „No Future“, „Null Bock auf nichts“).
Man ist stolz darauf, sein eigener Herr zu sein. Man ist zu stolz, sich helfen zu lassen. Man bricht lieber zusammen, als etwas anzunehmen, wofür man nichts geleistet hat.
Man lebt nach der Vorstellung, dass jeder sich selbst der Nächste ist. Wem es schlecht geht, der
hat selber schuld. Hinter der Fassade der Freundlichkeit sitzt der Faschismus der verinnerlichten Klassenschranken: „Komm mir bloß nicht zu nahe!“
Wer so analysiert, kommt leicht in Verdacht, ein Volksfeind zu sein. Es geht aber nicht ab ohne die nüchterne Feststellung, dass dieses Volk in einer Art Narkose lebt, will man als Linker politische Veränderungen erreichen.
Die Gewaltfrage ist nicht beantwortbar, ohne sich um den Zustand des Volkes zu kümmern. Wenn das Volk Gewalt anwendet im Klassenkampf, hat das eine andere Qualität, als wenn ein paar dumme Anarchisten Molotowcocktails werfen oder gar Polizisten erschießen.
Die Schwächen des Volkes und seine Angst vor gewalttätigen Auseinandersetzungen zu kennen, darf also nicht dazu verleiten, stellvertretend für das Volk Gewalt anzuwenden. Gerade als Linker darf man in der Praxis immer nur so weit gehen, wie das Volk es will.
An zwei Beispielen in den letzten beiden Jahren haben wir das Volk von seiner starken Seite kennengelernt. Da wurde dieser Güterzug mit dem radioaktiv verseuchten Molkepulver in einer nächtlichen Aktion von Bayern ins unterentwickelte Emsland gefahren. Umweltschützer bekamen davon Wind und alarmierten die Einwohner von Meppen. Sie liefen zusammen und blockierten, Rechtsstaat hin, Rechtsstaat her, die Geleise. Sie warteten die ganze Nacht, Frauen und Greise eingeschlossen, und rissen dem Fernsehreporter das Mikrofon aus der Hand, um ihre Empörung auszudrücken. Die Regierung musste nachgeben und sitzt heute noch auf ihrem verseuchten Molkepulver.
Das zweite Beispiel ist das Scheitern der Volkszählung. Auch hier hat sich das Volk aufgelehnt und sich nicht für dumm verkaufen lassen.
Stärke beweist dieses Volk immer dort, wo es die Machtverhältnisse richtig einschätzt und weiß, dass es gewinnen kann.
Gewiss ist der Volkswille in Adenauer-Land immer manipuliert worden. Die psychologische Kriegsführung hat sich stets der raffiniertesten Methoden bedient, um dem Volk Angst vor sich selbst zumachen. So hat es den Anschein, als lebten wir im Land der Mainzelmännchen, indem es nur Gartenzwerge braucht zum Regieren. In Wirklichkeit ist dieses Volk reifer für den Sozialismus, als die ungeduldigen Linken denken.
Es verlangt nicht nach Helden. Es will keine Märtyrer. Es sucht nach einem Weg, der aus den Sackgassen des Kapitalismus hinausführt.
Dieser Weg beginnt überall dort, wo Menschen ihre Privatheit überwinden und gemeinsam mit anderen etwas tun, wozu sie allein nicht den Mut hätten. Nur muss es sich um Aktionen handeln, die das System in seinen Schwächen treffen und nicht dort angreifen, wo es stark ist.
Die Glaubwürdigkeit der parlamentarischen Demokratie wird immer mehr zur Schwachstelle des Gesamtsystems. Wo den Politikern die Argumente ausgehen, um ihre Politik zu rechtfertigen, da richten sie beschwörende Worte an das Publikum, doch bitte Verständnis zu haben für die momen-
tane Panne, man werde die Schuldigen feststellen und unnachsichtig zur Verantwortung ziehen.
Die zweite Schwäche ist die Arbeitslosigkeit. Keine Regierung weiß ein Rezept, wie man die zwei Millionen Menschen wieder in das Arbeitsleben eingliedern könnte; und so reift hier ein Problem heran, das nur durch Sozialismus zu lösen ist.
Die dritte Schwäche betrifft das Gesundheitswesen. Ständig werden die Kassenbeiträge erhöht und die Leistungen vermindert. Das Loch entsteht aber nicht durch die hohen Arzthonorare, sondern durch die Medikamentenkosten, die der chemischen Industrie Monopolgewinne einfahren.
