Materialien 2015
Putsch oder Sezession
Die Union teilt sich – ihre Aufgaben
Auch wenn die Kanzlerin sich redlich bemüht rhetorisch wie ein Fels in der Brandung zu stehen: Das Getöse um sie herum lässt nicht nach. Die Aufwallungen in den Unions-Parteien schaukeln sich hoch: Der Brandbrief von 34 ihrer eigenen Parteifreunde und die Drohungen aus der baye-
rischen CSU mit Grenzschließung, Transitzonen und Verfassungsklage nagen an ihrer Standfestig-
keit. Es wird geseehofert und gegauweilert, dass es södert und stoibert wie auf der Dorfkirmes beim Schlamm-Wrestling. Angela Merkel gab sich bisher standhaft. Im Lutherjahr macht sich das für eine Pastorentochter auch ganz gut: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“
Doch tatsächlich lässt sie sich sanft abschieben von ihrer ursprünglich klar und deutlich formulier-
ten Position. Mit dem kürzlich im Schnellverfahren durchgepeitschten „Asylverfahrensbeschleu-
nigungsgesetz“ ist sie den Rechten schon sehr entgegen gekommen. Doch nicht genug: Seehofer legte nach mit einem Ultimatum zum Halloween-Wochenende, bis es heißt: Und sie bewegt sich doch!
Bisher war sie eine Getriebene. Bald sollte sie sich wie eine Vertriebene vorkommen, ginge es nach dem Willen der Grundgesetz-Abtrünnigen und Flüchtlings-Widersacher. Dann wäre das hier nicht mehr ihr Land. Aber soweit wird es nicht kommen. Dazu kleben die Unionsparteien viel zu sehr an der Macht. Nach 12 Stunden Verhandlungen haben sie sich auf „Transitzonen“ geeinigt, allerdings ohne Gabriel, der sich nach zwei Stunden ausklinkte. Die zankenden Schwestern spielen derweil mit verteilten Rollen dasselbe Schurkenstück: Zustrom-Beschränkung durch Asylrechts-Ein-
schränkung, um den Druck gegen die Sozialdemokraten zu lenken.
Auch wenn diese Schmierenkomödie mit den Flucht-Notwendigkeiten und deren harten Realitäten diesseits und jenseits der Grenze wenig zu tun hat, sollen diese „Transitzonen“ exterritoriale Gebie-
te an den Grenzen schaffen, die noch nicht als Deutschland gelten. Aus denen soll es für Flüchtlin-
ge aus „sicheren Herkunftsländern“ keinen Ausweg mehr geben als den Weg zurück nach Öster-
reich, und von dort aus die ganze Balkanroute retour. Hinter die Bühnen-Dekoration wird kaum geblickt. Denn das hieße: Ein Grenzstreifen Deutschlands würde zum Niemandsland deklariert, als Sperrgebiet abgetreten zur Jagd auf „Illegale“. Ohne Absperrungen machte das „Jagdgebiet“ wenig Sinn; es würde ein Freiluft-Gefängnis entstehen mit abgeriegelten Selektionszentren, ein riesiger Knast.
Die Lage der Flüchtenden ist beklemmend, angesichts des bevorstehenden Winters lebensbedroh-
lich. Sollen sie mit Sack und Pack durch eiskalte Bäche waten und sich den Tod holen irgendwo zwischen Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich und Deutschland? Sollen sie im Matsch triefen und frierend ausharren, bis ihre Kinder sterben? Das dürfte grausige Bilder vergeblicher Herbergsuche zeitigen zum rührseligen Weihnachtsfest. Schuld sein würden die Christdemokraten und Christsozialen, die sich auf dem Rücken jener Unglücklichen rangeln, deren Flucht die logische Folge einer Kriegspolitik ist, die sie immer brav mit getragen haben, jedes Jahr mit erneuter Verlängerung der Bundeswehr-Auslandseinsatz-Mandate, zusammen mit SPD und Grünen.
Die Folgen waren von Anfang an so absehbar wie der jetzige Streit um den Umgang mit den Opfern ebendieser NATO-Politik. Kriege zu führen oder mit Waffenlieferungen zu befeuern verursacht menschliches Leid. Das hätten sie wissen können. Dennoch beteiligten sich deutsche Mandatsträ-
ger an jedem Konflikt, den die USA und ihre Verbündeten schürten im Nahen und Mittleren Osten, auch in Afrika. Die große Mehrheit der Asylsuchenden kommt aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, aus Somalia und dem Jemen, dort wo der Musterverbündete Saudi-Arabien Krieg führt und den IS finanzieren lässt von reichen wahabitischen Großfamilien der Golf-Staaten.