Weitere Schwächen betreffen die Stahlkrise, die Atommüllskandale, das Waldsterben und die Gewässerverschmutzung. Statt hier, wie die Grünen es jetzt tun, der Regierung Lösungsvorschläge zu machen, sollte man die Schwächen ausnutzen für Aufklärungskampagnen im Volke.
Was tun? ist hier die Frage. Wir müssen die erste Aufklärung durch eine zweite Aufklärung fort-
setzen. War die erste Aufklärung eine Sache der praktischen Vernunft, die das Volk als Subjekt der Geschichte einsetzte, so muss die zweite Aufklärung an den verinnerlichten Klassenschranken ansetzen, um den einzelnen Menschen zu befähigen, sich selbst als handelndes Subjekt zu begrei-
fen.
Geschichtsbewusstsein muss den Glauben an die Macht des Kapitalismus und seiner Gewalt überwinden. Dieser Kapitalismus durchläuft gerade den Niedergang seiner dritten Entwick-
lungsphase.
Die erste Phase, die Marx analysiert hat, war der Manchesterkapitalismus. Die zweite Phase,
die Lenin analysiert hat, war der Tycoon-Kapitalismus. Die dritte Phase, die Baran und Sweezy analysiert haben, ist der Giant-Corporation-Kapitalismus.
War die Marx-Stufe charakterisiert durch die beiden Faktoren Arbeit + Kapital, so trat auf der Lenin-Stufe zu Arbeit + Kapital der Faktor Informationen hinzu. Darunter ist zu verstehen, dass zu dem technischen Knowhow von Arbeit und Kapital das Wissen über Marketing, Motivforschung und Krisenmanagement hinzutrat und der Staat zur Erhaltung des Gesamtsystems die Macht zur Lenkung der Wirtschaftskonjunktur erhielt.
Gerade der Tycoon-Kapitalismus gefährdete mit seiner heftigen Konkurrenz, seiner Monopol-
bildung, seinen Kartellen und seinen faschistischen Tendenzen das Gesamtsystem so sehr, dass staatliche Gegensteuerung nötig wurde.
Auf der Giant-Corporation-Stufe ist der Kapitalismus indes zur Weltwirtschaft geworden, die auch zurückgebliebene Volkswirtschaften in den Finanz- und Kapitalkreislauf einbezieht, um sie auszu-
beuten.
Auf dieser Stufe ist zu den Faktoren Arbeit + Kapital + Informationen der Faktor Innovationen hinzugetreten. Darunter ist die Fähigkeit der Multinationalen Konzerne zu verstehen, sich an neue Verhaltensweisen und Konsumgewohnheiten rechtzeitig anzupassen und mit immer neuen Pro-
dukten darauf zu reagieren.
Auf dieser Stufe braucht der Kapitalismus die Parlamentarische Demokratie, um eine leicht lenkbare, manipulierbare Masse von Konsumenten mit immer neuen modischen Einfällen zu „beglücken“. Polizeistaatsmethoden oder gar Diktaturen atmen nicht jenen Chic von Individua-
lismus und persönlicher Freiheit, die den perversen Charme des Kapitalismus in seiner dritten
und letzten Entwicklungsphase ausmachen.
Dieser Kapitalismus stirbt einen schönen Tod. Sein Zwang, selbst das menschliche Elend wirt-
schaftlich nutzbar zu machen, verwandelt die Erde in eine Leichenhalle mit toten Seelen. Wie Schlafwandler bewegen sich die Menschen durch seine Terminals und starren gebannt auf das Schauspiel des Weltuntergangs.
Der Luxus mündet geradewegs in den Krieg der Sterne. Der wirtschaftliche Erfolg schafft den atomaren Untergang. Der Overkill wird nur noch übertroffen durch das Inferno eines Kriegs mit Giftgas, Viren und Bakterien.
Ja, das Volk hat schlechte Karten auf der Hand. Kann es mit einem Kreuzbuben und einer Pikdame die stolzen Asse der Apokalypse überstechen? Das kommt darauf an, ob es weiß, was überhaupt gespielt wird.
Ein Perspektivenwechsel ist notwendig. Statt die Macht in den Händen der Obrigkeiten anzustar-
ren, muss das Volk begreifen, welche Möglichkeiten ihm geblieben sind. Wer glaubt, dass seine Hände gebunden sind, dessen Hände sind gebunden.
Der Giant-Corporation-Kapitalismus hat die Phantasie zu einer Trumpfwaffe gemacht. Ideen sind eine Produktivkraft, ohne die das Kapital nicht mehr auskommt. Markenzeichen und Firmenimage bestimmen die Produktenwerbung. Das Fernsehen ist ein perfekter Werbeträger. Kreativität heißt heute: Der Kapitalismus beutet die Phantasie des Volkes aus. Seine Manager werden ständig ge-
schult, um in Kreativitätsseminaren diese psychologische Ausbeutung zu erlernen.
Mit Volkshochschulkursen ist dagegen nicht anzukommen. Eine sozialistische Phantasie muss die Effekte der Macher dort treffen, wo sie entstehen: im eigenen Herzen.
Machwerke täuschen uns mit Kunstfertigkeit. Man muss nur einmal miterlebt haben, wie lange es dauert und wie viel Technik nötig ist, bis eine Filmszene jenen Perfektionsgrad erreicht hat, dass sie auf der Leinwand oder auf der Mattscheibe „natürlich“ wirkt, um ernüchtert zu sein. Was als Endprodukt für den Konsumenten so spontan, so locker und leicht aussieht, das ist das schweiß-
treibende Werk tagelanger Kollektivarbeit.
Krampfhaft wird etwas auf schön getrimmt, was in Wahrheit das Produkt von Leistungsangst, Primitivität, Lampenfieber und Zynismus ist.
Dabei ist diese Produktion von Illusionen, die wir der Fernseh-, Film- und Werbeindustrie verdanken, der Schlüssel zum Verständnis, wie der moderne Kapitalismus funktioniert.
Wenn wir eine Unterhaltungsshow von Mike Krüger schon dadurch entlarven können, dass wir sie in einer Sporthalle live miterleben, dann können wir das auch, indem wir ihm auf der Mattscheibe den Ton abdrehen.
Was sehen wir, wenn der Ton ausfällt? Wir sehen all das, was wir eigentlich nicht sehen sollen – das, was ein Blinder mit dem Krückstock sieht: all das Gemachte, Verkrampfte, Minderwertige, das sonst so schnell an unserem Auge vorüber huscht, dass wir es glatt übersehen.
Warum sehen wir es nicht, wenn der Ton läuft? Weil die menschliche Stimme die Fähigkeit besitzt, zu manipulieren.
Diese Manipulation müssen wir durchbrechen. Wir müssen ihre Wirkung aufheben, indem wir sie verfremden. Der Verfremdungseffekt war ein wichtiges Stilmittel von Bertolt Brecht, der damit das bürgerliche Illusionstheater überwinden wollte.
Übertragen wir den V-Effekt von Brecht auf den modernen Kapitalismus, dann fällt es uns wie Schuppen von den Augen – wir werden nicht mehr eingelullt, eingeschüchtert oder in Angst getrieben, sondern fangen zu lachen an.
Ist es nicht komisch, wenn wir entdecken, wie ein Graf Lambsdorff ständig bemüht ist, sein Holz-
bein zu verbergen? Wie jede Politikerrunde im Fernsehen den steifen Unterleib verbirgt? Wie die fünf Wirtschaftswissenschaftler, die man auch die Fünf Weisen nennt, bei der Übergabe ihres „Jahresgutachtens“ krampfhaft darauf achten, nicht den Teppich zu betreten, auf dem der Herr Bundeskanzler steht?
Ja, schaltet dem Kapitalismus den Ton ab, dann schärft ihr euren Blick für das Detail. Dann lasst ihr euch nicht mehr ablenken von dem rhetorischen Glanz gemachter Worte. Jeder Manager, jeder Politiker, jeder Kapitalist ist heute ein Schauspieler. Seine Unglaubwürdigkeit tritt zutage, wenn der Blick geschult ist, das zu sehen, was nicht stimmt, und das Ohr der Inneren Stimme lauscht, die das Gesehene kommentiert.
Der moderne Kapitalismus, den wir mit Baran und Sweezy den Giant-Corporation-Kapitalismus nennen, arbeitet mit der perfekten Täuschung. Er narkotisiert das kritische Bewusstsein.
Seine Gewalt saugt dem Konsumenten das Mark aus den Knochen. Er stimuliert Kaufwünsche, wo gar keine sind, und lässt ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen, wenn er gar keinen Hunger hat.
Massen sind ihm hilflos ausgeliefert. Sie reagieren wie auf Knopfdruck, weil ihre Reaktionen bereits vorher getestet und abgecheckt worden sind.
Der gläserne Mensch – das ist der Mensch in der Masse. Seine Reaktionen sind vorhersagbar; seine Verhaltensweisen sind wissenschaftlich erforscht; seine Gefühle werden kontrolliert von großen Computern in den Machtzentralen der Multinationalen Unternehmen.