Anstatt Druck auf die türkische Regierung auszuüben, ihr schmutziges Doppelspiel bezüglich Syrien zu beenden, nämlich einerseits dem IS seit Jahren sichere Rückzugsräume, Rekrutierungs-
felder und Finanzierungsquellen durch Erdölschmuggel zu gewähren und andererseits hauptsäch-
lich den Terror gegen Kurden und die linke Oppositionspartei HDP zu intensivieren, ließ sich Angela Merkel mit ihrem Bittsteller-Besuch zur Flüchtlingsabwehr in die heiße Phase des anti-
demokratischen Wahlkampfs der AKP einspannen.
Die menschenrechtsverletzende Erdogan-Türkei zum „sicheren Herkunftsland“ umzulügen, ist an Heuchelei kaum zu überbieten. Den Irakkrieg 2003 wollte Frau Merkel noch offen mit Bundes-
wehr-Truppen geführt sehen, während Schröder und Fischer ihn hinter den Kulissen real führbar gemacht gemacht haben. Deutschland hat umfassend Kriegsbeihilfe geleistet zur Zerschlagung des einst säkularen Irak und damit zur Ausbreitung des religiös verbrämten IS-Terrors, der von dort auf den Bürgerkrieg in Syrien übergriff.
Selbstverständlich muss, wer Waffen liefert, damit rechnen, dass sie irgendwo und irgendwann eingesetzt werden. Erst wenn ganze Länder verwüstet und zertrümmert sind, sehen sich Waffen-
exporteure mit den blutigen Konsequenzen ihrer Lieferungen konfrontiert. Es schien sie wenig zu kümmern, solange es dem Geschäft zuträglich war. Doch nun kommen massenhaft Regress-An-
sprüche ins Haus: Flüchtlinge gehen zu den Urhebern und Mitverursachern der Katastrophen, weil die ihre Häuser, ihre Existenz zerstört haben. Eigentlich ganz einfach nach dem Verursacher-Prin-
zip. Nur sind die USA und Kanada eben zu weit weg, um dorthin zu gelangen.
Also muss Europa einspringen. So läuft die internationale Arbeitsteilung momentan. Hat man
von Seehofer je eine Brandrede gegen die USA gehört, ein Aufbäumen gegen die Kriegspolitik der NATO-Staaten gesehen, einen Einspruch gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr vernommen? Hat er sich gegen Export-Aufträge an Krauss-Maffei-Wegmann eingesetzt? Oder die Rüstungs-
industrie in Bayern kritisiert? Hat er nicht. Seehofer ließ seine Jasager beim großen Kriegsgeschäft immer zustimmen. Keinerlei Vorbehalte aus der bayerischen Staatskanzlei zu keiner einzigen der zahlreichen Gewalt-„Missionen“, zu denen in Berlin getrommelt wurde. Aber jetzt traut er sich gegen die Betroffenen dieser Militärschläge auf den Putz zu hauen, um diese gleich an der Grenze zu inhaftieren.
Ein tapferer Christ, wie er im Gebetbüchlein steht! Ein scheinheiliger Katholik, wie ihn der Papst vielleicht in Ungarns Regierung verorten würde. Tatsächlich plauschte er mit dem Stacheldraht-
Orban sehr einvernehmlich. Er sieht ihn als Grenzwächter Europas. Nun mimt er selbst den ober-
sten Grenzschützer Deutschlands. Anstatt ein zukunftsweisendes, bedarfsgerechtes Wohnungsbau-Programm in Ballungsgebieten anzukurbeln, lässt er an weißblauen Grenzpfählen die Rolläden herunter. Er droht und erpresst wie ein kleiner Bub die Mutti: Entweder du lässt die Bundespolizei alles komplett dicht machen, oder ich verhafte sie alle kurz dahinter.