Diese Macht pokert mit uns. Sie lässt uns immer mal wieder gewinnen, damit wir nicht die Karten hinschmeißen. Aber im Grunde spielen wir immer gegen die Bank, die wir nicht sprengen können.
Das liegt an den Spielregeln, die nicht wir, sondern sie bestimmen. Das abgefeimte Spiel, das sie mit uns allen treiben, ist wissenschaftlich ausgeklügelt und beruht auf jener Schule, die sich noch heute Psychoanalyse nennt. Ihr zur Seite steht die Verhaltensforschung, die den Menschen auf abrufbare Reaktionen reduziert hat, seine Motive konditioniert und seinen Körper programmiert.
So wie die Psychiatrie heute ohne Zwangsjacke und Elektroschock auskommt, so kommt der Giant-Corporation-Kapitalismus ohne Polizeistaat und Diktaturen aus.
Seine Zwangsmittel sind die sanfte Gewalt: Massenmedien, Imagepolitik, Beschwichtigungen und Sprachregelungen.
Aus jedem Lautsprecher tönt es jetzt: Wir bitten um Ihr Verständnis. Das ist die Formel, mit der uns jeder Hinz und jeder Kunz nun höflich Schuldgefühle machen kann. Denn haben wir für die Panne, die uns überhaupt nicht erklärt wird, mal kein Verständnis, sondern murren, dann kommt das programmierte Überich und deckt den Protest zu, indem es sagt: „Hab dich nicht so! Pass dich an! Sei nett!“
Leider haben wir in Tschernobyl eine technische Störung. Wir bitten um Ihr Verständnis. Leider arbeiten in den Atomfabriken von Nukem und Alkem bestechliche Menschen. Wir bitten um Ihr Verständnis.
Reg dich nicht auf, heißt die Botschaft. Hör nicht auf dein Gewissen. Im Stil der neuen Zeit sollst du genießen. In der Welt der Peter Stuyvesant willst du doch kein Außenseiter sein …
Das sind die Programme des Computers von Exxon. Dieses Wort bezeichnet einen Multinationalen Konzern, der unser Leben in Adenauer-Land beherrscht. Seine Firmenbezeichnung ist ein Compu-
terwort, das in keiner Sprache der Welt eine anstößige Bedeutung hat.
Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt ist keine schlechte Bezeichnung für die perfekte Täu-
schung, die gerade der Exxon-Computer mit uns als Menschen treibt. Er kreiert literarische Moden ebenso wie Comic-Figuren, hebt eine Philosophie der Postmoderne und der postindustriellen Gesellschaft ebenso aus der Taufe wie eine Theologie ohne Gott und eine Theologie der Befreiung. Er liefert katholische Innovationen ebenso wie evangelische, sorgt für chinesische Stahlwerke ebenso wie für nicaraguanische Contras.
Wenn alle plötzlich das Wort konterkarriert in den Mund nehmen, wo sie bisher Protest gesagt haben, dann liegt das an der Gleichschaltung durch den Exxon-Computer. Wenn selbst die letzte Frau sich nicht mehr ausschließen mag und modebewusst-stromlinienförmig … und … und … und stammelt, wo sie gestern noch brav und so weiter gesagt hat, dann zeigt das, wie ein einziger Com-
puter ausreicht, mit der Sprache zu herrschen.
V
Die zweite Aufklärung hat zunächst einmal zu erforschen, welche Bedürfnisse der Kapitalismus unbefriedigt lässt.
Wenn wir davon ausgehen, dass Kaufwünsche Ersatzbefriedigungen darstellen und dass Ersatz-
befriedigungen unbefriedigte Bedürfnisse verdecken, dann müssen wir diese unbefriedigten Bedürfnisse ins Bewusstsein zurückholen.
Das Bedürfnis nach Liebe, das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, das Bedürfnis nach Freiheit, das Bedürfnis nach Brüderlichkeit, das Bedürfnis nach Selbstvertrauen, das Bedürfnis nach Selbst-
erkenntnis, das Bedürfnis nach Orgasmus, das Bedürfnis nach sinnvoller Arbeit, das Bedürfnis nach voller Abrüstung, das Bedürfnis nach befriedigender Lektüre – zehn Bedürfnisse, die nur der Sozialismus befriedigen kann.
Die Friedensbewegung ist ein erster Ansatz zu einer sozialistischen Bewegung. Sie muss nur erkennen, wo sie bis jetzt verstrickt geblieben ist mit dem Kapitalismus.