Seine „Transitzonen“ wären Gefängnisse, die mit dem geltenden Asylecht beim bösesten Willen nicht in Einklang zu bringen wären. Internierungs-Anstalten an europäischen Binnengrenzen ge-
rieten auch mit dem Schengen-Abkommen in Konflikt. Die eigenmächtige Grenz-Abriegelung durch bayerische Polizei wäre zudem eine eher theoretische Luftnummer mangels Personalstärke. Es sei denn, die zöge sich aus ihren angestammten Einsatzrevieren völlig zurück und überließe das Land sich selbst. Was die Befürchtungen vor Kriminalitäts-Zuwachs anbeträfe: Eine Garantie zum Aufstand in der sicherheitsbesessenen CSU selbst. Also Quatsch von Horsti.
Nächste Keule: Die bayerische Klage vor dem Bundesverwaltungs-Gericht, eine höchst unwirksa-
me, zwar „nachhaltige“, aber akut hilflose Geste, denn die Verfahren dauern Jahre. Und wen wollte der kleine Auftreiber denn verklagen: Sich selbst? Seine CSU sitzt doch auch in der Bundesregie-
rung. Also schon wieder ein Ofenschuss. Aber der rebellische Rabauke gibt nicht auf: Er könnte Mutti die Vertrauensfrage stellen lassen. Ha! Damit hätte er sie, denkt er. Doch die macht keinerlei Anstalten, ihn damit zu disziplinieren.
Dann könnte er ja auch noch die Koalitionsfrage stellen. Allerdings wäre der Abzug seiner CSU-Mi-
nister vom Kabinettstisch der Beginn des endgültigen Bruchs mit der CDU, den er eigentlich nicht will, quasi ein Kreuth 2.0. Die Rechnung ginge überhaupt nicht auf. Merkel könnte zwar mit der SPD weiterregieren, aber die CSU hätte dabei nichts mehr zu schnabeln. Bei Neuwahlen bekäme die CSU bei bundesweiter Ausweitung laut einer Insa-Umfrage gerade mal 14,5 Prozent, die CDU fiele von 34,1 Prozent (2013) auf 27,5 Prozent, also nicht genug ohne weitere(n) Koalitionspartner. Ob die Grünen sich zu solch einem für sie selbstmörderischen Regierungswechsel hergäben, darf trotz ihrer „realpolitischen“ Anpassungsfähigkeit bezweifelt werden. Vor allem in Bayern wäre es mit der Selbstherrlichkeit der CSU allemal vorbei: Eine von der CDU abgespaltene CSU bekäme voraussichtlich 30,5 Prozent, die verschmähte Schwester CDU könnte immerhin 16 Prozent baye-
rischer Wählerstimmen erwildern. Also auch keine wirkliche Option.
Was gäbe es denn noch unterhalb dieser hohen Schwelle des Abrutschens in Bundes-Bedeutungs-
losigkeit? Ach ja, die Politik der kleinen Nadelstiche! Die beherrscht die CSU vortrefflich. Bald ist Parteitag. Das Grußwort der Kanzlerin am 21. November wäre so eine Gelegenheit, die man strei-
chen könnte. Oder ein vorübergehender Boykott der Kabinettssitzungen in Berlin. Wer soll dann aber dort im Sinne von Horsti sticheln und Zunder geben? Sich den letzten Einfluss auf die Bun-
despolitik zu verkneifen wäre eher dumm.
Die Lächerlichkeit des unwürdigen Gestrampels setzt sich schier unendlich fort: Zwar hat der Horst Pfeile im Köcher, doch einer ist stumpfer als der andere. Die Keule der „bayerischen Not-
wehr“ schwingt er derzeit bedenkenlos ohne zu gewärtigen, dass sie ihm vielleicht auf den feisten Kopf schlagen würde: Würde Bayern tatsächlich Tausende Flüchtlinge per Bus oder Bahn unange-
meldet in andere Bundesländer bringen lassen, wären darüber selbst die aufmüpfigsten CDU-Kol-
legen nicht gerade erbaut. Horst wäre allein.
Bleibt nur noch die Hoffnung auf einen Kompromiss auf dem Rücken der Asylsuchenden. Dann müsste man die „Transitzonen“ nur umbenennen in „Reisezentren“ oder „Willkommenszentren“ ohne Haftcharakter, wie die SPD das will, was freilich nur dazu führen würde, dass abgelehnte Asylbewerber sich absetzen und auf eigene Faust durchschlagen müssten. Die Abschottung wäre dahin und das Patent dafür bei der SPD. Nicht einmal das könnte der stramme Horsti dann noch als seinen persönlichen Erfolg ausgeben.
Vielleicht könnte er noch beim Thema Schnellere Abschiebungen etwas für sich herausholen, da wäre auch Gabriel nicht abgeneigt. Doch sieht es glücklicherweise nicht erfolgversprechend aus für die Hardliner. Kürzlich startete eine gecharterte Maschine halb leer, weil die Hälfte der Abgelehn-
ten es ablehnte abgeholt zu werden. Sie waren einfach nicht „zuhause“ und blieben abgetaucht. Ohne Hochsicherheitstrakte würde die „geordnete Rückführung“ im großen Stil nicht gelingen, und die will niemand außer der bayerischen Regierungspartei und den offenen Rassisten bei der PEGIDA. Die Flüchtlingsfeinde werden erkennen müssen, dass es Obergrenzen oder Aufnahme-
stopp nicht geben wird, ohne das Grundgesetz wegzuputschen oder sich aus dessen Geltungsbe-
reich abzuspalten.
Eine CSU ohne ihre Abgrenzungs- und Ausgrenzungs-Phantasien mit Gittern oder Zäunen um „exterritoriale“ Inhaftierungszonen scheint ebenso wenig vorstellbar wie ein Würstelstand ohne Rost. Ohne Grillgitter oder Pfanne geht gar nichts beim Brutzeln. Nun facht die CSU-Führung die Glut noch einmal richtig an, damit auch bald noch die letzten Reste an Humanität und Hilfsbereit-
schaft verkokelt werden. Doch ist absehbar, dass sie sich an dieser Zündelei die eigenen Finger verbrennen wird. Sie kann mit der harten Linie nicht einmal punkten. In Meinungsumfragen ver-
lieren beide Unionsparteien gleichermaßen. Was an sich durchaus beruhigend sein könnte, wenn darüber die Not der Flüchtenden nicht noch sinnlos größer würde. Höchste Zeit, dass die Staatsre-
gierung anfinge Häuser zu bauen anstatt Gefängnisse, Klassenräume statt Registrierungs-Korrido-
re, medizinische und soziale Einrichtungen statt provisorischer Zeltstädte, um sich mit der selbst mitverschuldeten Wirklichkeit abzufinden und mit den Flüchtlingen anzufreunden.
Es werden mehr werden und immer mehr, solange die reichen Industriestaaten des Westens nicht aufhören mit ihrer verheerenden Kriegs- und Handelspolitik zum Nachteil der übrigen Welt. Es werden Armuts- und Klimaflüchtlinge kommen und Schutz einfordern. Sie werden bleiben, selbst wenn die CSU in der Schmollecke verharren sollte. Sie werden da sein, ob es der Union passt oder nicht. Sie werden im Gegensatz zu den Abtrünnigen der christlichen Parteien eine Bereicherung für dieses Land sein. Und Jahre danach wird ein deutlich gealterter Seehofer die von der Zivilgesell-
schaft und den Zuzüglern erbrachte Intergrationsleistung als seine eigene ausgeben, so ähnlich wie es sein Vorgänger Stoiber mit den deutschen Nachkriegsflüchtlingen schon immer gern gehalten hat.
Bis dahin lässt sich die CSU jedoch von niemandem zum Jagen tragen. Vielmehr jagt sie lieber selber, und sich selbst damit ins verfassungsrechtliche Abseits. Dank Horst. Bereits am 3. Oktober hatte er ganz offen die Beschränktheit seiner Sicht auf die Dinge bekannt: „Wir haben die Kapa-
zitätsgrenze erreicht, mehr geht nicht mehr.“ Tatsächlich weiß jeder Mensch aus Erfahrung: „A bisserl was geht allweil.“ Man muss halt reden mit den Leuten, auch mit den Österreichern. Nun hat er, was er wollte: Die Absprache für fünf Übergangsstellen zu je 50 Einreisenden pro Stunde hat die Erstaufnahme-Einrichtungen im hilfsbereiten München fast verwaisen lassen. Dafür sind die Zustände an den Grenzen für die Wartenden unzumutbar. Und die dahinter Nachfolgenden interessieren nicht. So eskaliert die Staatsregierung die Lage absichtlich, um politischen Druck aufzubauen, argwöhnt nicht nur der bayerische SPD-Fraktionschef Markus Rinderspacher. See-
hofer will partout nicht aufgeben, bis sich alle im Land für ihn zum Horst gemacht haben.
Wolfgang Blaschka
zugeschickt am 3. November