Was wir von der Friedensbewegung brauchen, ist eine Orientierung an gesellschaftlichen Zielen, die über die Atomwaffen-Abrüstung hinausgehen. Was wir von der Friedensbewegung fordern, ist, dass sie sich um die Arbeitslosen kümmert und damit das Grundproblem des Kapitalismus an der Wurzel packt.
Was die Friedensbewegung lernen muss, ist das Engagement für das Volk. Sich mit sozialen Fragen in die Nesseln setzen beim Establishment heißt nicht, dass man beim Volk betteln geht. Es bedeu-
tet aber, den Kampf in Mutlangen und anderswo zu ergänzen durch eine neue programmatische Zielsetzung: den Abbau des Faschismus in der Arbeitswelt.
Dort, wo man sich mit Hilfe der Computerprogramme auf den Chefetagen arrangiert hat mit der Friedensbewegung, muss eben diese Friedensbewegung weitergehende Forderungen stellen. Dort, wo sie bei den Chefetagen auf Widerstand stößt, muss sie das Volk zu Hilfe rufen, dessen Bedürf-
nisse und Interessen sie vertritt.
Mit der Gewalt des Volkes drohen, heißt nicht, Gewalt anzuwenden.
Das gilt noch mehr für die Schriftsteller. Wo ist die engagierte Literatur, die die Probleme des Volkes im Sinne der zweiten Aufklärung durchleuchtet? Wo ist ein neuer Leonhard Frank, ein neuer Brecht, ein neuer Werfel, ein neuer Remarque?
Was wir brauchen, sind nicht Kopien der Werke, deren Autoren stellvertretend für viele andere Schriftsteller stehen, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit dem Volk gelebt und gelitten haben. Was wir brauchen, geht über die Innerlichkeit wie über die Sachlichkeit früherer Sozialkri-
tik hinaus.
Engagierte Literatur heute geht aus von einem einzigen Begriff: Authentizität. Sie wendet sich ab von der Herstellung literarischer Kopfprodukte und wendet sich dem sozialen Leben zu, ohne in den Fehler zu verfallen, einfach nur abzulichten, was passiert.
Engagierte Literatur greift die verinnerlichten Klassenschranken an. Sie gibt Antworten auf die immer wieder gestellte ungestellte Frage: Was tun? Sie erzählt Geschichten von handelnden Menschen, die sie nicht erfindet, sondern aus dem Alltagsleben holt. Authentisch ist die Kneipe, der Arbeitsplatz, das Kino, das Bildungserlebnis. Authentisch ist der Mensch, der im Spannungs-
feld seiner nicht mehr privat zu nennenden Probleme steht.
Nicht Horrorgeschichten interessieren uns, sondern Geschichten, die Mut machen. Formale Probleme haben zunächst zurückzutreten vor den inhaltlichen. Die Form kommt, wenn das Sprachgewissen geschärft ist.
Auch diese Zeitschrift hat das Problem noch nicht gelöst, wie man die zweite Aufklärung spannend genug erzählt, dass man die Sprachregelungen durchbricht. Wir brauchen kritische Leser, denen wir Mut machen, es selber mit dem Schreiben zu versuchen. Dann wäre dieser lange Artikel Anstoß zu einer literarischen Bewegung, die der Friedensbewegung parallel läuft.
So, wie ich jedem ein Stück Sahnetorte zu spendieren verspreche, der mir in diesem Aufsatz einen Deutschfehler oder einen Stilbruch nachweist, so verspreche ich, mich über jeden Schriftsteller-
kollegen und jede Schriftstellerkollegin zu freuen, die meinem Beispiel folgen und einen Schreib-
kurs für Anfänger aus dem Volk einrichten.
Das Establishment hat Rom nicht in einem Tag gebaut. Der Sozialismus bedarf der Anstrengung vieler, die Philosophie der Gewalt zu transformieren.
Hans Werner Saß
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Empfehlenswerte Literatur zum Thema Gewalt:
Paul A. Baran/Paul M. Sweezy, Monopolkapital, ein Essay über die amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1967.
AG Atomindustrie, Wer mit Wem in Atomstaat und Großindustrie, Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1987.
Jürgen Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Studien, 6 Bände, Pahl-Rugenstein Verlag Köln 1980 – 1987.
Otto Rühle, Die Revolutionen Europas, 3 Bände (Erstdruck Dresden 1927). Focus Verlag Wiesbaden 1973.
Der Zeitgenosse. Zeitschrift der Aktion Lebensqualität 2, München 1988, 2 ff.